Kritik

„Away“ (Staffel 1) bei Netflix: Sci-Fi mit Kurs auf galaktische Gefühlswelten


Oscar-Preisträgerin Hilary Swank trifft in Netflix' neuer Sci-Fi-Serie nicht auf Aliens, sondern Abschiedsgefühle. Das Ergebnis hat weniger mit „Interstellar“, dafür umso mehr mit großem Drama zu tun.

Erst zögerlich, dann mit voller Entzückung erklingt Elton Johns Klassiker „Rocket Man“ auf der Bühne einer kleinen Karaokebar. Eine Frau singt ins Mikrofon: „Ich bin nur ein Astronaut, dem hier oben vor lauter Einsamkeit die Sicherung durchbrennt.“ Von der Seite wird sie schüchtern angestrahlt. Es sind Rückblenden wie diese, die der Serie geben, was sie will: Dramatik. Denn es ist Lus Blick, der auf der singenden Frau liegt. Ein Blick in die Vergangenheit.

Mittlerweile ist sie wirklich eine Astronautin, eine „Rocket Women“, kilometerweit weg von der Erde. Zusammen mit Emma (USA), Misha (Russland), Kwesi (England) und Ram (Indien) ist Lu (China) auf der ersten bemannten Mission zum Mars. Eine Expedition, die nicht nur gefährlich und langwierig erscheint, sondern vor allem emotional. Doch zurück auf Anfang. Auf die Erde.

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An Bord: Emotionaler Ballast

Im einem Augenblick gibt Emma (gespielt von Hilary Swank) ihrer Tochter noch Tipps für das nächste Fußballspiel, im nächsten beantwortet sie als Kommandantin dieser historischen Mission auf einer letzten Pressekonferenz die Fragen der Journalist*innen.

Neben ihr sitzen ihre internationalen Teamkolleg*innen, die erste Einblicke in ihre auffallend unterschiedlichen Charakterzüge geben. So spricht die Chemikerin Lu (Vivian Wu) kein Wort, während Kwesi (Ato Essandoh) herumalbert und der grimmige Misha (Mark Ivanier) selbstbewusst auf unbequeme Fragen eingeht.

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Emmas Blick sucht immer wieder ihre Familie. Tochter Alexis (Talitha Bateman) straht ihr, sichtbar stolz, entgegen. Ehemann Matt (Josh Charles) hingegen ist bedrückt. Auch er war Teil der Ausbildungscrew, musste jedoch früh den Traum vom All aufgeben, da er kurz nach Alexis‘ Geburt durch den Tauglichkeitstest fiel. Als Ingenieur war er nur am Bau der Rakete beteiligt, die seine Frau zu internationalem Ruhm führen wird.

Bald wird Emma bewusst, dass es neben aufwendiger Reparaturen von Solarpanels und dem Verhindern einer Virusausbreitung an Bord noch andere Dinge zu regeln gilt, die für die Mission ebenfalls gefährlich werden könnten: Emotionen und Befindlichkeiten. Davon gibt es eine ganze Menge – sowohl innerhalb der Crew, als auch bei denen, die zurückbleiben.

Keine Explosionen, dafür Gefühlsausbrüche

Die in Kanada gedrehte Netflix-Serie wurde unter anderem von den Regisseuren Jason Katims („About a Boy“), Matt Reeves („Planet der Affen: Revolution”) und Ed Zwick („Last Samurai”) inszeniert. Die Idee für die Serie hatte Andrew Hinderaker, der sich von einer Geschichte des US-Magazins „Esquire“ inspirieren ließ. Darin beschreibt der Autor Chris Jones eine fiktive Marsexpedition und die Schwierigkeiten an Bord während der Reise. Wahrscheinlich sind deshalb weder intergalaktische Wesen zu sehen, noch Sternenkriege zu gewinnen.

Abenteuerlich sind einzig die Gefühlswelten der einzelnen Crewmitglieder, zusammengepfercht auf ein paar Quadratmeter einer geschlossenen Blechdose, mitten im All. Niemals verliert die Serie diesen Fokus, keine Explosionen oder herausfordernde Erkundungsmissionen, die ablenken. Für die Zuschauer*innen gibt es kein „Interstellar“-Kopfrauschen, dafür umso mehr Anspannung.

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Um Spaß an der Serie zu haben, muss einem daher auch das Drama liegen. Science-Fiction ist lediglich das Setting, das den Rahmen der Geschichte vorgibt. Jeder Sci-Fi-Anklang schlägt bloß Brücken zu persönlichen Einblicken in das Leben der fünf Raumfahrer*innen, zwischen denen sich bald ein diffuses Netz aus Rivalität und Zusammenhalt spinnt.

Schauspielerinnen wie Hillary Swank, die bisher zwei Oscars als beste Hauptdarstellerin für ihre Rollen in „One Million Dollar Baby“ und „Boys Don’t Cry“ bekam, oder auch Vivian Vu (bekannt aus „Der letzte Kaiser“), tragen dazu bei, dass diese Widersprüche glaubhaft vermittelt werden.

Stimmung am Boden

Bei allem Drama werden auch die Befindlichkeiten von Emmas Familie nicht aus dem Blick gelassen:  Tochter Alexis hat im Laufe der Staffel vor allem mit den vertrauten Problemen einer heranwachsenden Frau zu kämpfen, nicht vorwiegend damit, dass sich ihre Mutter als Astronautin auf einer dreijährige Mission befindet. Ehemann Matt erleidet wiederum einen Herzinfarkt und hat nun eine komplizierte Reha vor sich.

In „Away“ müssen also alle Figuren an sich und über sich hinauswachsen – egal ob im Weltall, oder auf der Erde. Die Stränge bleiben kurzweilig, statt mit langen Weltraumspaziergängen und kosmischer Stille à la „Gravity“ zu übertreiben. Sie ist dann still, wenn sie still sein muss und nur laut, wenn das gefühlvolle Getöse auch wirklich bis auf die Couch reicht.

Die erste Staffel von „Away“ mit Hilary Swank und Josh Charles ist am 04. September 2020 bei Netflix gestartet. Sie umfasst 10 Folgen, die jeweils 60 Minuten lang sind. Eine zweite Staffel ist noch nicht bestätigt.

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