2009: Der kleine Jahresrückblick


Nein, nur Spaß. Natürlich haben wir uns auch diesmal wieder zu einem sehr GROSSEN JAHRESRÜCKBLICK aufgeschwungen. War ja auch ein ausuferndes Jahr. Der Pop glitzert wieder, Wagenladungen großartiger Platten kamen raus, das Kino rückte in die dritte Dimension, Obama hat die Welt noch nicht ganz gerettet und es galt, den King Of Pop zu verabschieden. Nein, es war nicht alles erfreulich 2009, im Gegenteil. Aber man soll ja - Welt-Wirtschaftskrise hin, Guano-Apes-Reunion her - den Humor nicht verlieren...

IT’S GLITZ

Der als authentisch empfundene, wilde, maskuline Indierocker wandert zurück in den Keller. Dafür kommen uns junge Frauen in Fantasiekostümen holen. Der Pop hebt ab. Gehen wir an Bord?

„Wake… from your sleep. The drying of your tears. Today… we escape, we escape“ – Radiohead „Exil Music“.

„Ich geh zum Bäcker, hol mir Brötchen für 5 Mark. Ich esse gerne Brötchen, denn Brötchen machen stark“ – Die Ärzte „Zum Bäcker“.

Die Idee vom Eskapismus, der Wirklichkeitsflucht, ist so alt wie der Pop selbst. Nahezu alle Formen der Popmusik wollen uns wegholen von dem, was Alltag ist und Alltag bedeutet. Selbst in der sozialkritischen Liedermacherei, in den intimsten Seelenkrisenbeschreibungen der aktuell angesagten Joy-Division-Inkarnationen und im aggressiv-authentischen Hip-Hop aus dem Problemviertel steckt das Unterhaltungspotenzial der Inszenierung und Überhöhung, der Glam. Pop handelt von und lebt in Traumwelten. Pop übertreibt, simplifiziert und malt aus. Pop erzählt Geschichten. Pop hat ein großes Maul. Pop lügt. Und so soll es sein. So gesehen ist die alle paar (Krisen-)Jahre von Journalisten, Soziologen und sonstwie Gelehrten geäußerte Theorie, wonach der Pop der Depression in Volk, Kultur und/oder Wirtschaft besonders eskapistisch entgegentritt (Stichwort: „Tanz auf dem Vulkan“), eine schnell entkräftete. Denn für Musiker gilt doch: Es gibt auch ohne akutes Geschlinger der Weltwirtschaft inkl. Verarmungsbedrohung/Leistungsdruckerhöhung für jeden, der nicht seinen eigenen Staatssekretär in Position zu bringen weiß, immer genug Weltschmerz, Ängste und nicht zuletzt Existenzsorgen (der Leser lese dazu den Beitrag von Frank Spilker in diesem Jahresrückblick), um darüber zu singen. Oder eben im Gegenteil die Flucht nach vorn anzutreten. Das Gleiche gilt für das Publikum: Kummer gibt es auch in objektiv besseren Zeiten ausreichend, um ihn in der Musik zu ertränken oder ihn sich vom Hals zu feiern.

Auf der anderen Seite verhielt sich der Pop schon ziemlich auffällig im amtlichen Krisenjahr. Will sagen: Der spinnt doch, der Pop! Weniger musikalisch. Das meiste, was 2009 als neu oder heiß verkauft wurde, zeichnete sich nicht durch Mut oder besondere Überraschungseffekte aus. Der immer stärkere Einfluss des 80er-Jahre-Revivals ist selbst im Chartspop deutlich zu spüren; darüber wurde im ME ausführlich berichtet. Dies veränderte vor allem den Sound. Doch die Songs selbst gerieten unter dem Diktat des einstigen Pop-Schreckensjahrzehnts eher stromlinienförmiger und ziemlich geschmeidig. Nein, es ist das optische Auftreten seiner jungen Vertreter, muss heißen: vor allem seiner Vertreterinnen, welches dem Pop 2009 ein glamouröses, gar fantastisches Antlitz gab. Sein Shootingstar schlechthin, Lady Gaga, die es von einem 2008 unbeachtet veröffentlichten Debütalbum zum Hit des Jahres über unendlich viele Schlagzeilen, Titelblätter und Award; schließlich zu einer Duett-Single mit der Königin des R’n’B, Beyoncé, brachte, ist die Galionsfigur dieser Entwicklung.

Über die Musik der New Yorkerin gab es nicht viel zu reden, ihre eher konventionell gestrickten Hits drehten sich ungefragt ins Ohr und kamen so schnell nicht mehr heraus. Aber diese Outfits! Die Frau brachte es in zehn Monaten auf mehr heiß disuktierte Kostümwechsel als Madonna in 26 Jahren. Lady Gaga als Seifenblasenmagnet, als lebendiges Heiligenbild in roter Spitze, als lebende Discokugel, mit explodierenden Brüsten, gespickt mit geometrischen Körpern und ausladendenen Kotflügeln an Hüfte und Schultern. Lady Gaga hinter Brillen und Masken, die nicht nur so aussahen, als könne die Trägerin durch sie hindurch nichts erkennen. Nicht vom Mut zur Hässlichkeit ist hier die Rede, sondern zur Absurdität. Wenn schon ihre Musik keine Fragen aufwirft, so tut es doch ihr Styling. Und das ist tatsächlich inspiring – ein Wort, das in viel zu vielen völlig unerheblichen Film- und Popstar-Interviews eigentlich schon sinnentleert wurde.

Die Auswirkung des Gagaismus auf andere Entertainer ihres Kalibers lässt nicht lange auf sich warten. Es herrscht Zugzwang. Aber auch die Popsparte, in der Treffen mit dem Karriereplaner seltener anstehen und die Autorenschaft für die eigenen Songs als einigermaßen selbstverständlich gilt, traut sich was. Es sind ebenso fast ausschließlich Frauen, die sich nicht nur am Style der von ihnen gerne beliehenen Genres Synthpop oder New Romantic bedienen. Das Mädchen mit der Tolle, La Roux, bleibt noch am engsten an den Vorbildern, von Annie Lennox über Keith Hearing bis hin zu „Tron“. Florence (And The Machine) Welch und auch Natasha Khan alias Bat For Lashes wissen hingegen genau, welche Paradiesvögel Kate Bush rupfen gegangen ist. Karen O von den Yeah Yeah Yeahs, längst selbst ein solcher Vogel, scheint sich mit ihren Outfits inzwischen bis zu Peter Gabriel in seinen progressiven Genesis-Jahren vorgewagt zu haben. Die durch den Fundus der halben Sci-Fi-Filmgeschichte wie von Burlesque-Theatern flatternde Beth Ditto – neben Lady Gaga meist-, oft jedoch chauvinistisch diskutierte „Style-Ikone“ – hätte es verdient, nicht immer nur für ihren „Mut“ gerühmt zu werden, sich in derart knappe Kleider schnüren zu lassen. Und auch der selbstbewusste Auftritt von Acts wie Little Boots, Ladyhawke, The Noisettes, Empire Of The Sun (fast die einzigen Männer in diesem Feld, lässt man mal Vorreiter wie Patrick Wolf und Of Montreal außer Acht) usw. zeugen von einer lebendigen Fantasie, Lust auf Glamour und dem Bedürfnis, sich eben gerade nicht gleich zu machen mit den Kids vor der Bühne. Es geht darum, dem Publikum eine Show zu bieten, zu leuchten und zu glitzern. Und diese Entwicklung ist wohl weniger ein Echo auf die bedrückenden Krisenzeiten sondern schlicht dem Umstand geschuldet, dass im Pop Trends aus der Reaktion auf andere Trends heraus entstehen: Sie ist genau die richtige Antwort auf den rauen, durchgeschwitzten Lederjacken-/Denim-Britrock der letzten Jahre, dem die Autentizität, das Körperliche und Greifbare des Punk und Postpunk ein so großes Anliegen war. Oder hat es vielleicht doch mehr zu bedeuten, dass die meisten dieser neuen Stars ausschauen wie Aliens? Selbst Die Goldenen Zitronen trällern schon: „Wir verlassen die Erde“. Ist richtig escapen the new Eskapismus? Also, wie schaut’s aus, gründen wir eine neue UFO-Sekte?!

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