Animal Collective: Baltimore sendet ins All


Selbst Animal Collective können so eine klassische Band sein, die sich zum Musizieren in eine Garage stellt. Wer darauf baut, dass das ihre Songs begradigt, hat allerdings die Rechnung ohne den Tausendfüßler gemacht. Und die Aliens wollen schließlich auch noch was abhaben von ihrer Musik.

andenkriege, Korruption und Drogen, das hat Baltimore zu bieten. Wer die Serie „The Wire“ gesehen hat, weiß Bescheid. Die Band Animal Collective verkörpert jedoch den Gegenentwurf zum Fernsehbild ihrer Heimatstadt. Sie sind nette Jungs, sie sind Künstler, und sie waren auf der Waldorfschule. Ein Musikerverbund jenseits klassischer Rockband-Konventionen, dessen Songs dafür bei „The Simpsons“ laufen. So weit zu den Klischees …

Ein ordentlicher Jetlag führt zu einer verzerrten Wahrnehmung. Das bemerkte auch Noah Lennox (Bühnenname: Panda Bear), kurz nachdem er zum ersten Mal auf europäischem Boden gelandet war. Das ist schon einige Jahre her. Er war als Mitglied seines Highschool-Chors in Frankfreich unterwegs, um ein paar Kathedralen zu beschallen. „Es hat sich merkwürdig angefühlt, definitiv anders als zu Hause“, er­innert er sich an seine erste Begegnung mit Europa. „Dafür fühle ich mich heute schon fast mehr europäisch als amerikanisch“, sagt er, während sein Herz ein Circa-70-zu-30-Kaffee-Blut-Gemisch durch seine Adern pumpt, denn an diesem verregneten Berliner Sommertag ist der Animal-Col­lective-Schlagzeuger auch wieder ordentlich gejetlagged. Lennox hat für einige Jahre in Portugal gelebt und sich längst daran gewöhnt, wie unterschiedlich die Empfindungen und Empfindlichkeiten auf den beiden Seiten das Atlantiks sind. Mitsamt seiner Familie und seinen Bandkollegen zog er im Vorfeld der neuen, neunten Animal-Collective-Platte wieder dorthin zurück, wo alles seinen Anfang fand: nach Baltimore, Maryland. In Mutters Garage.

Drei Generationen und den Lärm von vier Musikern unter dem Dach eines Hauses zu vereinen, war im Nachhinein „nicht die beste Idee“, stellt er fest. Der Plan, für das neue Album, Centipede Hz, an den Ort seiner Kindheit zurückzukehren, wo sich aus einer losen Gruppe von Jungs eine stilprägende Band des Psych Folk formen sollte, erwies sich allerdings als gute Entscheidung. Die Band hatte für die vorherigen Alben vieles in Einzelarbeit erstellt, jeder für sich zu Hause. Entwürfe, Collagen, Arrangements jagten so via Glasfaserkabel quer durch die USA und bis nach Europa hinüber. Zurück in ihrer Heimat Baltimore, konnten sie endlich wieder wie eine richtige Proberaumband zusammenspielen. Und auch Gitarrist Josh Dibb aka Deakin war wieder mit von der Partie, der beim Vorgängeralbum Merriweather Post Pavilion eine Pause gemacht hatte, um nach einem privaten Verlust emotionale Auf- und musikalische Solo-Arbeit zu verrichten.

Der Umzug zurück nach Baltimore war nicht zuletzt sehr praktisch: Noah Lennox konnte seine Tochter jeden Morgen in die örtliche Waldorfschule bringen. Dort hatten er und Deakin nach der Idee Rudolf Steiners gelernt, ihre künstlerischen Fähigkeiten zu entfalten. Das beschert ihnen bis heute neugierige Fragen über das Waldorf-Prinzip und unorthodoxe Kreativ-Praktiken. Brian Weitz aka Geologist, Synthesizer-Beauftragter der Band, bot sich wiederum die Möglichkeit, zwischen der Garage der Familie Lennox und seiner eigenen in Washington, D. C. zu pendeln.

Es mag naheliegen, hinter dem Schritt zurück an den Ort ihrer Jugend und an den Ausgangspunkt der eigenen Karriere Ambitionen zu vermuten, wie sie Arcade Fire hatten, als sie The Suburbs aufnahmen. Ein Song wie das poppig-zerschossene „Today’s Supernatural“ vermag das auch nicht ganz eindeutig zu widerlegen. Doch für Wehmut und romantische Verklärung sind Animal Collective nicht besonders empfänglich. Und Baltimore scheint sich dagegen auch noch zu sträuben: Während die Freunde zum Studieren nach New York und Boston zogen, verschwanden die Orte ihrer Kindheit aus dem Stadtbild. Nur selten blitzen heute noch kurze Déjà-vus auf, wenn sie in ihrer Heimatstadt unterwegs sind. „Wir waren auch nie Teil der DIY-Szene von Baltimore, die damals sehr punk- und hardcorelastig war. Wir hatten unsere eigene kleine Welt“, erinnert sich Noah. „Es war spannender, zu jemandem rüber zu gehen und in der Garage rumzuhängen, anstatt auf irgendwelche Konzerte zu gehen.“

Bis heute gehören Animal Collective keiner bestimmten Szene an. Auch wenn sie oft als Beispiel für den „typischen“ New-York-Sound (dort hielten sie sich zumindest zeitweise auf, allerdings nie in Brooklyn) herhalten müssen und das dazu passende Laisser-faire des offenen Musikerkollektivs leben, das als Band-Idealbild der vergangenen Jahre gilt. Es schließt die unterschiedlichsten Solo-Aktivitäten ebenso ein wie gemeinsame alternative Projekte wie die Video/Sound-Installation „Transverse Temporal Gyrus“ für das New Yorker Guggenheim-Museum. Solche Sachen eben, wie sie zum Beispiel auch Yeasayer tun. Oder Grizzly Bear. Ausgerechnet deren Sänger Ed Droste sorgte vor Veröffentlichung des Animal-Collective-Albums Merriweather Post Pavilion (2009) dafür, dass ein Song-Leak daraus die große Runde machte: Er postete voreilig die frohe Botschaft und den zugehörigen Link weiter. Was folgte, waren offizielle Statements, Entschuldigungen, Rechtfertigungen von der einen und der anderen Seite.

Der Vorfall war letztlich einfach zu verschmerzen, denn Merriweather Post Pavilion entwickelte sich zum kommerziell erfolgreichsten Album von Animal Collective. Jüngere Bands wie MGMT hatten da schon längst nachgezogen und sicherten sich noch mehr Aufmerksamkeit und Erfolg, indem sie bei der Einstellung des Mischungsverhältnisses von Art zum Pop den Regler noch etwas weiter nach rechts drehten. Deakin besteht allerdings darauf, dass dies auch ohne ihre Vorarbeit geschehen wäre: „Noah hat dazu eine sehr schöne Philosophie: ‚Alles geschieht in Wellen‘. Diese sogenannte Welle gab es bereits vor unserer Zeit und es wird sie wahrscheinlich noch geben, wenn wir längst nicht mehr da sind.“

Auf Centipede Hz gab Deakin mit „Wide Eyed“ übrigens sein Gesangsdebüt innerhalb der Band und erfuhr zum ersten Mal, wie es ist, „Konzepter“ eines Songs zu sein und als solcher den Input der anderen drei zu filtern. Denn auch wenn die Band im Laufe ihres fast 15-jährigen Bestehens nach nur sehr wenigen Regeln gespielt hat, diese Regel hat bis heute Gültigkeit: Wer einen Song schreibt, muss ihn auch – unter Mithilfe der anderen – selbst umsetzen. „Und plötzlich findet man sogar solche Ideen und Ansätze gut, die man selbst nie in Betracht gezogen hätte, weil sie alles auf den Kopf stellen, was du dir bisher unter deinem Song vorgestellt hast“, berichtet Deakin.

Zusammengefasst haben Animal Collective all die von ihnen verarbeiteten Strömungen im Bild des Tausendfüßlers, der dem Album seinen Namen gibt. Er steht exemplarisch für die unzähligen Einflüsse der einzelnen Songs, die komplexer ausgefallen sind als die der Vorgängeralben und dem Hörer manchmal einiges abverlangen. Da steckt so viel drin, da fällt sogar auch noch für Aliens etwas ab. Denn es gibt ein zweites „Wellen“-Modell, mit dem sich Animal Collective beschäftigt haben: „Wir haben überlegt, was mit Radiowellen geschieht, die von der Erde ausgehen“, erzählt Josh. Und sie sind zu dem Ergebnis gekommen: „Irgendwo da draußen probt eine Alien-Band und wartet darauf, dass genau diese Radiowellen sie inspirieren.“ Kein Wunder, dass Animal Collective auf so vielen Frequenzen gleichzeitig senden.