Aus der Musikexpress-Ausgabe Mai 1999: Star Wars – Episode I: Die Dunkle Bedrohung


Am 19. Mai läuft in den USA mit Star Wars: Episode 7 der am heißesten erwartete Film der Kinogeschichte an. Fans in aller Welt zählen die Stunden bis zum Tag X.

Kolby ist King. Der 24-Jährige Student aus dem kalifornischen Fullerton hat das Privileg, als erster die Pforten von Hollywoods kultigstem Filmtempel zu durchschreiten. Er darf sich unter den 3.000 Sitzen des Chinese Theater am Hollywood Boulevard den besten Platz wählen, um das zu erleben, was er mit der Glaubenskraft des wahren Fanatikers schon jetzt so beurteilt: „Das größte Ereignis des ausgehenden zweiten Jahrtausends.“ Kolby steht mit seinem Urteil nicht allein. Er ist nur zufällig der erste in einer langen Schlange, die sich Anfang Januar im Internet bildete und seitdem wächst und wächst und wächst. Hinter Kolby reihen sich etwa Lincoln aus dem australischen Melbourne, David aus Nebraska, Miguel aus Mexiko, Henrik aus Kopenhagen, Mark aus Kanada, lonathan aus Singapore, Terje aus Holland, Rafal aus Polen. Und Ahmed beschreibt seinen Wohnort in galaktischer Weitläufigkeit: „Irgendwo auf dem Planeten Erde“.

Diese virtuelle Schlange bildete sich auf der Website starwars/countingdown.com, wo eine Countdown-Uhr Sekunde um Sekunde dem Schicksalstag entgegenklickt. Am 19. Mai 1999 startet gleichzeitig auf 4.000 Leinwänden landesweit „Star Wars: Episode 1 – The Phantom Menace“, George Lucas‘ langerwartetes erstes Prequel („Vor-Fortsetzung“) zur bisher existierenden „Star Wars“-Trilogie. Der offizielle Auftakt findet aber schon zwei Wochen vor diesem geschichtsträchtigen Tag im Chinese Theater im Herzen von Hollywood statt, wo George Lucas vor über 20 Jahren die Premiere seines ersten „Star Wars“-Films, der vierten Episode innerhalb der Saga, miterlebte. Dann wird sich die Schlange aus Fans real bilden. Dann beginnt der Run auf „Episode 1“.

Die Fans kommen mit überirdischen Erwartungen. Genau das flößt George Lucas, dem visionären Vater des Sternen-Spektakels, Unbehagen ein: „Wird die Erwartung an einen Film übertrieben hochgepusht, kann die Begeisterung leicht ins Gegenteil umschlagen – in Ablehnung oder Enttäuschung.“ Deshalb legen Lucas und das Studio 20th Century Fox eine für Hollywood ungewöhnliche Zurückhaltung an den Tag. „Bei ‚Godzilla‘ etwa“, so der Fachjournalist Kirk Honeycut, „wurde alle Welt mit massiver Werbung STAR WARS bombardiert – das mußte geradezu zum Overkill fuhren: die Leute fühlen sich irgendwann eher angeödet als animiert.“ Das ist das Einzigartige an der ersten Episode der sechsteiligen Saga vom „Krieg der Sterne“: Noch nie in der Kinogeschichte hatte ein Film vor seinem Start weltweit einen derart hohen Bekanntheitsgrad, noch nie wurde ein Film von einer derart großen Zahl von potentiellen Kinogängem mit Spannung erwartet.

Ed Mintz, der wichtigste Marktforscher Hollywoods, mißt vor jedem Filmstart den Informationsstand der Zielgruppe und die Intensität ihrer Erwartung. „Dieser Film“, so schätzte er „Episode 1“, kurz EP1 genannt, schon vor Monaten ein, „käme auch ohne einen einzigen Werbedollar an die Spitze der Hitliste.“

Tatsächlich deutet noch Wochen vor dem Filmstart nichts Offizielles auf den Film hin, der – so das Wochenblatt „LA Weekly“ – „so abgehen wird, daß er mindestens eine 7 auf der Richterskala erreichen wird.“ Kein wandhohes Plakat am Sunset Strip, keine Ankündigung im Branchenblatt „Hollywood Reporter“, kein Werbespot in dem täglichen Show-Biz-TV-Magazin „Entertainment Tonight“. Ein anderthalbminütiger Film-Trailer, plaziert zu Anfang und Ende des Brad Pitt-Streifens „Rendezvous mit ]oe Black“ war zunächst das einzige Lebenszeichen von „Star Wars“. „Alle meine Freunde rannten ins Kino“, erzählt Tom Ketola, 22jähriger Programmierer im Silicon Valley, „wir brüllten wie die Wilden, als der Trailer kam. Dann gingen wir raus, warteten, bis der Brad Pitt-Langweiler vorbei war und sahen uns dann nochmal den Trailer an.“ Danach tauschte er – wie Millionen anderer Jedi-Iunkies in aller Welt – seine Kommentare mit Gleichgesinnten über das Internet aus. Schneller als der Millenium Falcon schoß der Vorschau-Spot durch den Cyberspace.

Das Internet – unendliche Weiten: Hunderte von Websites, Tausende von Chats, Millionen von E-Mails; als sei die „Macht“ tatsächlich am Werk, zündeten hier, im Privatuniversum der Star Wars-Enthusiasten – unabhängig und ungefiltert von der PR-Maschinerie Hollywoods – Funken der Begeisterung ein globales Lauffeuer. Die beiden Trailer – Anfang März brachte Lucasfilm noch einen zweiten, etwas längeren in die Kinos – kann man sich von der offiziellen Lucasfilm-Homepage auf seinen Rechner ziehen. „Über dreieinhalb Millionen Downloads in fünf Tagen“, begeistert sich Apple-Gründer Steve Jobs, „das hat es vor dem EPl-Teaser noch nie gegeben.“

ZU WELCHEM GRAD DIE RÜCKKEHR DER Saga das kollektive Bewußtsein durchdringt, wird deutlich, wenn sogar das erzkonservative „Wall Street Journal“ einen Bericht über das geplante US-Raketenabwehrsystem mit „Star Wars Returns“ überschreibt. Und über einem Rückblick auf die Anfänge des Systems in der Reagan-Administration prangt die Headline „Star Wars: Episode 1“.

Als Liam Neeson, der als Qui-Gonn Jinn eine zentrale Rolle in „The Phantom Menace“ spielt, zur diesjährigen Oscar-Feier erschien, wurde er von Publikum und Presse nach EP1 gelöchert. „Ich kenne 99 Prozent der Geheimnisse“, wehrte er sich, „aber ich kann leider nichts darüber sagen.“ Geheimhaltung ist für alle an „Star Wars“ Beteiligten erste Pflicht. Selbst Steven Spielberg geriet in die Woge des öffentlichen Interesses: Fans und Medien befragten ihn vor der Golden Globes-Verleihung nicht nur nach seinem Film „Der Soldat James Ryan“. Weil bekannt geworden war, daß er, ein langjähriger Freund von George Lucas, die neue „Star Wars“-Folge in voller Länge gesehen hatte, wurde er mit Fragen attackiert. Spielberg verriet nur soviel: „Als der Film zuende war, wünschte ich mir, er hätte noch ein paar Stunden länger gedauert.“ Einen längeren Einblick ins Auftakt-Kapitel der kosmischen Heldenmär wünschten sich auch die über 4.000 Kinobesitzer, die sich im März zur alljährlichen Messe ShoWest in Las Vegas einfanden. Mit seinem zweiten Trailer riß George Lucas die gewöhnlich kühlen Kinoprofis aus den Stühlen. Der zweieinhalbminütige Clip ist eine virtuos geschnittene, gnadenlose Attacke auf die Netzhaut: Röhrende Raumschiffe, Fechtballette, Natalie Portman als Königin Amidala, Regentin des Planeten Naboo und künftige Mutter von Leia und Luke Skywalker; kometenhaft flitzende X-Wing Fighters, der wabbelnde Jabba the Hutt, ein Millionenheer von Robotersoldaten, Ewan McGregor als junger Obi Wan Kenobi, Erzieher von Anakin Skywalker, dem späteren Darth Vader; der pfiffige R2D2 – Wüste, Weltraum, Wunderwaffen. Das ShoWest-Publikum war hingerissen.

Der donnernde Applaus galt vor allem George Lucas, der anschließend ans Mikrophon trat. Von ihm erwarten die Kinobesitzer einen Goldregen ähnlich wie die Sponsoren des Films: Pepsi hat mit Lucasfilm einen Merchandising-Deal über zwei Milliarden Dollar abgeschlossen. Für die Vermarktung der Figuren fährt Lucas eine weitere Milliarde ein.

Sein Gesicht ist eingerahmt von einem Salz-und-Pfeffer-Bart und ebensolchen Locken. Hier im fahlen Saallicht des Event Centers im Bally Hotelcasino wirkt Lucas, der im Startmonat Mai seinen 55. Geburtstag feiert, weise und entrückt. Bis er anfängt zu sprechen: Mit der gedämpften Autorität des Veteranen und der Begeisterung des Pioniers beschreibt er die Zukunft des Filmemachens: „Schon jetzt liefen 95 Prozent dieses Films auch durch den Computer“, sagte er. „Meine nächsten Filme werde ich komplett digital drehen.“ Was die Theaterbesitzer besonders aufhorchen ließ, war Lucas‘ Ankündigung, er wolle bereits EP1 in fünf Kinos digital projezieren. Wenn im Jahr 2002 Episode 2 und – wie angekündigt – im lahr 2006 Episode 3 in die Kinos kommen, werden diese vollständig digital sein.

Der Vorstoß in die digitale Zukunft, verbunden mit einer action-geladenen Mythologie – das macht Lucas so attraktiv für die junge Generation von Filmfans. Insbesondere, weil der Mythos der Saga Werte betont, die gewöhnlich unter politischem Zynismus, sozialer Unverbindlichkeit und modischer Coolness verschüttet liegen, glaubt der Psychologe L. Kaplan aus Beverly Hills: „Wo sonst findet sich Gut und Böse so klar getrennt? In welchem Zusammenhang sonst ist es möglich, von Ehre, Loyalität, Idealismus und Ritterlichkeit zu sprechen, ohne Schrei- oder Lachkrämpfe auszulösen?“

„Was mich immer wieder überrascht“, so George Lucas, „ist die Tatsache, daß die Mythologie von ‚Star Wars‘ in allen Kulturkreisen Akzeptanz findet.“ Er zitiert Engländer, die Anklänge an die König Arthus-Sage feststellen, Skandinavier, die darin eine moderne Form des Heldenepos Edda sehen. Asiaten, die sich ähnlich intensiv auf die Premiere vorbereiten wie Fans der westlichen Hemisphäre, finden gar buddhistische Anklänge. Was Grimms Märchen für seine Großeltern und Western für seine Eltern waren, das sei „Star Wars“ für seine Generation, findet Tom Ketola. Entsprechend unbescheiden fällt denn auch sein Vorschlag aus: „Der 19. Mai sollte zum Nationalfeiertag erklärt werden.“