Adrenalin Junkies


Toronto, August 2002. Wer die zentrale Yonge-Street weit genug nach Norden wandert, passiert irgendwann den „Masonic Temple“. Das historische Gebäude mit Ballsaal, das bereits 1997 als Proberaum für die Rolling Stones herhalten musste, ist auch in diesem Sommer jeden Tag von ein paar Pilzköpfen umstellt, die sich mit „Gimme Shelter“-LPs und Filzstiften in der Sonne braten. Schwere Bodyguards bewachen die Türen und Treppen, die zu den neonbeleuchteten Kellerräumen fuhren, in denen die Rock-Veteranen zwischen ihren Garderoben und dem riesigen Büffet pendeln, bis am frühen Abend für die Welttournee geprobt wird. Als Mick Jagger den ME in sein kleines Zimmer führt, sickert bereits Gitarrenlärm durch die Decke. Offenbar ist der Sänger aber noch 30 Minuten entbehrlich, denn er holt zwei Flaschen Wasser, nimmt in einem Sessel Platz und spielt den neuen Song „Don’t Stop“ vor. Als sich der Titel bald in endlosem „Uh! Ah! Don’t Stop!“ verliert, wird es ihm selbst zu langweilig, und er schaltet ab.

Wer hat das produziert ?

Don Was. Wir waren sechs Wochen in Paris und haben ziemlich viel Zeug aufgenommen. Keine fertigen Songs, aber wir haben 20 oder 30 Sachen gemacht.

Als „Bridges To Babylon fertig war, hast du dich beklagt, dass Don Was recht konservativ ist. Warum habt ihr wieder mit ihm gearbeitet?

Na ja, ich mag ihn gerne. Und ich wollte ja nur vier Songs. Das war oberste Priorität. Einen neuen Mann hätten wir erst kennen lernen müssen. Dann hätten wir uns womöglich in ihm geirrt und wieder neu suchen müssen. Ich hab‘ mir gedacht, dass ich keine Zeit habe, lange rumzuscheissen, weißt du?

Wie laufen die Proben?

Schon gut. Wir haben 129 Songs geprobt. Viel zu viele. Natürlich können wir nicht alle wirklich gut! (lacht) Aber wir brauchen vermutlich ein Repertoire von 50 bis 70 Nummern.

Für drei Sets auf verschieden großen Bühnen…

Ich weiß wirklich nicht, auf was ich mich da eingelassen habe. Wir müssen uns um viel mehr Bühnendesign kümmern, brauchen viel mehr Songs. Puh.

Probt ihr auch die richtig alten Kamellen ?

Zwischen neuen und alten Sachen machen wir keinen Unterschied – wenn sie gut sind und wir sie spielen können… Ziemlich oft kürzen wir sie aber. „Little Red Rooster“ funktioniert noch. „Heart Of Stone“ klappt wunderbar. Der Text war ja kompletter Müll, aber ich hab so ein paar Zeilen umgeschrieben. Und „igth Nervous Breakdown“? Bäh. Das war nett für die Zeit, aber jetzt geht das nicht mehr.

Du bist kein besonders nostalgischer Mensch, oder?

Nah. Was nicht heißt, dass ein paar alte Songs nicht gut wären. Aber nicht alles, was die Rolling Stones je gemacht haben, ist wundervoll. Wenn du selbst drinsteckst, ist es schwierig, den Überblick zu behalten.

Ihr geht auf Welttournee. Was motiviert dich, dir das anstrengende Leben,on the road‘ wieder zuzumuten? Naja… (Pause) Hmm. Ich könnte versuchen, dir all diese Antworten zu geben, aber keine wäre wirklich wahr. Wir könnten mal beim Abendessen darüber philosophieren, was Menschen in ihrem Leben so alinterview

les machen und warum. Warum schreibt ein Schriftsteller? Ich weiß es nicht. Wenn ich aufhöre, was soll ich dann mit meinem Leben anfangen?

Das war nicht die berühmte “ Wann-geht-ihr-endlichin-Rente „-Frage…

Hab ich schon verstanden – .Warum tust du, was du tust?‘ Das ist eine große, schwierige Frage.

Eigentlich hab ich mich nur gewundert, warum ihr euch wieder durch eine so lange Tour quält. Die Stones könnten doch auch nur ein paar Clubs spielen.

Ja. Schon. Aber es gehört eben dazu. Es gibt ein paar Sachen, von denen ich denke, dass ich sie ganz okay kann: Ich schreibe gerne Songs. Ich singe gerne. Aber ein Teil von meinem Leben ist es – und dazu benötigt man mehr Menschen -, auf der Bühne zu stehen.

Während der letzten Tour hat Charlie Watts ausdrücklich gesagt, dass ersieh das nicht mehr zumuten will.

(winkt ab) Ja, ja, ja. Er liebt es. Wie alle. Wenn sie da rausgehen und das Publikum hören… das gibt dir einen Adrenalinstoß. Und nach einer Weile vermisst du es vielleicht, und dann willst du wieder los.

Stresst dich dem Job auch ?

Oh ja, er ist sehr stressig. Super-, superstressig.

Die Presse steht Kopf, wenn du – wie neulich – mit Minnie Driver oder Uma Thurman gesehen wirst. Es muss anstrengend sein, „Mick Jagger“zu sein.

Das ist ein großer Stress-Faktor. Und es gibt nichts, was man dadurch erreichen könnte. Es ist nicht so, dass man denkt: „Zähne zusammenbeißen und durch, denn am anderen Ende erwartet dich eine Belohnung“. Am Ende ist nichts – eine große Leere. Für alle Beteiligten. Menschen, die mit ihren Berufen dazu beitragen, diese Industrie ständig wachsen zu lassen – ich weiß nicht, was sie treibt. Das ist ein so zielloses Unterfangen. Je mehr Freizeit die Menschen haben, desto schlimmer. Ich will mir nicht anmaßen, das zu erklären, das ist ein sehr kompliziertes soziologisches Phänomen.Wir haben schon mehr Celebrities als je zuvor. Der Wahnsinn wächst und wächst…

…und fordert Opfer. John Lennon wurde erschossen, George Harrison vor seinem Tod in seinem Haus angegriffen und schwer verletzt. Belastet dich das?

Natürlich. Es ist sehr störend und hilft niemandem weiter. Nicht dem Typen, der George umbringen will, nicht dem Journalisten, der negative Sachen verbreitet, und nicht dem Photographen, der die ganze Nacht im Gebüsch sitzt, damit er ein Photo verkaufen kann. Was bringt ihm das? Da kommt kein Kunstwerk dabei raus. Es ist bedeutungslos. Und es verursacht Leid. Ich klinge ungern wie George Harrison, aber das ist schlechtes Karma! (lacht) Hast du inzwischen eine dicke Haut?

Muss ich ja. Aber das ist auch nicht gut, weißt du?

Anderes Thema. Wie geht es dem Rock’n’Roll?

Pff. Keine Ahnung. Das kannst du mir sagen.

Ist Rock ’n ‚Roll in 40 Jahren erwachsener geworden ?

In gewisser Weise will man das gar nicht, oder? Lass uns eine Analogie suchen. Aber nur innerhalb der Musik. Wenn wir mit Malerei oder Fußball anfangen, sind wir verloren. Wir vergleichen Rock mit Jazz! Das ist legitim: Musik des 20. Jahrhunderts, langlebig, große Anhängerschaft…

…einst mit sozialer Relevanz.

Genau. Und es sind reife, kritisch denkende Menschen involviert. Es sind alle Voraussetzungen für eine Kultur eines musikalischen Genres erfüllt. Im Jazz gab es zunächst einen immensen Aufbruch. Und er wurde beschimpft – er galt als verwerflich. Dann wurde er plötzlich respektiert und steckte wenig später fest. Ohne Energie. Dann wurde er sehr kommerziell und zerbröckelte. Eine neue Generation hat ihn dann wieder belebt und zu neuen Extremen geführt. Rock’n‘ Roll ist diesem Beispiel gefolgt. Der Rock’n‘ Roll braucht immer wieder einen radikalen Aufbruch. Sonst verfängt er sich in kleinkarierter Nostalgie und ermüdenden Mustern.

Siehst du heute Zeichen für einen radikalen Aufbruch ?

Hmm.. .schon. Es gab Zeiten, da ging nichts vorwärts. Natürlich sind heute viele der neuen Bands von der Vergangenheit beeinflusst, aber das war zu erwarten. Du kannst nicht plötzlich wieder bei null anfangen. Rock’n’Roll hat Geschichte und Tradition. Wer sich darauf nicht bezieht, hat zu einem anderen Format gewechselt-HipHop, Elektronik oder Jazz.

Die Erwachsenenwelt in den ooern war sehr konservativ. Hat sich die Motivation, Rock’n’Roll zu spielen, heute geändert?

Die Welt hat sich verändert. Aber Teenager fühlen sich noch immer ausgegrenzt, ganz generell. Vielleicht heute mit ein bisschen mehr Selbstbewusstsein, weil es Vorbilder des ‚Ausgegrenztseins‘ gibt. (lacht) Durch die Hormon-Veränderungen fühlst du dich ausgegrenzt, ohne dass du jemanden brauchst, der dich ausgrenzt. Auch ohne eine engstirnige Gesellschaft hast du als Teenager Probleme.

Wenn die großen, etablierten Stadien-Acts wieAerosmith, U2, Springsteen und die Stones aufhören, wer wird dann in ihre Fußstapfen treten ?

Keine Ahnung. Zur Zeit gibt es Britney und ‚N SYNC.

Die füllen Stadien, da hast du natürlich Recht.

Nun (lacht), das war doch deine Frage! Vor fünf Jahren gab es die noch nicht. ..

Und in fünf Jahren wird es sie nicht mehr geben…

Das weiß man nie! Madonna ist auch noch da, sie ist über 40. Das hätte vor 20 Jahren niemand gedacht.

Was ist mit Ryan Adams ? Ihm wird das Potenzial eines Neil Young zugesprochen…

Ich glaube aber nicht, dass Ryan darauf Lust hat. Dass er diesen Weg gehen will.

Er wirkt ein bisschen gleichgültig.

Der will keine Stadien spielen.

Auf der letzten Tour hat er sein Set mit „Brown Sugar angefangen.

Das ist ein sehr gutes Zeichen. Ryan, weiter so! (lacht) Du bist kürzlich zum Ritter geschlagen worden.

Da sag ich .Recht schönen Dank‘. Die meisten Briten werden aus anderen Gründen zum Ritter geschlagen: Weil sie für wohltätige Organisationen mit den richtigen Kontakten spenden, oder weil sie der Partei der Stunde Geld schenken. So funktioniert das.

Dein Biograf Philip Norman hat bezweifelt, ob du diese Ehre verdienst…

Armer Philip Norman. Jedesmal wenn die Stones auf Tour gehen, springt er im Dreieck, weil er mehr Geld verdienen wird. Er überarbeitet ständig unsere Biografie. So ein Arschloch. Ein verfickter Idiot, echt (lacht). Und er ist gemein, also kann ich nichts Nettes sagen.

Mit dem Ritterschlag empfängt dich schließlich das Establishment mit offenen Armen, gegen das du früher rebelliert hast. Ist das das Ende des Rock’n ‚Roll ?

Ich springe ja nicht auf und ab vor Freude! Aber ich weigere mich auch nicht und sage (mit tiefer Stimme) ,Oh. Das will ich nicht. Ich bin ein Rebell‘. Wie dumm wäre das denn? Soll ich ein rebellischer 59-Jähriger sein? Das funktioniert nicht.

Bist du glücklich?

In diesen Zeiten sind wir wohl generell nicht nur glücklich. Man hat Momente der Freude und der Trauer. Und alles dazwischen. In einem vernünftigen Maße bin ich glücklich, ja. Ich bin ziemlich beschäftigt. Ich weiß nicht, ob ich Zeit habe, das so auszukosten. Ha! (fuchtelt rum) .Ich bin glücklich. Glücklich, YEAA!’…Hahaha!

Als dich Elizabeth Vargas von ABC News gefragt hat, ob du je wirklich geliebt hast, sagtest du, dass du die Frage nicht beantworten kannst.

Ich wäre beinahe gestorben bei dieser idiotischen Frauen-Frage. Also echt, so eine knallbescheuerte Frauen-Magazin-Frage, haha! Wenn ich die mal auf einer Party treffe, dann frage ich sie, wie sie damit leben kann, solche Fragen zu stellen.,Hast du je wirklich geliebt‘, pleeeeeaaaase! Help me!