Zigeunerlager und Wanderzirkus: das zweite Lollapalooza-Festival in den USA


MOUNTAIN VIEW. Lollapalooza. hipste Tour der Welt. 36 Open air-Gigs in den USA. 22 davon bereits Wochen vorher ausverkauft. Start in Mountain View, Kalifornien. Red Hot Chili Peppers, Jesus and Mary Chain, Soundgarden. Pearl Jam, Ice Cube. Lush und Ministry. Vorgestellt von Perry Farrell. dem Haupt-Verrückten von Jane’s Addiction. und Ice-T. wanted von den Ami-Cops wegen seines Songs „Cop Killer“. Chaos, absolutes Chaos. Nicht nur Initiator Farrell fehlt, auch der Strom am Anfang.

Lollapalooza — seit letztem Jahr das Zauberwort für die alternative US-Rockszene. Und grundsätzlich ganz anders als alles bisher Gehabte. Neben den Hauptattraktionen gibt’s diesmal noch eine zweite Bühne, auf der Bands aus der Umgebung fetzen dürfen. Ein gutes Dutzend Stände politischer Organisationen wie „Rock The Vote“ (die Ami-Kids zu den Wahlurnen treiben will), „Cannabis Action Network“ oder die Anti-Establishment-Gruppe „Refuse & Resist“. Exotische Gaumenfreuden aus aller Herren Länder gehören ebenso zum Wanderzirkus wie der fliegende Teppichhändler aus Tunesien. Und eine Freak-Show mit Säbelschluckern und Fakiren, die sich rühmt, daß ein Drittel ihrer Zuschauer während der Vorstellung in Ohnmacht fällt. Nur MTV fehlt.

Gutes Rezept für Unterhaltung. Denn sämtliche Gigs in den Staaten sind inzwischen ausverkauft. Lollapalooza ’91 war auch schon einer der wenigen Geldmacher auf der US-Konzert-Szene. Perry Farrell — er steht gerade mit beiden Beinen auf dem Hinterkopf von Jim Rose, einem Fakir, der sein Gesicht in eine Schüssel von Glasscherben gesteckt hat — freut sich und wippt fröhlich auf und ab. Die Pressetante, die die Show der staunenden Weltöffentlichkeit nahebringen soll, ist den Tränen nahe. Jeder will mit Herrn Farrell reden, der dafür berühmt ist, seine nackte Freundin auf die Plattencover von Jane’s Addiction zu klatschen. Und kaum hat sie ihn auf Roses Kopf entdeckt, rauscht er schon wieder ab, um auf der zweiten Bühne mit seiner neuen Band kurz abzuspielen.

Der am Schädel schon reichlich kahle Reporter der „Los Angeles Times“ ist deshalb etwas verkühlt und murmelt was von Prince und Bruce Springsteen, die er mal interviewt hätte. Die Pressetante weint.

Egal, weil keiner mehr was hören kann, denn in der Zwischenzeit räumen Ministry ab. Die Soundmischer aus Chicago heulen jenseits von 120 dB und machen Geräusche, die selbst Jim Rose den Schaschlik-Spieß aus der Wange treiben. 20.000 Kids vor der Bühne fahren ab. Industrial-Metal-Thrash-Mastermind AI Jourgensen streichelt die Knochen und Hautfetzen am Mikro-Stand. daß es den schwarz-weißen Groupies am Stadionrand warm über die Bäuche fährt. Da sehen die Chili Peppers, die am Schluß spielen, als auch Pearl Jam ganz schön alt aus.

Und das ist schon der springende Punkt: Lollapalooza ’92 ist so hip, daß kommerziell erfolgreiche Bands wie Peppers. Pearl Jam oder Soundgarden schon fast zu konservativ sind — Ministry. Jesus & Mary Chain und Ice-Cube machen das Rennen um die Publikumsgunst unter sich aus.

Lush aus England, die einzigen Damen im Feld der Macho-Männer, machen die Show auf — und bemühen sich 40 Minuten lang, die Kids

von den Essensständen zu locken. Neun Stunden später machen die Peppers in Unterhosen und mit Feuer auf den Hüten den Laden wieder dicht. Dazwischen die kompromißloseste Musik, die in den USofA heute aus den Stärkern klirrt.

„Hey!“, strahlt der gefundene Perry Farrell und klopft einem älteren Mitglied des Presse-Corps freundschaftlich auf den Bauch. „Vielleicht machen wir nächstes Jahr ’neu Stop in Woodstock!“ — War doch was, oder?