Als ich ein kleiner Junge war


Huch, ein Konzeptalbum: Mit dem sechsten Album seines Musikprojektes M83 möchte Anthony Gonzalez dem Traum an sich ein Denkmal setzen.

Es ist zehn Uhr morgens. Anthony Gonzalez sitzt auf einem Sofa im sogenannten „Whiskey Room“ eines Hotels in Berlin-Friedrichshain und beichtet ein Handicap: Er könne, so sagt er bedauernd, sich nie an seine Träume erinnern. Ein, zwei Minuten lang vielleicht. Dann seien sie für immer weg. „Ich sollte mir ein Blatt Papier und einen Stift neben mein Bett legen. Und dann gleich nach dem Aufwachen schreiben, wovon ich geträumt habe.“

Das ist natürlich total in Ordnung, aber man stutzt dennoch. Denn immerhin hat der aus Frankreich in die USA ausgewanderte Dreampop-Veteran ein neues Album im Gepäck, das sich laut Plattenfirmenschreiben mit dem Träumen auseinandersetzt. Aber natürlich tappt man hier in eine Begrifflichkeitsfalle: Das neue M83-Album berichtet nicht nur vom klassischen Traum, sondern auch von Wünschen und Vorstellungen, von Erinnerungen an die Kindheit und die Jugend und davon, wie wichtig diese als Fluchtmittel aus der Realität der Gegenwart sind: „Ich zog vor eineinhalb Jahren in die USA und fühlte mich zunächst sehr einsam. Ich musste daran denken, wie ich ein kleiner Junge war. Daran, wie ich im Hof unseres Hauses in Antibes mit den anderen Kindern spielte. Es waren immer so viele Kinder da! An das Meer, das nur ein paar Meter entfernt war. Und an das Zimmer, das ich mir mit meinem Bruder teilte. Wir hatten ein Stockbett, ich schlief oben und war von einer Armada an Stofftieren umgeben. Oft stellte ich mir vor, das Bett wäre ein Raumschiff und wir würden fliegen!“

Man hört das. Auch wenn Gonzalez vehement jeden vorab errichteten Überbau abstreitet und betont, dass die Musik das Konzept bestimme und nicht umgekehrt: Hurry Up, We’re Dreaming flirrt und fliegt, schwelgt und verschwendet und vermeidet jede lineare Erzählweise. Die Gattung Popsong, die das letzte Album Saturdays = Youth (2008) mindestens streckenweise charakterisierte, hat sich zurückgezogen. Oder auch: Wo M83 damals nach dem Soundtrack zu einem John-Hughes-Film klangen, ist es diesmal eine auf dem Speicher eines Mietshauses gefundene Kiste mit alten Super-8-Bändern, die einem hierzu in den Sinn kommt.

Gonzalez scheint diese Rezeption zu gefallen. Ohnehin wirkt er zufrieden und ausgeglichen. Kann er auch sein, in seiner Wahlheimat USA sorgten M83 in den vergangenen Jahren schließlich für einige Aufmerksamkeit auch jenseits der üblichen Blogs. Die Platten verkauften sich ausnehmend gut, er tourte mit den Killers und den Kings Of Leon, aber auch mit Depeche Mode – und von denen ist Anthony Gonzalez ein Fan. Die anderen beiden Bands beschreibt er eher diplomatisch: „Man lernt viel bei solchen Touren. Zum Beispiel, was es ausmacht, ein Frontmann zu sein.“ Bei allem Eskapismus: Anthony Gonzalez bereitet sich auf die Zukunft vor.

Albumkritik S. 88