Auf dem Weg in die Ewigkeit


Fast hätten wir es vergessen. Unser goldenes Jubiläum! Ein halbes Jahrhundert im aufopferungsvollen Dienst an der Muse. Dr. Gonzo würdigt ein Stück Zeitgeschichte.

Man wird alt. Echt! Wie verdammt alt man geworden ist, habe ich vor ein paar Tagen feststellen müssen, als ich in einem, mit Erinnerungen prall gefüllten Persil-Karton kramte. Denn neben ein paar sauschlechten Zeugnissen aus meiner Gymnasialzeit, einigen, nie abgeschickten peinlichen Liebesbriefen und vielen Fotos von Verflossenen fiel mir auch ein vergilbtes Heftchen in die Finger. Titel: ME/Sounds. Erscheinungsdatum: 1. Mai 1936. Preis: 1 Reichsmark. Titelbild: Zarah Leander. Mann, schoß es mir durch den Kopf, wir haben den Fünfzigsten doch glatt verschwitzt. Ein halbes Jahrhundert ME/Sounds, und keiner —- außer mir -— hat’s gemerkt.

Natürlich haben der große Gonzo und der Chef-Gockel das Jubiläum mit ein paar flotten Hühnern gebührend nachgefeiert. Doch was hat schon der geneigte Leser davon? Also, hab‘ ich mir gedacht, erzählst du den Grünschnäbeln mal, wie das damals so war, als man die Musik noch ausschließlich mit der Hand machte.

Keine Ahnung mehr, wer ausgerechnet anno 1936 auf die abstruse und (fast) selbstmörderische Idee kam, in Deutschland eine internationale Musikzeitschrift ins Leben zu rufen -— ich war damals noch Cand. phil. werkelte an meiner Doktorarbeit mit dem Thema „Großer Diskurs über eine mögliche Zukunft des Rock ’n‘ Roll“ und verdiente mir fortan bei der Zeitschrift ein paar schlappe Reichsmärker als Volontär hinzu. Aber eines weiß ich heute noch: Es war wahrlich kein Zuckerschlecken!

Das fing schon mit dem Titelbild an. Egal, auch wenn im Inneren des Blattes eine riesige Story über Bix Beiderbecke oder Jelly Roll Morton (dem Erfinder des Jazz) zu finden war, aufs Cover mußte stets etwas Linientreues, denn die Herzen der Reichsschrifttumskammer kannten kein Erbarmen. Ihr kennt das ja sicher aus den alten Filmen, wenn diese martialischen Finstermänner in den langen Ledermänteln früh um sechs zu allem entschlossen auf die Türklingel eines Verdächtigen drücken.

Wir haben also immer brav Rita Wottawa („Oh mein Papa“), Rudi Schurike („Capri-Fischer“) oder Hans Albers und Lale Andersen aufs Cover gehievt, doch ’45 war dann nach den angedrohten „tausend Jahren“ vorzeitig und endgültig Schluß mit diesem Versteckspiel. Rita, Rudi, Lale und Hans wurden vom Titel verbannt, und die -— natürlich stante pede mit einer Lizenz der Alliierten bedachten Macher von ME/Sounds -— konnten nun endlich in die Vollen greifen.

Eines der damaligen Highlights war die (bis dahin) definitive Sinatra-Geschichte. in der „Old Blue Eyes“ wirklich alles über seinen Whisky-Verbrauch, seinen Weiber-Verschleiß und seine Mafia-Connections rausließ. Gekostet hat die Storv die Redaktion lediglich die drei Flaschen „Old Bushmills“, die Frankieboy während des Interviews ohne die geringsten Anzeichen von Trunkenheit leerte.

Kein Höhepunkt hingegen wurde das Bing Crosby-Interview im Weihnachtsheft 1946, denn der Mann faselte ausschließlich von Rentieren namens Rudolph und alten Männern mit roten Nasen, weißen Rauschebärten und dicken Säcken auf dem Rücken. Aber vielleicht lag’s ja daran, daß zu dem Zeitpunkt seine Single „White Christmas“ gerade zum 37. Mal in die deutschen Charts gekommen war.

Daß wir (Ich darf „wir“ sagen, denn ich war inzwischen mäßig bestallter Jungredakteur des Blattes) schon damals ein weites Herz für die aufkeimende „deutsche Szene“ hatten, beweist die Homestory mit dem „Wolfgang Niedecken der 40er Jahre“, Willi Ostermann. Dieser echte kölsche Jung lag nämlich während der damaligen Deutschrock-Dürre allen mit „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“ mächtig in den Ohren. Kostprobe gefällig? „Nein sowas gibt’s nicht in Chinesien/darum sind wir stolz auf unser Land/Hei-di-tschimmela, tschimmela-bumm!/Wir sind zwar keine Menschenfresser, doch wir küssen um so besser./Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien/Hei-di-tschimmela-bumm!“. — Datt fättzt, wa?

Mit viel Plan, schlechtem Layout und noch viel schlechterem Papier ging’s dann schnurstracks in die röhrenden Fünfziger. Halt, anfangs röhrte ja eigentlich nicht viel, sieht man mal von Cab Calloway oder Anita Bryant ab. Doch dann ging’s aus heiterem Himmel Schlag auf Schlag. Der erste traf mich im eiskalten November 1954, als Bill Haley mit „Dim, Dim The Lights“ in die Hitparaden düste. Das war natürlich sofort eine Titelstory wert, obwohl sich der Mann im Interview als ziemlich flacher Schmalzkopp entpuppte. Dafür aber machte im Juli ’55 ein vergnügter Brikettschädel namens Fats Domino das Rennen. Nicht nur, daß sein Song „Ain’t That A Shame“ eine Menge mehr Format hatte, der kleine Dicke hatte auch die besten Spielcasino-Tips auf Lager, die ich je bekommen habe.

Der ganz echte Wahnsinn aber kam im Jänner 1956, als ein völlig Verrückter mit dem Esperanto-Song „Tutti Frutti“ in den Charts auf- und abräumte. Der Mann hieß Richard Wayne Penniman, stammte aus Macon, Georgia, und nannte sich —- obwohl er der Größte war und immer noch ist -— Little Richard. Ich durfte den genialen Schreihals — meine allererste Auslandsstory — im heimischen Macon besuchen, und noch heute gerate ich in Verzückung, denke ich nur an die Hot Cakes von Mutter Leva Mae Penniman.

An der Heimatfront aber brach nun der Ärger aus. Plötzlich war von „angloamerikanischer Kulturbevormundung“ die Rede, und „Künstler“ wie Peter Kraus -— seine Evergreens wie „Kitty-Cat“ oder „Susi sagt es Gabi“ hievten ihn damals in den Olymp deutscher Tonsetzkunst —- und Peter Alexander -— wer hat nicht noch „Ich zähle täglich meine Sorgen“ im Ohr? -— beharrten darauf, via Manager versteht sich, sofort von ME/Sounds interviewt zu werden. Solches Ansinnen hat uns 1961 auch unser 25jähriges ziemlich vermiest, denn da verlangte doch ein Plattenfirmenfritze unbedingt eine Ray Conniff-Geschichte, weil dieser Weichspüler mit „Begin The Beguine“ auf Platz 50 lag. Platz 50 my ass!

Ich hab‘ diesen Scheiß noch bis 1964 mitmachen müssen. Damals „durfte“ ich auf Geheiß eines Interims-Chefredakteurs (dessen Namen ich hier besser verschweige) die „singende Nonne“ namens Soeur Sourire interviewen, die ein einfältiges Liedchen mit dem Titel „Dominique“ zur Gitarre geträllert hatte. Und das ich als Atheist! Doch als der Chef-Einfaltspinsel diesen singenden Pinguin in vollem Ornat auf dem Titel setzte und obendrein eine Story über Kaplan Alfred Flury („Ich will an Deiner Seite gehn“) androhte, kam es zur ME/Sounds-Palastrevolution.

Mit dem genialen Donald „Don“ Gockel, dem Vater des heutigen Chefredakteurs, nahm dann anno ’65 ein Mann das Heft in die Hand, der im wahrsten Sinne des Wortes Musikgeschichte schreiben sollte. Der große Durchblicker, der so zweifelhafte Acts wie Fred und Rolf („Wir lagen vor Madagaskar“) oder das Hellberg Duo („Rot ist die Liebe“) hatte kommen und gehen sehen, prophezeite angesichts dessen schon damals das Auftauchen von Modern Talking und warnte in endlosen Redaktionssitzungen davor. Und er weissagte auch völlig treffend, daß 1986 ein Jahr voller musikalischer Irritationen und Flops werden würde. Muß man mehr als Sick Sick Fucknick sagen?) Für meine Begriffe machte der große alte Mann nur einen gravierenden Fehler, als er nämlich Ende ’65 den genialen Drafi Deutscher („Marmor, Stein und Eisen bricht“) von der Titelseite verbannte, nur weil jener mal übermütig an den Kotflügeln seines goldenen Cadillac gepinkelt hatte. Aber der Don war halt ein Ästhet.

Der weitere ME/ Sounds-Werdegang ist ja nachlesbare Geschichte, darum erspart mir Details über etwaige Drogen- und Sex-Orgien mit den Beatles, Stones, Led Zeppelin etc. Laßt mich dafür sagen, daß mit dem heutigen Chefredakteur, der in Wuppertal zwar nicht mit Peter Brötzmann Saxophon, aber schon im Sandkasten gespielt hat, sowie seinem Adlatus Martin „Ex-Wiener-Sängerknaben“ Brem die Kontinuität musikjoumalistischer Höchst- und Glanzleistungen gesichert ist.

Dafür spricht auch, daß Harald In-Hülsen, ein ehemaliges Velvet Underground- und Stooges-Mitglied, seine Texte durch das überraschende Weglassen aller Schrägstriche lesbar gestaltet hat, und daß Steve Lake offensichtlich sein Trauma, mal mit Robert Fripp zusammengelebt zu haben, gänzlich überwunden hat.

50 Jahre ME/Sounds, 50 lange und ereignisreiche Jahre Musikgeschichte, von der nicht eine einzige Woche um- oder neu- geschrieben werden muß! Und obwohl er als Einziger schon so lange dabei ist, verspricht Euch einer auch weiterhin so ätzend zu bleiben und sich über Eure Schampus-Spenden zu freuen, nämlich Euer Doktor Gonzo