Victoria

Regie: Sebastian Schipper

Absolut gigantisch: Das purste Kinoerlebnis des Jahres ist ein deutscher Film.

Hitchcock selbst nannte es einen „Stunt“, einen Taschenspielertrick, eine Schnapsidee: seinen Versuch, mit „Rope“ 1948 einen Film zu drehen, der den Eindruck vermitteln soll, er sei in einer einzigen langen Einstellung entstanden. Denn ein Film, so sein Argument, entstehe erst im Schnitt. Erst in diesem Stadium erhält er Form, Rhythmus, Gestalt, erst hier entfaltet sich die Vision des Filmema- chers.

So wie Hitch das sieht, so muss man auch Sebastian Schippers vierten Film sehen: als Taschenspielertrick. Als gloriosen, abgefah- renen und großartigen Stunt. Gedreht in einer Nacht im April 2014 in Berlin. Ohne Schnitt. In Realzeit. Von halb fünf bis kurz vor sieben Uhr. An 22 Motiven. Aber es ist eben auch mehr als ein Stunt. Ein Abenteuer nämlich: Junge trifft Mädchen, Junge mag Mädchen, Junge überredet Mädchen, bei einem Bankraub mitzumachen. Dann geht alles den Bach runter und die Sonne auf. „Alles! Jetzt!“, überschreibt Schipper seinen kurzen Essay im Presseheft zum Film. Und es ist die Essenz seines Schaffens als Filmemacher.

Von „Absolute Giganten“ bis „Victoria“: Schipper ist der hoffnungslose Romantiker unter den deutschen Regisseuren. Er erzählt von den Träumern, die mehr wollen, als sie bekommen. Oder von denen, die das Träumen aufgegeben haben. Was wir haben wollen, das kriegen wir nicht. Und was wir kriegen können, wollen wir nicht. Genau darum geht es auch in „Victoria“ – in einer Atemlosigkeit aber, die einen selbst unentwegt nach Luft schnappen lässt.

Es ist ein Film über Berlin, aber eben nicht das Postkarten-Berlin, das man sonst vorgeführt bekommt. Bei Schipper ist Berlin eine Stadt, die allen alles verspricht, aber viele Versprechungen nicht erfüllen kann. Und so ist „Victoria“ auch ein Film über das Europa von heute: Die Heldin ist Spanierin. Mit den Berliner Jungs, die sie vor einem Club kennenlernt, redet sie in englischem Kauderwelsch, das ebensogut eine neue Sprache sein könnte – die Sprache der vom Erfolg Vergessenen. Eine Stunde lang könnte „Victoria“ auch ein Liebesfilm von Richard Linklater sein: Before Sunrise. Erst dann wird es zum Genrefilm – aus heiterem Himmel. Godard würde Beifall klatschen, denn so würde sein „Die Außenseiterbande“ heute aus- sehen. Nur dass der Sprint durch den Louvre hier nicht 40 Sekunden dauert, sondern 140 Minuten. Ein Stunt eben. Und was für einer!