Alles zu spät? Uwe Tessnow von „Line Records“


Haben die unabhängigen deutschen Label ihre Chance verpasst? Hätten sie sich rechtzeitig um ein gemeinsames Vertriebsnetz bemüht, wäre viele Bands wahrscheinlich nicht zur Industrie abgewandert. - Provozierende Gedanken von Uwe Tessnow dem Chef des Wohnzimmer-Label "Line Records".

Als damals vor vier, fünf Jahren die ersten „neuen Deutschen“ auftauchten, war ihre Devise klar. Zum einen waren diese Musiker schon mehrmals an der Institution Schallplatten-Industrie gescheitert, zum anderen wollten sie auch gar nichts damit zu tun haben. Die Riesenwellen des britischen Spät-Punks schwappten gerade mit enormer Verspätung nach Deutschland – und die dort gemachten Sprüche („Fuck the Industry“) paßten natürlich auch hier zu der gerade aufkeimenden musikalischen Anti-Haltung.

Also wurden flugs kleine, intime, zur Mithilfe geradezu einladende Mini-Label gegründet die fast alles anders machten als die großen „Brüder und Schwestern“ in den Zentralen der Macht. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie auf Küchentischen und mit roten Zahlen auf den Konten die ersten Singles produziert und verkauft wurden. Jeder, der auch nur einmal den gesamten Werdegang einer Schallplatte verfolgt hat, muß die Freude und das Engagement dieser „Verrückten“ als Schlüsselerlebnis begreifen. Sicher, auch diese Enthusiasten müssen sich gewissen Techniken der Großen bedienen – es ist nur eine Frage des WIE! Deshalb die provozierende Frage „Alles zu spät, oder?“.

Ich habe den Eindruck, daß jetzt, nachdem in den letzten zwei Jahren fast alles nur zum Positiven für die kleinen Label gelaufen ist, der Ausverkauf stattfindet und schon in einem erschreckenden Maße stattgefunden hat. Und das war bestimmt – zumindest in dieser Form – überhaupt nicht nötig.

Erinnert Euch mal, Ihr Macher, wie war’s denn vor gut 25 Monaten? Wer wollte sich mit Euch an einen Tisch setzen, wer kam zu Euren Konzerten, wer half Euch mit Ratschlägen, mit der Werbung, mit Tips hier und „unter-die-Arme-greifen“ da? Niemand.

Ihr habt alles, von der Low-Budget-Produktion bis zum Eintüten der Platten, von der neuen/alten Vermarktungstechnik bis hin zum Einrichten neuer Laden selbst gemacht. Und ich kann mir lebhaft vorstellen, daß Ihr damals aus tiefster Überzeugung die satten Trittbrettfahrer der Industrie abgelehnt habt.

Und dann kamen die ersten heftigen Erfolge. Durch Euch. Durch völlig neue Wege der Verbreitung, durch selbst organisierte Festivals. Wer wollte denn DAF, wer wollte Ideal, ganz zu schweigen von der zweiten und dritten Liga?

Wer sagt denn, daß Verkäufe in großen Stückzahlen nur möglich sind, wenn 25 Vertreter eines Platten-Konzerns alle Händler Deutschlands beliefern? Habt Ihr nicht gezeigt, daß es auch anders geht, habt Ihr so wenig Vertrauen in Eure Fans? Sie sind immer wieder in die Läden gelaufen und haben nach Euren Platten gefragt gefragt, gefragt – bis sich dann irgendein Einkäufer mit dem Wohnzimmer-Label von XY in Verbindung gesetzt hat – und dann lief’s. Es gab endlich, nach Jahren, einen neuen Weg der Verbreitung von Musik. Ihr habt ihn gefunden …

Als die gesamte Branche Kopf stand aufgrund der immensen Umsätze, die Ihr allein hattet, da hätte jemand aus Eurer Mitte sich daran machen sollen und alle zu einem nicht-ideologischen Treffen zusammenrufen sollen. Thema: Wie bauen wir einen schlagkräftigen Vertrieb auf, der uns gehört und den wir selbst steuern können ? Es gab Versuche, darüber zu reden – aber alle Ansätze wurden von vornherein zunichte gemacht durch einen Kinder-Kleinkrieg zwischen X und Y, unter Berücksichtigung von Z.

Ich kann und will nicht als Lehrmeister auftreten, ich habe mich bis zu einem gewissen Grad innerhalb der sogenannten Industrie etabliert und fühle mich sogar wohl dabei. Aber ich habe auch nie den Anspruch erhoben, daß ich alles anders und besser machen will. Ich wollte meine Acts in einer gerechten Weise am Markt repräsentiert wissen, nicht mehr! Aber Ihr habt es in der Hand gehabt, für alle nachfolgenden Musiker Zeichen zu setzen und den Weg zu bereiten …

Stellt Euch vor: eine gemeinschaftliche Vertriebs-Organisation. Alle Label unter einem Hut, wie bei Rough Trade, Spartan, Pinnacle. Jeder kann seine selbstfabrizierte Single oder LP über eine funktionierende Organisation verkaufen lassen – und hat die Möglichkeit, alle begleitenden Maßnahmen selbst zu steuern und zu organisieren. Utopisch? Vielleicht! Aber es war bis vor einem Jahr durchaus möglich, denn Alle und Jeder waren bereit, bei irgendeinem obskuren Vertrieb zu bestellen – Hauptsache, er bekam die von seinen Kunden verlangten Platten. Ich will nicht behaupten, daß dadurch mehr Platten unters Volk gekommen wären, wahrscheinlich sogar weniger, aber zumindest wären einige Dinge nicht passiert, die jetzt meiner Meinung nach passieren werden …

Es fängt an mit den Vorbereitungen zur Produktion. Über die bereits erwähnten Zugeständnisse der Industrie in Bezug auf Vorauszahlungen seid Ihr jetzt in der Lage, Euch größere, bessere, perfektere Studios auszusuchen. Und die kosten zweifellos mehr Geld. Dafür haben diese Studios all die kleinen Extras, ein klitzekleiner Effekt hier, einen Spezialsound da. Glaubt Ihr allen Ernstes, daß das ein Fan mit einer DM 800,- teuren Stereoanlage überhaupt hören wird? Oder mischt und produziert Ihr jetzt nur noch für einen erlesenen Fan-Kreis mir superteuren Anlagen? Für Leute, die es schick finden, neue deutsche Musik zu hören …? Aber es geht ja schon weiter. Nicht nur, daß Ihr zwei Etagen zu hoch ansetzt in der Produktion, Ihr seid ja sogar schon dabei, parallel zu den deutschgesungenen Produktionen eine englische Version aufzunehmen, für den internationalen Markt (wie man Euch sagt). Merkwürdig, nicht wahr, daß Ihr jetzt plötzlich eventuelle Plazierungen in den englischen und vielleicht sogar den amerikanischen Charts angeht.

Nochmals: Ich persönlich habe nichts dagegen, Ihr sollt alle den Erfolg haben, den Ihr verdient, Ihr habt jahrelang für eine andere, freundlichere Szene gearbeitet. Und Ihr habt’s geschafft, heute kriegen all die hochnäsigen Engländer und Amerikaner im Musikgeschäft nicht mal einen Fuß in Deutschland auf die Erde. Ihr ward immer nur Vorprogramm im übelsten Sinne, verheizt, nicht ernst genommen. Und ich behaupte, daß Ihr diese gesamte Situation hättet retten können, Ihr wärt Euch treu geblieben (und hättet mindestens ebenso viel Geld verdient), wenn Ihr bestimmte Dinge wie zum Beispiel den gemeinsamen Vertrieb und damit die Kontrolle über Eure Erzeugnisse selbst geschaffen hättet. Sicher, einige Geschäfte wären nicht in der gleichen Intensität mit Euren Platten ins große Verkaufen eingestiegen, aber andere hätten es aufgefangen. Heute beginnt das große Sterben der kleinen Platten-Läden, denn jede und alle Platten kann man heute überall kaufen. Das wäre auch so gekommen, wenn Ihr Euch auf der Vertriebsschiene geeinigt hättet, aber anders.

Es tut mir unglaublich weh, wenn ich heute bei Euch eine Entwicklung wiederfinde, die Ende der 50er Jahre mit Sun Records passierte, die Ende der 60er Jahre in England stattfand, die Mitte der 70er Jahre auch in anderen Ländern ablief. Es ist wahrscheinlich eine absolut logische und konsequente Entwicklung, niemand kann sie aufhalten. Aber bei uns wäre sie vielleicht doch anders gelaufen …