Kolumne

Aidas Popkolumne: Montréal hat mich wieder an die Magie der Musik erinnert

Aida war in Montréal, hat neue Bands und Communities entdeckt – und fragt sich, ob eine kreative Stadt auch eine Frage des politischen Willens ist.

Okay, es ist Zeit für eine Beichte. Ich glaube, liebe Leser:innen, dass ihr mich mittlerweile gut genug kennt, dass ich mich öffnen kann. Oder? Also: Manchmal verliere ich die Lust an der Musik. Nur manchmal. Aber es passiert. Dann mache ich das Gleiche wie alle normalen Menschen, die nicht ihr Leben dem Pop verschrieben haben, höre eigentlich nur alte Favourites oder auch einfach gar nichts mehr. Manchmal einfach, weil alles zu viel ist und ich mich nach musikalischem comfort food sehne – und manchmal auch, weil ich angesichts der Veränderungen der Musikwelt, der Konzentration von (Markt-)Macht bei Majors, Streamingplattformen, die Künstler:innen quasi nichts auszahlen, und jetzt auch noch KI-generierten faschistoiden Chartstürmern, die wiederum vor allem von Bots gehört werden, einfach nicht mehr weiß, was das alles soll.

Aber ich freue mich, euch mitteilen zu können: Das ist jetzt erstmal fürs Erste vorbei. Warum? Weil ich fünf Tage lang wie im Rausch jeden Tag unfassbar gute Bands gesehen habe, echte Subkulturen und Communities, die nicht nur im Internet entstehen und wieder vergehen, und wieder komplette Begeisterung gespürt habe, bei der ich nur ein Bedürfnis hatte: mitten rein in den Moshpit rennen. Nur: Leider war das nicht in Berlin, Hamburg oder München. Sondern in Montréal. Genauer gesagt beim Festival M for Montreal/M pour Montréal, das Newcomer:innen aus der ganzen Welt und ganz Kanada vorstellt, aber vor allem eben aus der bilingualen Stadt und der französischsprachigen Region drumherum. Und die Besonderheit dabei: Die beiden Booker:innen des Festivals stellen jeden Act mit einer ehrlichen Begeisterung vor, sodass man gar nicht darum herumkommt, den jeweiligen Künstler:innen wenigstens eine Chance zu geben.

Eine Stadt mit Popgeschichte

Dass Montréal eine lange Popgeschichte hat, wissen richtige Popnerds ja eh schon: Leonard Cohen, Céline Dion und Goodspeed You! Black Emperor (was eine Aufzählung!) kamen und kommen oder wirk(t)en von dort, hier haben die Karrieren von Mac DeMarco und Marie Davidson ihren Anfang genommen, und ja, auch die von eher problematischen Figuren wie Grimes oder Arcade Fire. Und sie hat auch heute noch eine riesige Musikszene mit subkulturellen Größen wie Sean Nicholas Savage, Braids oder La Sécurité, um nur ein paar Namen zu nennen, die sich in eure Playlists einnisten sollten. Und auch andere Popkultur kommt nicht zu kurz: Auch Zine-Culture und die Graphic-Novels- und Comic-Szene sind hier außerordentlich stark. Und dass die Popkultur der Nullerjahre nicht ohne das in Montréal gegründete Magazin „Vice“ zu denken wäre, daran gibt es keinen Zweifel, selbst wenn man mit der zynischen Aufs-Maul-Kultur der frühen „Vice“ nichts anfangen konnte.

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Das Geheimnis: Günstige Mieten und Förderprogramme

Irgendwas muss da doch los sein in dieser Stadt, die nicht mal zwei Millionen Einwohner:innen und trotzdem einen riesigen Einfluss auf Popmusik und -kultur hat, oder? Irgendwas im Wasser? Irgendwas in der Luft? Ist es die Aussicht vom Mont Royal, die eiskalten Winter, in denen man nicht das Haus verlassen kann, der Fun Fact, dass die Stadt eine Insel ist? Oder ist es vielleicht das Blei in den alten Leitungen, wie manche vermuten?

Ich glaube, das Geheimnis ist so einfach wie schwierig zu erreichen: günstige Mieten und Förderprogramme. Natürlich ist auch Montréal massiver Gentrifizierung unterworfen, aber in der Stadt lässt sich immer noch irgendwie unterkommen, es gibt Proberäume und geringere Lebenshaltungskosten, was dafür sorgt, dass vielleicht ein Nebenjob (und irgendwann dann: keiner) reicht, um von der Musik zu leben und man Zeit und Raum für Kreativität hat. Und Förderprogramme helfen dabei natürlich auch und können zusätzlich für eine gewisse Professionalisierung sorgen, die es Künstler:innen, aber auch dem ganzen Ökosystem um sie herum, Labels, Veranstalter:innen oder Management, schneller ermöglicht, das Ganze nicht mehr nur wie ein Hobby zu betreiben. Naja, und das Blei in den Rohren hat bestimmt dann auch noch einen Effekt on top.

Berlin als Vergleich

Erinnert euch das an etwas? Zufällig an den Aufstieg von Berlin als internationale Adresse für Kreativität, Musik und Kunst? Huch, mich auch. Nur: Dieses Berlin gibt es immer seltener – eine gescheiterte Mietenpolitik sorgt dafür, dass Menschen sich die Stadt nicht mehr leisten können, Menschen, die hier herziehen wollen, finden nicht mal etwas, und das, was es gibt, ist gnadenlos überteuert. Es gibt zwar in Berlin eine Förderlandschaft mit unterschiedlichen Institutionen, die wirklich großartige Arbeit leistet, um Popkultur zu fördern, aber auch sie will verteidigt werden vor den Kürzungsorgien von Landes- und Bundesregierung, um ihre Lieblingsprojekte durchzubringen (wir erinnern uns: der derzeit noch laufende Fördermittelskandal der CDU in Berlin, das Durchpeitschen von Geldgrab-Projekten der aktuellen Bundesregierung). Ab 2027, heißt es, sollen die Einschnitte richtig brutal werden. Tolle Aussichten. Kann ich bitte die teure Wehrpflicht, deren Sinnhaftigkeit noch debattiert wird, nochmal zurücklegen? Nein? Dachte ich mir.

Solche Entwicklungen haben weitreichendere Folgen als nur für die Kulturschaffenden selbst: Wer sehr viel arbeiten muss, um seine Lebenshaltungskosten zu decken, verzichtet eher auf Investitionen in Konzerte, hat vielleicht weniger Zeit, auf kleine Shows zu gehen und seinen nächsten Local Hero zu entdecken. Es gibt vielleicht auch gar nicht mehr die kleineren und mittelkleinen Venues, die deren Konzerte veranstalten, die es sich leisten können, auch mal experimentelleren Acts Raum zu geben, damit die sich überhaupt erstmal ein kleines erstes Publikum erspielen können.

Fünf Tage voller Entdeckungen

Fünf Tage Montréal, fünf Tage Favourites wie das Jazz/HipHop-Projekt Badbadnotgood oder die frankophone Dance-Punk-Band Choses Sauvages, und vor allem mir noch völlig unbekannte Bands und Künstler:innen wie die wunderbar entzückende Newcomerin Fine Food Market, das multimediale Irrsinnserlebnis von Annie-Claude Deschênes und distraction4ever, eine französisch-englische Kreuzung aus DAF, Current Joys und Bauhaus. Ich nehme dann mal noch ein Glas Wasser mit Blei.

Aida Baghernejad schreibt freiberuflich unter anderem für MUSIKEXPRESS. Weitere Artikel und das Autorenprofil gibt es hier.