Alanis Morissette


Wie im Märchen: Der Aufstieg einer 21jährigen Kanadierin vom Aschenputtel zur schillernden Pop-Prinzessin.

Wenn sie erstmal Vertrauen gefaßt hat. ist Alanis Morissette leicht zum Lachen zu bringen. Gerade hat sie von ihrem Produzenten Glen Ballard geschwärmt: „Er ist so toll, für ihn würde ich mich vor einen LKW werfen.“ Aber sicher nicht vor einen fahrenden LKW? Eine Lachsalve folgt: „Natürlich nicht! Ich würde den LKW anhalten. Dann würde ich schreien: Guck mal, Glen, was ich für dich tue! Und dann würde ich mich auf die Straße werfen.“

Wieder ein Lachanfall, der diesmal allerdings so ansteckend ausfällt, daß sich selbst der Kameramann, der Alanis zwei Tage lang während ihres Besuches beim SWF 3 New-Pop Festival in Baden-Baden auf Schritt und Tritt verfolgt, nur mühsam das Lachen verkneifen kann. In der Tat hat Alanis allen Grund, ihrem Mentor und Produzenten Glen Ballard zu danken. Wenn auch ein Suizid vielleicht nicht gerade das geeignete Mittel dafür ist. Ballard, der früher für Michael Jackson und Paula Abdul im Studio Hand anlegte, unterstützte die Musikerin mit den hüftlangen braunen Haaren bei der Produktion ihres dritten Albums ‚Jagged Little Pill‘ in ihrem Bemühen, endlich aus der Dance Pop-Ecke rauszukommen. Dorthin hatte sich die Kanadierin mit ihren ersten beiden Alben ‚Alanis‘ (1991, Platin in Kanada) und ‚Now Is The Time‘ (1992, in Kanada knapp unter Gold) selber manövriert.

Jetzt hat Alanis Morissette mit ihrem neuen Stil, einer Mischung aus Grunge, Folk und HipHop, Platz 1 der amerikanischen Album-Charts erreicht. Ein wahrlich märchenhafter Aufstieg, wie auch das amerikanische ‚Spin‘-Magazine befand und in Anspielung auf das bekannte Märchen treffend titelte: „Alanis In Wonderland“. Aber wer die 21jährige auf die Zeit vor dem Wunder anspricht, entlockt ihr nur äußerst einsilbige Antworten wie „damals hab ich Pop gemacht. Ich war noch sehr jung.“ JugendSünden, von denen Alanis heute nichts mehr wissen will. Deshalb arbeitete sie auch in den vergangenen Wochen hart daran, ihre alte Plattenfirma MCA daran zu hindern, die peinlichen Gesellenstücke wieder zu veröffentlichen.

Heute spricht sie viel lieber darüber, wie froh sie ist, back in good old Germany zu sein. Alanis hatte es nämlich im zarten Alter von drei Jahren nach Heiligenzell in der Nähe des Schwarzwaldstädtchens Lahr verschlagen. Dort arbeiteten ihre Eltern, ein Franko-Kanadier und eine Ungarin, als Lehrer bei der US-Army. Und am Tag vor unserem Gespräch hatte sie ihr ehemaliges Wohnhaus besucht, wieder gefolgt von einem Troß aus Betreuern, Medien- und Plattenfirmenmenschen. SWF 3-Reporter hatten das ehemalige Kindermädchen des Shooting Stars ausfindig gemacht. Und das Wiedersehen bot gefälliges Kamera- und Mikrofutter: Umarmungen mit Freudenquietschen, Grüße des Kindermädchens Margret Keller aus Heiligenzeil an die Familie Morissette in Ottawa, baffe Bauern, Alanis‘ vergeblicher Versuch, durchs Fenster in den ehemaligen Kindergarten einzusteigen und die Feststellung: „Very lovely. Aber es sieht hier alles viel kleiner aus, als ich es in Erinnerung habe. Das liegt wohl daran, daß ich damals noch so winzig war.“ Sie selbst dokumentierte die Visite mit ihrer eigenen Kamera. Schließlich sollen Mama, Papa und die beiden Brüder zuhause auch etwas vom Ausflug in die Vergangenheit haben.

Das Leben in der Schwarzwald-Idylle scheint Lichtjahre zurückzuliegen. Nachdem Alanis als Sechsjährige zurück nach Ottawa gezogen war, lernte sie Tanzen und Klavierspielen und nahm Schauspielunterricht. Mit zehn schrieb sie ihre ersten Songs. Den Etat für ihre Debüt-Single ‚Fate Stay With Me‘, die sie auf dem eigenen Label Lamor rausbrachte, verdiente sie sich als Kinderstar in der TV-Komödie ‚You Can’t Do That On Television‘. Mit 14 ergatterte sie einen Plattenvertrag bei MCA. Weil ihr die Decke im katholisch orientierten Elternhaus auf den Kopf fiel, zog sie nach Toronto um und später nach L.A. Dort besorgte ihr Glen Baüard einen Vertrag bei Madonnas Label Maverick, den sie gerne unterzeichnete, „weil man mir totale Freiheit garantierte.“ Madonna hat sie mittlerweile mehrmals persönlich getroffen, „aber ich kenne sie zu wenig, um sie beurteilen zu können. Immerhin mag sie meine Platte und stärkt mir massiv den Rücken.“ Trotzdem gehört Madonna nicht unbedingt zu den Vorbildern der eigenwilligen Kanadierin. Eher schon „Joni Mitchell und Annie Lennox. Ich bewundere ihre toughe Art, ihr androgynes Image und ihre Bockigkeit. Aufgewachsen bin ich aber mit Abba und Bob Dylan aus der Plattensammlung meines Vaters. Dann ging ich durch eine George Michael-Phase. Und im Moment höre ich am liebsten ‚Fake Plastic Trees‘ von Radiohead. Da läuft bei mir im Kopf ein richtiger Film ab.“

Komplette Spielfilme laufen auch in Alanis Vorstellung ab, wenn sie gerade beim Songschreiben ist. Dabei verläßt sie sich ganz auf ihr Unterbewußtsein: „Ich laß die Texte und die Musik einfach rausfließen. Oft weiß ich am nächsten Tag nicht mehr, was ich am Vortag geschrieben habe“, erklärt sie und betrachtet ihre hellblau lackierten Fingernägel. „Ich arbeite gern spontan. Mein Produzent Glen und ich haben die Songs in einem Rutsch geschrieben und gleich aufgenommen. In dieser Hinsicht lief auch die Kooperation mit Tom Pettys Keyboarder Benmont Tench ideal: Er hörte sich meinen Song einmal an, dann legte er ihn ein zweites Mal auf, setzte sich ans Keyboard und spielte dazu.“ Ihre jetzige Band stellte sich Alanis in L.A. nach ungewöhnlichen Gesichtspunkten zusammen: „Ich hatte rund 50 Musiker zum Vorspielen eingeladen. Und suchte sie mir nicht nur nach musikalischen Fähigkeiten aus, sondern auch nach ihrer Lebenseinstellung und den Vibes. Schließlich muß ich damit rechnen, daß ich zehn bis 20 Jahre mit ihnen verbringe.“

Die kluge Frau baut vor. Zwar findet sie ihre Jungs auch optisch alle ganz lecker. Aber eine Beziehung will sie mit keinem von ihnen eingehen. Denn: so etwas könnte ja die Arbeit beeinträchtigen. Ihr Privatleben hat Alanis Morissette sowieso in den Hintergrund gestellt. Für eine feste Bindung fehlt die Zeit. „Ich kann mich eh nur in jemanden verlieben, den ich ein bißchen besser kenne. Gutes Aussehen verursacht bei mir noch kein Herzklopfen. Eher eine kurzweilige Unterhaltung. Und am wichtigsten finde ich, daß ein Mann zu seiner Verletzlichkeit steht und zu sich selbst gut ist. Nur dann kann er auch zu andern gut sein.“

Seit sie sich im Text von ‚You Oughta Know‘ mit sehr intimen und zynischen Anwürfen an einem Ex-Lover und dessen neuer Partnerin rächte (Kostprobe: „wenn sie so pervers wäre wie ich, würde sie auch über dich im Theater herfallen“), „haben die Männer Angst vor mir. Sie denken, ich würde ihnen den Kopf abreißen und gehen auf Distanz. Vor allem die Medien stellen mich gern als hinterhältige, frustrierte Hexe dar. Dabei ist das absoluter Quatsch.“ Mit dem Text hatte sie sich ihre Trauer und Verwirrung von der Seele geschrieben, nachdem sie ihren Ex ein Jahr nach der Trennung wiedergetroffen hatte und feststellen mußte, daß sie ihre Gefühle noch immer nicht unter Kontrolle hatte. „Aber dieser aggressive, dunkle Aspekt ist nur eine Facette meiner Persönlichkeit. Der Rest der Songs zeigt eine positivere Seite.“

Mittlerweile hat Alanis Morissette erkannt, daß Eifersucht nur auf mangelndem Selbstbewußtsein basiert. Und sie arbeitet hart daran, ihr Ego aufzumöbeln und ihre Sexualität von der katholischen Moralqual zu befreien, die sie in der Kindheit verpaßt bekam: „Mit 16 habe ich angefangen, mir Hilfe beim Psychotherapeuten zu holen. Dadurch habe ich herausgefunden, wie bestimmte Verhaltensund Beziehungsmuster zustande kommen. Ich finde das sehr spannend. Schade, daß ich meinen Therapeuten nicht dorthin mitnehmen kann, wo ich ihn am dringendsten brauchte: auf Tournee.“ Deshalb hält sich Alanis, die sich selber als „schreckliche Quasselstrippe“ outet, die „am liebsten bis morgens um fünf bei Brot und Erdnußbutter am Küchentisch sitzt und sich den Kopf heißdiskutiert“, mit Meditation und mit Hypnose-Tapes fit. „Sonst würde ich vor allem an Promotiontagen ab und zu schreiend wegrennen, so wie es andere Kollegen gelegentlich tun.“

Das Arbeitsmaterial für die Entspannungsübungen, Aroma-Öle und Räucherstäbchen, holt sie sich im ‚Bodhi Tree‘ Shop, einem spirituellen Buchladen in LA, in dem Kolleginnen wie Joni Mitchell, Cher und Paula Abdul verkehren. Quasi gleich um die Ecke, in Santa Monica, ist Alanis auch zu Hause. „Ich habe eine wunderbare Wohnung mit Meeresblick. Und ich will zwar später mal eine Familie mit Kindern haben, aber im Moment habe ich mich dafür entschieden, als Single zu leben. Nur so kann ich in Ruhe nachdenken und an mir arbeiten.“

Meistens jedoch geht die Musikerin, deren Freunde Drehbuchautoren, Schriftsteller und Dichter sind, dem Drang nach, „Gefühle auszudrücken. Wenn ich nicht gerade Musik mache, male ich abstrakte Aquarell- und Acrylbilder. Oder ich schreibe Tagebuch, Briefe oder Gedichte. Und im Gegensatz zu früher, wo ich viel zu oft von Chauvies umgeben war, bin ich jetzt richtig froh, eine Frau zu sein.“

Der Kameramann moniert, daß ein Haarbüschel Alanis‘ Gesicht verdeckt. Sie streicht die schulterlange Strähne vom Auge weg und sagt mit einem trockenem Lachen: „Schneiden wir sie doch einfach ab. Hat hier mal jemand eine Schere für mich!“