1956 Heute ein König


Draußen ist der Kalte Krieg. Doch hier, in diesem Haus, in dieser Straße, in dieser Stadt tobt- wie in zigtausenden anderen Häusern, Straßen, Städten der Krieg der Welten. Die anderen sind die Spießer. Stolz auf ihren mühsam erworbenen, bescheidenen Wohlstand schwärmen sie von Zucht und Ordnung und schwimmen mit in der mausgrauen Masse der Durchschnittlichen. Die anderen sind der Feind – und sie spüren Angst. Denn wilde Gestalten machen die Städte unsicher, die Straßen, die Häuser: finstere Blicke, verwegene Frisuren, schwarze Lederjacken. Und diese Gestalten wollen so cool sein, so gefährlich, sexy und unsterblich wie die Typen im Kino: wie Marlon Brando in „The Wild One“, wie James Dean in „Rebel Without A Cause“. Sie wollen raus aus dieser Miefigkeit und stecken so voller Energie, dass sie zu den Klängen von Bill Haleys „Rock Around The Clock“ in „Blackboard Jungle“ (dt.: „Saat der Gewalt“) schon mal das Interieur von Lichtspielhäusern zu Kleinholz machen: in Chicago, in Manchester, in Berlin, überall. Sie sind bereit. Sie warten nur noch auf den König. Denn wer will schon einen dicklichen 30-Jährigen mit Pfannkuchengesicht wie Haley auf dem Thron?

Am 28. Januar 1956 hat das Warten ein Ende: In der „Tommy and Jimmy Dorsey Stage Show“, die US A-weit im Fernsehen ausgestrahlt wird, tritt ein junger ex-Lastwagenfahrer aus EastTupelo, Mississippi auf, der mit einem Hüftschwung und dem ersten Ton, der zwischen seinen verächtlich gekräuselten Lippen hervordringt, alles hinwegfegt, was sich bis dato populäre Musik nennt. Elvis Presley singt, stöhnt, lechzt, hechelt durch „Heartbreak Hotel“, er zuckt, windet sich, wirft den Kopfzurück-kurz: Er ist ein Gott, herabgestiegen die darbenden Kids zu erlösen, und zwei Minuten plus ein paar Sekunden später ist die Welt eine andere. „A Striptease with clothes on“, wüten die Moralisten über die Darbietung una würden den 21-Jährigen am liebsten in „Spelunken und Bordelle“ verbannen. „Eine Provokation für Amerika“, schimpft Showmaster Ed Sullivan. Fortan wird Elvis „The Pelvis“ im US-TV nur noch von der Hüfte an aufwärts gezeigt. Egal. Der Heißsporn, der zwischen 1954 und ’55 schon eine Handvoll süperber Singles aufgenommen hat, feuert aus allen Rohren: „Heartbreak Hotel“ schießt an die Spitze der Charts, im Schlepptau die erste LP, die Rockgeschichte schreibt, schlicht ELVIS PRESLEY betitelt, und eine Serie sensationeller 45er: „Blue Suede Shoes“, „I Want You, I Need You, 1 Love You“, „Hound Dog“ oder der Schmachtfetzen „Love Me Tender“, den ihm sein Manager „Colonel“ Tom Parker aufs Auge gedrückt hat. „Love Me Tender“ heißt auch der Film, in dem Presley im gleichen Jahr erstmals als Schauspieler agien. Gleich danach legt Presley mit ELVIS das zweite Album binnen sechs Monaten vor, doch immer noch hegt das erschütterte Establishment die Hoffnung, der Spuk würde bald vorbei sein. Eine vorübergehende Mode sei dieser Rock’n’Roll, mehr nicht, analysieren die Leitartikler. Auch Elvis selbst ist sich seiner Sache nicht sicher: „Ich kann gar nicht glauben, was da abgeht. Ich hoffe, es dauert noch ein bisschen.“ Und ob es dauert. Denn schließlich ist Elvis Presley weder der Erfinder des Rock’n‘ Roll noch seine einzige Stimme. Seinem täglich wachsenden Gefolge gilt er als „King“ , keine Frage. Doch seine eigentliche Leistung besteht darin, dass er das Brodeln kanalisiert, die Euphorie fokussiert, die Rebellenattitüde mit dem Image des verletztlichen Außenseiters unterfuttert und so allmählich in den Mainstream überfuhrt. So wird er zur Lichtgestalt, umgeben von einer Aura, die musikalisch potentere (Chuck Berry, Carl Perkins, Roy Orbison) oder noch exaltierter sich gebärdende Protagonisten (Jerry Lee Lewis, Little Richard, Gene Vincent) niemals erreichen werden. Doch es gibt Platz für sie alle in den Jukeboxes und Radiostationen, in den Herzen und Ohren der Kids, die nach Idolen hungern und mittlerweile auch in der Lage sind, dafür ein paar Dollars/ Pfund/Deutschmarks auszugeben – und die Teenager haben reichlich Gelegenheit, die Kohle auf den Kopf zu hauen: Eine wahren Veröffentlichungsflut brandet auf. Mit umwerfenden Singles durchs Jahr 1956? Bitteschön: „Ooby Dooby“ von Roy Orbison (Januar); „See You Later, Alligator“ von Bill Haley &The Comets (Februar); „LongTall Sally“ von Little Richard (März); „Blue Suede Shoes“ von Carl Perkins (April); „Roll Over Beethoven“ von Chuck Berry (Mai); „Be Bop A Lula“ von Gene Vincent & The Blue Caps (Juni); „Rip It Up“ von Little Richard (Juli); „Too Much Monkey Business“ von Chuck Berry (August); „Blueberry Hill“ von Fats Domino (September); die „Mississippi Blues“-EPvon Muddy Waters, inklusive „Mannish Boy“ (Oktober); „Modern Don Juan“ von Buddy Holly &. The Crickets (November); „Crazy Arms“ von Jerry Lee Lewis (Dezember). Der Rock’n’Roll, so viel steht am Ende dieses Wahnsinnsjahres fest, lässt die Welt kopfstehen.

„You know my temperature’s risin‘ and the juicebox blows afuse“, singt Chuck Berry in „Roll Over Beethoven“. Doch pfeif drauf, wenn es der Musicbox die Sicherung rausbläst: ,J^s long as shegot a dime, the music will neuer stop.“ Nein, sie hört nicht auf. Berry fegt im „duckwalk“ über die Bühne, Jerry Lee Lewis turnt ekstatisch über sein Klavier, und Little Richard schreit seinen Schlachtruf, A-wop-bop-alou-bop-a-lop-bam-boom“ so laut, dass er bis ins Nachkriegseuropa dringt: nach Deutschland, wo sie nichts haben außer Peter Kraus und Ted Herold; nach England, wo der betuliche Skiffle, jener Bastard aus Folk, Jazz, Blues und Country, regiert und Lonnie Donegan als Favorit der musikinteressierten Jugend gilt. Zu betulich für einen wie Keith Richards, der sich später erinnern wird, wie er damals als Zwölfjähriger mit dem Transistorradio sein Zimmer abschritt, auf der Suche nach dem besten Empfang, „um Radio Luxemburg reinzukriegen“ und all seine Helden zu hören – wie Millionen andere Teenager auch. Beispielsweise auch jene beiden, die sich kaum ein halbes Jahr später, am 6. Juli 1957, beim Pfarrfestim Liverpooler Vorort Woolton kennen lernen. Ihre Namen: John Lennon und Paul McCartney. Aber das ist ein neues Kapitel.