Spiritualized – Ladies And Gentlemen, We Are Floating In Space: Special Edition :: Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker

Was ist heutzutage noch sicher, angesichts globaler Erwärmung, islamistischer Selbstmordkommandos und der Weltwirtschaftskrise? Selbst das Anhören einer an sich harmlosen CD zur puren Unterhaltung in der Freizeit kann anscheinend nachhaltige Schäden verursachen. Wer subversiver Musik mit expliziten Texten wie auf LADIES AND GENTLEMEN, WE ARE FLOATING IN SPACE von Spiritualized lauscht, begibt sich schon in Gefahr. Um rechtliche Schritte im Voraus auszuschließen, wird einfach schon vordem Hörgenuss gewarnt: „Please read this leaflet carefully before you start to take your medicine. If you have any questions or are not sure about anything, ask your doctor or pharmacist“, informiert der seperate Beipackzettel des Covers, das verblüffend authentisch wie eine Medikamentenschachtel aufgemacht ist. Wie einst bei der Originalausgabe lagern auch die drei CDs der neu aufgelegten Special Edition (auch noch zu haben als Collector’s und Standard Edition) wie überdimensionierte Tabletten in Plastikboxen, die mit Metallfolie überzogen sind.

Entwickelt hatte die spleenige Idee vor 13 Jahren nicht etwa eine vor keiner Provokation zurückschreckende Marketingabteilung der Plattenfirma. Jason Pierce alias J. Spaceman, Spiritus rector von Spiritualized, erarbeitete das detailgetreue Design in enger Zusammenarbeit mit Designer Mark Farrow, einst Gestalter von Hüllen und Postern für Tony Wilsons Label Factory Records und den legendären Club Hacienda in Manchester. Dass Jason Pierce in seiner Vergangenheit nicht gerade als Verächter legaler und illegaler Stimulanzien galt, ließ er schon zu Zeiten seiner ersten Band Spacemen 3 im Gespann mit Partner Peter Kember alias Sonic Boom durchblicken. Zumindest die eingeweihte Anhängerschaft verblüffte die konsequent umgesetzte Referenz an die pharmazeutische Industrie nicht. Zumal Pierce zum Finale in der 17-minütigcn Blues-Kakophonie „Cop Shoot Cop“ auch noch ein eindeutiges Geständnis ablegt, das weit über ein Bekenntnis zum bloßen Pillenschlucken hinausgeht: „Hey man, there’s a hole in my arm, where all the money goes“.

Nihilismus mit Hang zur Selbstzerstörung wirkt ja gerade auf Konsumenten im jugendlichen Alter unglaublich anziehend, weil er die eigenen Grenzen auslotet bei der schwierigen Selbstfindung im Reifungsprozess zum Erwachsenen.

Im Jahrespoll 1997 der britischen Musikgazette „New Musical Express“ lag das dritte Album von Spiritualized noch vor den ebenfalls viel gepriesenen Werken OK COMPUTER von Radiohead und The Verves URBAN HYMNS auf der Pole Position. Zurecht. Dies unterstreicht, dass die Musik auf dem Album, die wahre Rauschzustände mittels Gospel, Blues, Rock und Elektronik entfachte, ebenso exquisit war wie die extravagante Verpackung. Schließlich findet sich der Zuhörer schon mit den ersten Takten des zwischen ätherischem Wohlklang und eruptiven Ausbrüchen oszillierenden Meilensteins in einem wahren Fegefeuer der Emotionen —da hätte es eines Instrumentals mit der einschlägigen Aussage „No God Only Religion“ gar nicht bedurft.

Den Produzenten der Wiederveröffentlichung ist es gelungen, den nach einem Zitat aus Jostein Gaarders philosophischer Novelle „Sophies Welt“ benannten Titeltrack in seiner ursprünglich geplanten Version in die Neuauflage zu nehmen: mit einem Sample aus Elvis Presleys „Can’t Help Falling In Love With You“, dessen Veröffentlichung seinerzeit von der Erbengemeinschaft des King Of Rock’n’Roll untersagt wurde. Das ist nur ein Beispiel für die mannigfaltige Inspiration, die Jason Pierce aus zeitgenössischer Musik und Kunst zieht. Aber auch aus der schrecklichen Realität filtert der jahrelang schwer heroinsüchtige, seit einem lebensgefährlichen Zusammenbruch 2005 angeblich clcane Pierce seine Ideen. „Broken Heart“ und „Cool Waves“ schwelgen streicherverhangen und bedächtig in Moll. Flüchtete doch kurz vor den Aufnahmen Langzeitpartnerin und Spiritualized-Keyboarderin Kate Radley aus dem Pierce-Camp, um ausgerechnet Verve-Frontmann Richard Ashcroft zu ehelichen. Pierce verneinte zwar stets vehement einen Zusammenhang, doch sprechen beide Songs Bände über den angegriffen Seelenzustand des Autors.

Genügend Abstand zum Liebeskummer von einst hat Jason Pierce wohl mittlerweile gefunden – zumindest behauptete er das kürzlich in einem Interview. Wie zum Trotz führte er zum Jahresende 2009 im Rahmen der „Don’t Look Back Christmas“-Shows LADIES AND GENTLEMEN, WE ARE FLOATING IN SPACE als komplette Suite auf. Dass nicht nur schicksalhafte Trennungen den ehemaligen Kunststudenten zu wahrer Größe aufblühen lassen, verdeutlichen die Songs „Come Together“, „I Think I’m In Love“ und „Electricity“, die manisch den Geist von Velvet Underground, der Stooges und von MC5 beschwören.

Geradezu verschwenderisch geben zwei zusätzliche CDs mit 35 Demos, Mixen und Momentaufnahmen Einblicke in verschiedene Work-In-Progress-Phasen des Albums. An einer Stelle in „Cop Shoot Cop“ klimpert Voodoo-Hohepriester Dr. John aus New Orleans virtuos die britische Nationalhymne, an einer anderen erinnert das Sampling eines unzweideutigen Telefonanrufs von Kate Radley allerdings daran, dass Jason Pierce womöglich noch heute der Liebe seines Lebens nachtrauert.

Name: Spiritualized

Gegründet: 1990

Wichtige Mitglieder: Jason Pierce alias J. Spaceman (g, voc) John Coxon (g, syntb) Tim Lewis (keyb) Doggen (g, b, keyb) Tom Edwards (perc) Kate Radley (keyb)

Inspiriert von: The Velvet Underground, The Stooges, MC 5, The Jesus And Mary Chain, Loop, Spacemen 3