1998: Die 50 besten Platten


36 MARCY PLAYGROUND – Marcy Playground (Capitol/EMI Electrola)

Ausgerechnet John Wozniak, ein mit Psychosen beladener Junge aus der amerikanischen Provinz, und seine beiden Kumpels landeten in den Staaten den College-Hit des Jahres: „Sex And Candy“. Warum der Ohrwurm mit der verschrobenen Liebeserklärung („And then there she was, like double cherry pie“) hierzulande jämmerlich verendete, mögen bitte die Radiofritzen beantworten, die auch das Potential von Semisonics „Closing Time“ und Fastballs „The Way“ nicht erkannten. Schade, denn so blieb vielen nicht nur ein süperber Song verborgen, sondern auch ein Album, das so manche, zart rockende Perle („Saint Joe On The School Bus“, „Poppies“) bereitgehalten hatte.

37 SCOTT WEILAND – 12 Bar Blues (Atlantic/EastWest)

Die musikalische Überraschung des Jahres kam von einem, der eigentlich schon längst abgeschrieben war: StoneTemple Pilots-Sänger Scott Weiland. Nach seinem Drogenentzug nutzte er die Pause seiner Stamm-Band für einen Solo-Ausflug, der es in sich hatte: „12 Bar Blues“ bestach durch seine ungeahnte Vielfalt. Scott Weiland schlüpfte in die unterschiedlichsten Charaktere und tobte sich kreativ so richtig aus. Der Künstler erwies sich als ein perfider Pop-Protagonist, der nicht nur ein Gespür für eingängige Melodien hat, sondern genau so sicher mit Industrial-Einflüssen, Glam-Rock, tanzbaren Grooves und avantgardistischen Strukturen hantieren kann.

38 BILLY BRAGG & WILCO – Mermaid Avenue (Elektra/EastWest)

Eines der ambitioniertesten und gleichwohl unterhaltsamsten Alben des Jahres entstammt der Kollaboration von Englands ewigem Vorzeige-Sozialisten Billy Bragg und den amerikanischen Roots-Kumpeln von Wilco um Jeff Tweedy. Gemeinsam versuchten sie sich an bislang unveröffentlichten Textmanuskripten von Folk-Legende Woody Guthrie. Da lediglich die Texte vorhanden waren, die Guthrie kurz vor seinem Tod niedergeschrieben hatte, gab es es keine musikalische Richtschnur. Deshalb konnte die Interessengemeinschaft befreit und unverkrampft aufspielen, was im Verein mit den mitunter urkomischen Texten zu allerhand großartigen Momenten führte.

39 DIE AERONAUTEN – Honolulu (L’Age D’Or/Rough Trade)

Die Aeronauten sind nicht aus Hamburg, und sie sind keine trüben Grübler. Die Kurzdebatten über Politik und Vorgarten-Sozialismus, die das Schweizer Quintett gerne mit seinem Publikum führt, sind nicht nur scharfsinnig, sondern eben auch witzig. Auf „Honolulu“ setzte sich dieses schmunzelgründige Tun fort, die Aeronauten enttarnten hier die Provinz als „Illusion“, suchten sich ihre Hintertürchen für die Flucht in die Sektenführerschaft, in den „Swing-Zwang“ und in die Romantik. Bläsersätze, Rockabillybeats, Gitarrenschrammeleien und analoge Post-Rocksounds bereiteten dabei nichts anderes als gute Laune. Die Aeronauten machen die Menschen lächeln.

40 LUCINDA WILLIAMS – Car Wheels On A Cravel Road (Mercury)

Was lange währt, wird endlich gut. Stimmt nicht ganz – in Lucindas Fall müßte es heißen: wird sogar noch viel besser. Immerhin sechs Jahre gingen seit ihrem letztem Werk,“Sweet Old World“, ins Land. 1998 nach heftigsten Geburtswehen, kam „Car Wheels On A Cravel Road“ in die Läden, Selten zuvor erntete ein Folk-Rock-Blues-Album derart einhelliges Kritikerlob: Album des Monats im US-„Rolling Stone“, Album des Jahres im US-Magazin „Spin“, sechs Sterne in ME/Sounds. Und das völlig zu Recht, denn ebenso selten zuvor verstand es eine Songwriterin so souverän, mit einfachsten Bildern, griffigen Songs und eindringlichem Vortrag den Hörer so sehr zu fesseln. Ein Meisterwerk.

41 TALVIN SINGH – O.K. (Mercury)

Als Sohn indischer Einwanderer in London aufgewachsen, hat sich Talvin Singh seine Position zwischen den Kulturen geschickt zunutze gemacht. Die musikalische Folklore seiner Heimat im Blut und modernste Produktionsmittel unter seiner Kontrolle, produzierte Singh Stars wie Björk, Little Axe oder Bim Sherman. Die elektronische Weltmusik auf „O.K.“ kündete neben klangtechnischen Skills auch von den Fähigkeiten des Künstlers, das indische Schlagwerk Tabla zünftig zu bedienen. Das Ergebnis – eine vertrackte Melange aus D ’n‘ B, Film- und Weltmusik – wirkte, wie auf den hollywoodverwöhnten Kinogänger die Musicals aus Bombay eben wirken: fremd, bunt und erstaunlich vital.

42 EMBRACE – The Good Will Out (Hut/Virgin)

Embrace sind eine Band, die dich völlig kalt läßt – oder dir die Tränen in die Augen treibt. Dazwischen gibt es nichts. Embrace-Songs halten sich nicht bei Kleinigkeiten auf, sie gehen übers Leben. Erzählen über’s ganz große Gefühl. Und den ganz großen Schmerz. Schwer, dabei nicht banal zu werden – was den Gallagher-Brüdern mittlerweile passiert ist. Die McNamaras von Embrace hatten ein Album geliefert, wie man es sich von Oasis erhofft hätte. Stücke, für die das Wort „Hymne“ nicht zu groß und zu abgegriffen war- und sanfte Songs mit Kammermusikpiano, anheimelnden Streichern und brüchigen Vocals, die die Seele eines jeden anrührten, der kein Herz aus Stein hat.

43 BRAN VAN 3000 – Glee (EMI Electrola)

Das vorerst letzte Wort zum Thema Crossover. Bran Van 3000, ein Kollektiv bestehend aus mehr als 20 Musikern, ließen auf ihrem Debütalbum nichts unversucht. Sie coverten bis zur Unkenntlichkeit („Cum On Feel The Noize“ von Slade), kombinierten so ziemlich alle möglichen Stilrichtungen von Hardcore-Rap über lupenreinen Pop bis hin zu Artrock und scherten sich einen Dreck um gängige Hörgewohnheiten. Alles war erlaubt, irgendwie war es dann doch meist eine relaxte Abart von HipHop, bei der es zuging wie bei Samples unterm Sofa. Ganz nebenbei, und wahrscheinlich ziemlich unbeabsichtigt, sprang mit dem torkelnden „Drinking In LA.“ auch noch ein Indie-Hit heraus.

44 KORN – Follow The Leader (Epic/Sony Music)

Zwölf Tracks lang nichts. Stille. Weißes Rauschen, vielleicht ein Knacken des Verstärkers. Dann, mit Nummer 13. loderte es auf, das dritte Album des kalifornischen Quintetts. Mit der Unterstützung von Ice Cube („Children Of The Korn“), Fred Durst von Limp Bizkit („All In The Family“), Tre Hardson von Pharcyde („Cameltosis“) und Cheech Marin (im Hidden Track „Earache My Eye“) kämpften sich Korn durch unwegsames Gelände, brachen lärmend durchs Unterholz. Metal war 1998 weitgehend eine nur mäßig spannende Angelegenheit, Die Freischärler-Truppe um „Sänger“ Jonathan Davis sorgte in der zweiten Jahreshälfte wenigstens dafür, daß man das Genre nicht ganz abhaken mußte.

45 ROBBIE WILLIAMS – I’ve Been Expecting You (EMI Electrola)

1998 mußte wirklich auch der letzte Zweifler erkennen, daß der smarte Robbie seine Take That- und damit seine Teenie-Vergangenheit hinter sich gelassen hat. Wie schon auf seinem Debütalbum „Life Thru A Lens“ bedienten sich der 24jährige und sein Songschreiber Guy Chambers zwar wieder ausgiebig bei den Beatles, doch ihnen diesen Umstand zum Vorwurf zu machen, hieße Noel Gallagher ebenfalls in die Wüste zu schicken. So blieb unterm Strich ein sehrfeines Britpop-Album, das-zugegebenermaßen die Betonung auf Pop legte – im direkten Vergleich zum Beispiel mit dem letzten Oasis-Opus jedoch wesentlich mehr Stil und Sinn für Entertainment an den Tag legte.

46 LAURYN HILL – The Miseducation Of Lauryn Hill (Columbia/Sony)

Auf ihrem ersten Soloalbum verschmolz die 23jährige Fugees-Chanteuse harmonisch sanfte R & B-Klänge mit HipHop-Elementen. Die Dame hat Soul – und zwar jede Menge. Und so klang Lauryn einmal wie die kleine Schwester Stevie Wonders, selten wie die „Angry Sistah“ aus South Compton, aber immer besser als En Vogue, Salt ’n’Pepa, TLC oder All Saints zusammen. Auf diese wunderbare Stimme baute die Produzentin Hill ihre Songpaläste. Dabei fräste sich das Songmaterial mit der Zeit so unaufdringlich wie unaufhaltsam in den Gehörgang ohne zwanghaft auf die Charts zu schielen. Mit diesem Meisterwerk avancierte Lauryn Hill locker zur Kronprinzessin Aretha Franklins.

47 HERBERT GRONEMEYER – Bleibt alles anders (EMI Electrola)

Da waren sie wieder, die introspektiven Texte, die schnalzigen Melodien – verpackt, plötzlich, in smarte, soundverliebte Rhythmen aus dem Computer, sphärische Klangteppiche und flirrende Atmosphären. Herbert Grönemeyer wohnt schon lange nicht mehr in Bochum, sondern wahlweise in Berlin oder London, was „Bleibt alles anders“, seinem ’98er Album, wie selbstverständlich einen kosmopolitischen Anstrich verlieh, Drum’n‘ Bass sei’s gedankt. Frei von den Zwängen der Konventionalität und seiner eigenen Vergangenheit erfand sich Herbert Grönemeyer neu. Was bei ihm schon immer anders war, blieb allerdings auch auf „Bleibt alles anders“ bestehen.

48 ELLIOTT SMITH – XO (Dreamworks/Universal)

Das hatte Elliott Smith nun von seiner zufälligen Bekanntschaft mit dem Regisseur von „Good Will Hunting“: Da saß der introvertierte Singer/Songwriter und sollte der eitlen Modenund Modelshow „Oscarverleihung“ einen würdigen musikalischen Rahmen verleihen. Für seinen Soundtrack für „Good Will Hunting“ war er gar für den Oscar nominiert worden. Was immer man den Juroren sonst vorwerfen mag: Diese Nominierung bekam Smith zu Recht (auch wenn es mit der Trophäe dann doch nichts wurde), wie das neue Album mit großartigen Songs bewies: Schattige Akkorde mit Melodien über die Um- und Nebenwege eines Mannes, der ehrlich das wahre Leben sucht.

49 CHERRY POPPIN‘ DADDIES – Zoot Suit Riot (Universal)

„It ain’t a thing, if it hasn’t got that swing“: Diese alte Jazzer(binsen)weisheit feierte in den USA im vergangenen Jahr eine fröhliche Auferstehung. Swingclubs Schossen aus dem Boden wie die Pilze nach einer Atomkatastrophe, und Swingcombos verdienten sich dabei eine goldene Nase. Mangels afroamerikanischem Background konnte eine Band wie die Cherry Poppin‘ Daddies mit ihrer Mischung aus Swing, Rhythm ’n‘ Blues und Ska in der alten Welt leider nicht Fuß fassen. Schade, denn verdient hätte diese Combo, die den antiquierten Jazz aus den Zirkeln von intellektuellen Magenkranken wieder auf den Tanzboden der Tatsachen geholt hat, den Erfolg allemal.

50 FUN LOVIN’CRIMINALS – 100% Colombian (EMI Electrola)

Zwei Jahre nach ihrem – in der Hauptsache in Europa – abgefeierten Debütalbum „Come Find Yourself“ meldeten sich die Fun Lovin‘ Criminals 1998 zurück.“ioo% Colombian“ wurde von einer Armada leicht beschwingter Grooves angeschoben. Die 14 Tracks klangen trotz ihrer stilistischen Vielfalt wie aus einem Guß und überraschten – im Vergleich zu denen des Vorgängeralbums – mit noch mehr ausgefallenen Ideen. Das Trio aus New York ließ es auf „100% Colombian“ entspannter angehen als noch auf seinem Debüt. Die Mischung der Fun Lovin‘ Criminals aus lässigen Raps, geschmeidigen Pop-Melodien und reifen Grooves funktionierte diesmal sogar noch eine Spur besser als vor zwei Jahren.