10 CC


Den meisten der Leute, die lO cc unheimlich gut finden - und auch wissen warum bleibt dieser leckere Bissen oft im Halse stecken. Es scheint so, als könne man die Gruppe nicht uneingeschränkt verehren. Nicht etwa, daß sie musikalische Fehler hätten oder sonst etwas in dieser Richtung. Es ist nur so, als wenn bei einer Spezialität wie Tintenfisch plötzlich ein Auge des Tieres zwischen den Fleischteilchen auftaucht. Und wer wäre darüber nicht verstört ...

Die vier musikalischen Wunderknaben aus Manchester machen es sich nicht leicht. Im eigenen Strawberry-Studio vergehen oft Wochen, bis ein einziger Song so ist, wie er sein soll. Für eine ganze LP benötigt man gar mehrere Monate. Sie fühlen sich offensichtlich wohl in der cleanen Studioatmosphäre. Sie ist ebenso wichtig für sie, wie die bis ins kleinste Detail festgelegten Arrangements. Ihre Art, Songs zu schreiben und zu präsentieren, ist ohne diese „Gesetze“ gar nicht denkbar. Als krassen Gegensatz dazu könnte man die Faces und Rod Stewart anführen, denen allzu ausgetüftelte Arrangements und straffe Disziplin im Studio eher schaden als nützen würde. Als Alibi vielleicht entdeckt man in fast allen 10 cc-Kompositionen lang ausgespielte Soli der einzelnen Musiker. Womit sie belegen möchten, daß sie auch diese Spielart voll und ganz beherrschen (selbst wenn es ihnen nicht liegen sollte). Nötig hätten sie’s freilich nicht, denn sie sind schon heute an Cleverness, Ideenreichtum und Studioerfahrung nicht mehr zu übertreffen.

Perfekte Popsongs

10 cc steht für originelle Popsongs, von denen jeder einzelne eine potentielle Hitsingle abgäbe. Das können sie am besten, und darin erreicht niemand ihr Genie. Die meisten der anderen reinen Popgruppen besitzen entweder eine Top-Tenträchtige Melodie, ein sattes Arrangement, eine spezielle Aufnahmetechnik oder treffsichere Gags – das alles macht eine gute Hitsingle aus – keine von ihnen aber erreicht es, alle vier Komponenten gleichzeitig (in jedem Song) unterzubringen. Jede Nummer aus der Werkstatt von Graham Gouldman, Lol Creme, Eric Stewart und Kevin Godley ist ein wertvolles Kleinod, eine seltene Kostbarkeit für sich. Abgeschlossene kleine Geschichten mit auf den Text bezogener Musik und Gesang, die beim Hörer einen optischen Effekt hinterlassen. Es sind minutenlange Kurzfilme, von denen jeder einzelne für die „Rose von Montreux“ prädestiniert wäre. Einen treffenderen Titel als „The Original Soundtrack“ wird es denn auch für ein 10 cc-Album nie geben.

Genialer Gesang

Die Vier sind aber nicht nur Meister auf dem Gebiet der Komposition, des Arrangierens und Aufnehmens, sie sind noch dazu durchweg versierte, erfahrene Musiker. Außer Drummer Kevin beherrscht jeder von ihnen noch eine ganze Reihe anderer Instrumente. Damit ist 10 cc eine der wenigen Bands, die wirklich alles selbst in die Hand nehmen können. Ihren unterschiedlichen Stimmen verdanken sie einen zusätzlichen Vorteil, da sie damit jedem ihrer Songs einen individuellen Charakter einhauchen können. Bestes Beispiel dafür ist die Mini-Operette „Une Nuit ä Paris“ auf dem „Soundtrack“-AIbum. Schier unerschöpflich die Stilmittel, mit denen etwas ausgesagt werden soll. Graham klingt in „Film Of My Love“ wie Fred Astaire in alten Hollywoodfilmen, Kevin singt nervtötend pathetisch, Lol bluesig, und Eric ist einfach fantastisch gut.

Nachfolger für Sgt. Pepper

Ein Aspekt fehlt noch in ihrem Loblied: Das Sammeln und Verarbeiten von alten Klischees und ganzen Stilarten. Auf ihrer letzten Platte weist jedes Stück einen unterschiedlichen Stil auf. Da findet man zwischen knackigem Rhythm & Blues und melodiösen Pop-Teilen amerikanische Filmmusik der 20er Jahre oder reine Cabaret-Musik, von Beat und Heavyrock ganz zu schweigen. Sie haben in der Vergangenheit gelernt, damit umzugehen und haben diese Lektionen gründlich behalten. Keiner geht so rigoros und selbstsicher einen Stil an wie 10 cc und verwandelt selbst die verschiedensten Einflüsse in glänzende Pop-Meisterwerke. Ihr Album „The Original Soundtrack“ ist ein würdiger Nachfolger für „Sgt. Pepper“ von den Beatles.

Graham, der Hitlieferant

Eric Stewart spielte in Ur-Zeiten bei den Mersey-Beatern „Wayne Fontana & the Mindbenders“, während Lol und Kevin sich nach einigen erfolglosen Bandabenteuern auf die Kunstschule verzogen, die sie erst mit dem Diplom in der Tasche wieder verließen. Nur Graham war schon damals ungemein erfolgreich. Er schrieb unter anderem Songs für die Hermans Hermits, die Hollies und die Yardbirds. Die meisten davon wurden Top-Hits und einige zu echten Rock-Klassikern. „Bus Stop“, „For Your Love“, „No Milk Today“ oder „Tallyman“ für Jeff Beck sind nur ein paar von ihnen.

Dank diesem Erfolg wurde die amerikanische Hit-Fabrik Kasenatz/Katz auf ihn aufmerksam und holte ihn nach Amerika, wo er mit den beiden die damalige grauenhafte Bubblegum-Welle am Leben erhielt.

Erfolg als Hotlegs

Den besten Weg, sein früh verdientes Geld anzulegen, sahen Graham und Eric darin, sich die Hälfte des Strawberry-Studios in Manchester zu erwerben. Kevin und Lol hatten inzwischen ihr Studium beendet, so daß man wieder zu viert frisch ans Werk ging und für alle möglichen Leute produzierte und arrangierte. Mary Hopkins, Tony Christie, Barcley James Harvest und Dave Berry waren noch die bekanntesten darunter. Meist spielten sie auch selbst mit – sie waren einfach an allem beteiligt! Bis es ihnen schließlich zu dumm wurde, immer nur für andere die Arbeit zu tun. Sie einigten sich kurzcntschlossen darauf, künftig nur noch eigene Projekte durchzuziehen. Erfahrung hatten sie ja genug. Der erste gemeinsame Streich war die Single „Neanderthal Man“, die sie unter dem Namen Hotlegs herausbrachten. Die Single wurde ein Hit – was sonst? – die LP danach eine Niete. Das nächste Kapitel, das sie aufschlugen, trug schon den Namen 10 cc.

Hit auf Hit

Seit den Gründungstagen der Band 1972 gab es für sie keine minderwertigen Arbeiten. Von Anfang an wurde darauf geachtet, daß alles perfekt und geschmackvoll war, und keine Kompromisse mehr eingegangen wurden. Und es zeigte sich schnell, daß sie damit richtig lagen. Nach zwei weniger erfolgreichen, aber nicht minder hochkarätigen Pop-Songs wie „Donna“ und „Johnny Don’t Do It“, schoß die dritte Single schnurgerade in die TopTen. Das war „Rubber Bullets“, aber erst der Anfang. Ihr folgte konstant Hit auf Hit: „Worst Band In The World“, „Wallstreet Shuifle“, „Life 1s A Minestrone“ und der noch warme „I’m Not In Love“. Alles Album-Auskoppelungen, alle brillant gemacht, und einer so gut wie der andere. Daß es locker so weiter gehen wird, daran zweifelt niemand. Wie es scheint, unerschöpfliches Reservoir an Ideen und Einfällen, das sich dem erstaunten Beschauer eröffnet.

Ironie als Stilmittel

Es ist schön zu sehen, daß Lol, Eric, Kevin und Graham jetzt Erfolg haben. Sie haben lange darauf warten müssen, und ihre Lehrjahre waren nicht die leichtesten. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, daß man 10 cc nicht unbeschwert genießen kann. Das Auge zwischen dem Fleisch – ihr wißt schon . . . Ihre Texte strahlen Ironie, bisweilen sogar Zynismus aus, daß einem oft alles vermiest wird, und es einem kalt den Rücken herunterläuft. Die Hauptschuld daran trägt vermutlich ihre nicht gerade übliche Arbeitsweise. Sie komponieren nämlich nicht einzeln, sondern im Duett. Mal der mit dem, und mal der mit dem, immer zwei Mann zu einem Team zusammengeschlossen. Und da sie alle vier genügend Humor, Intellekt und verrückte Einfälle haben, geben sie einen guten Nährboden für erfolgreiche Satire ab. Das läuft dann etwa so: Einer möchte ein Liebeslied schreiben und erzählt dem andern davon, der fängt an zu sticheln, und beide versuchen sich gegenseitig auszustechen und sich übereinander lustig zu machen. Aus dieser Stimmung heraus entsteht dann ein waschechter 10 cc-Song. Wer wird sich da noch wundern . . .

Intellekt oder was?

Da hatte man es bei den Beatles leichter. Da versalzte einem nur selten der Zynismus oder ironisch angedeutete Pop-Klischees die Suppe. (Aber vielleicht ist das heute zeitgemäßer.) Irgendwo hat es trotzdem mit den Beatles zu tun, denn 10 cc wandelt ohne Zweifel auf ihren gut ausgebauten Pfaden. Das Gewissen,, die Vergangenheit clever bewältigt und die Ironie gut untergebracht zu haben, immer im Nacken. Besonders geschätzt werden jede Art von kritischen Anspielungen, die ja z.Z. so „in“ sind. Gelobt sei, was intellektuell macht! Oder „Wie beweise ich ihnen, daß ich in allen Kultur-Bereichen mitreden kann“? Als ausgebuffte Film- und Comic-Experten dürfte das den Vieren ja „leicht“ fallen. Diese intellektuelle Verspieltheit wird noch zu häufig bei 10 cc zum reinen Selbstzweck. Aber selbst die Vorwürfe, die Band wäre „live“ kaum zu gebrauchen und hätte kein Flair auf der Bühne, würde mit Studiotricks und Soundverfremdungen oft das angemessene Maß überschreiten, oder den Gesang zu steril aufnehmen und arrangieren und was sonst noch alles, sollten nicht dazu führen, ihnen die Klasse und das Genie abzusprechen. All das, gemessen an dem, was sie der momentanen toten Szene geben und an Einfluß ausüben, ist ein Pappenstiel.

10 cc ist nicht nur ein poppiger, ernstzunehmender Beatles-Nachfolger, sie stehen vielmehr an der Schwelle, neue Dimensionen und Möglichkeiten für die Popmusik der nächsten Jahre zu erschließen. Wenn das Niveau der Popsongs in nächster Zeit rapide nach oben geht, ist das nicht zuletzt ihr Verdienst.