Berlin


Der Stellenwert, den Berlin mittlerweile für die internationale Musik-Szene besitzt, reizte uns, die Reihe der herkömmlichen Special Stories einmal zu unterbrechen.In dieser Ausgabe geht es zur Abwechslung also einmal um eine Stadt. Ein Wohnsitz in Berlin gilt schon seit Jahren in New Yorker Künstlerkreisen als bizarres Prestigeobjekt. Lou Reed schrieb bereits 1972 eine "black comedy" mit dem Titel "Berlin", ohne bis dahin jemals in Berlin gewesen zu sein. David Bowie aber lebte wirklich hier und produzierte "Low" und "Heroes", jene Klangbilder, die in Anlehnung an Brian Enos Muzak-Experimente in den Hansa-Studios entstanden. Iggy Pop wohnt heute in Berlin und arbeitete mit David Bowie den Konstrukteurs-Alptraum "The Idiot" und das Rock'n' i Roll-Werk "Lust For Life" aus. Der englischen Punk-Band, The Vibrators, gefiel die Stadt während ihres ersten Besuchs so gut, daß sie für drei Monate "Berliner" wurden. Harald Inhülsen und Mechthild Hoppe gingen den Reizen dieser merkwürdigen Stadt zwischen Trostlosigkeit und Flitter nach.

Der Stellenwert, den Berlin mittlerweile für die internationale Musik-Szene besitzt, reizte uns, die Reihe der herkömmlichen Special Stories einmal zu unterbrechen.

Wir sitzen in den Räumen der Propaganda Productions, Stauffenherestraßfi Prnnasanda in der Stauffenbergstraße? Mit Blick auf die Exekutionsstätte des Hitlergegners. Das Stauffenberg- Denkmal, verloren im Innenhof. Das ideale Environment für einen David Bowie… So, das reicht aber jetzt ! Die Beschreibung dieser Szenerie soll all jenen überlassen werden, die auf Touristen-Trip sind…

Wolf Moser alias Azzurra lebt seit einem Jahr hier und macht Propaganda. „Propaganda“ ist der Name einer Kulturzeitschrift, die noch im Entstehen ist. Azzurra malt auch, und er hat die englische Punkband, The Vibrators, nach Berlin geholt (er war ihr deutscher Manager und ist weiterhin ihr Freund). „Die Stadt ist für mich zum Arbeiten ideal, inspiriert mich… weil hier unheimlich viel ‚rüberr kommt, wenn man visuell arbeitet“, sagt er. „Was andere Leute abschreckt, das inspiriert mich; so wie dieses Wetter heute, und die kaputten Häuser draußen.“ Es ist 13.13 Uhr, und du siehst keine Sonne; Nebel und Regen geben dir das Gefühl von 5 Uhr früh. Azzurra: „Es geht eigentlich immer mehr bergab mit dem Niveau der Stadt, obwohl immer mehr Kultur ‚reingepumpt wird. Das kannst du auf dem Kiez sehen, da ist überhaupt kein Niveau mehr in der Unterhaltung.“ Letzter Schrei: die Peep-Show (Gucklochshow), jene .Bestattungsunternehmen der Sinnlichkeit‘, wo sich für 1 Mark eine Minute lang ein kleines Loch zu einer Kabine mit einer Stripperin öffnet. Frauen, präsentiert wie im Zoo. „Was mich fasziniert hat“, meint Azzurra, „ist, daß die Subkultur in dieser Stadt in drei Ebenen gegliedert ist, während in Hamburg z.B. alles auf einen Punkt, eine Kneipe, konzentriert ist. Hier hat so jede Etage in der Subkultur ihr Millieu. Die Creme trifft sich im „Exil“ (Paul-Lincke-Ufer, Kreuzberg) und im „Ax Pax“, dem Laden des österreichischen Dichters Oswald Wiener in der Nähe des Ku’damms, dazu gehören Leute wie Bowie, Edgar FroeBariin by the wall und by Nacht: links sin stinknormales Propaganda-Foto vom Ku’damm, in der Mitte rechts die Subkultur Kneipe „Anderes Ufer“, Mitte unten der Transvastit Sarge de Paris und links unten ein Ausschnitt aus der Roomy Haag-Show.

se, und die Leute um die „Fabrikneu“ („Fabrikneu“ entwirft extravagante Mode, die bis nach New York verkauft wird), die unterste Etage verkehrt im „Dschungel“ (Winterfeldstr.. Schöneberg), und ins „Tols De Franz“ (Ku’damm/Brandenburger Straße) gucken alle mal zum Vergnügen ‚rein; trotzdem: diese drei Ebenen sind hermetisch gegeneinander abgeschirmt. Die Creme hat kaum Kontakt zu anderen Leuten, sucht ihn auch nicht, während die von unten immer ganz gern Kontakt zu denen da oben wollen.“ Ihr da oben, wir da unten!

„In Berlin by the Wall You were 5 foot ten inches fall It was very nice Candlelight and Dubonnet on ice We were in a small cafe You could hear the guitars play It was very nice Oh, honey it was paradise.“

(Berlin, LouReed, 1972) „Das ist mir alles eigentlich durch den Auftritt der Vibrators auf der Modeveranstaltung der Fabrikneu klargeworden,“ erklärt Azzurra. „Da war plötzlich ein ganz arideres Publikum. Kaum jemand aus der anderen Szene, die vorher die Vibrators gesehen hat, sondern Leute aus Paris und New York, die denken, sie hätten so’n Riecher für das, was Avantgardismus ist.“

Die Vibrators wurden also salonfähig gemacht. Dabei hatte alles ganz anders angefangen. Ihr erster Berlin-Auftritt fand Anfang ’77 im Kant-Kino statt.Azzurra: „Da war das normale Rock-Publikum versammelt. Und dieRocker. Ihretwegen gab s dann auch Theater; sie tanzten auf der Bühne und machten mit den Scheinwerfern ‚rum; es wurde jedenfalls ziemlich eng. Die Presse war sauer… Als die Vibrators-Platte ‚rauskam, sah das schon ganz anders aus. Da gab’s auch schon die ersten Punks hier. Leute, die von ihrem Londonurlaub Klamotten mitgebracht hatten.“ Burkhards Laden(einer der Punk- – bitte was? — Mode verkauft) hat die Welle ebenfalls unterstützt. Aus welcher sozialen Schicht kommt nun das Publikum? Azzurra: „Die ganze Sache wurde hier über die Mode gesteuert.“ Also Mode-Punks? „Die Mehrzahl ja! Es waren halt die Sub-Kultur und die Schwulenszene, die sich zuerst darauf stürzten. Die Schwulensubkultur, die hier unheimlich breit ist, hat es sofort akzeptiert, eigentlich alles Leute, die sowieso immer dabei sind, die die Szene ausmachen.

Ein Hinterhof, 30 Sekunden über der Dunkelzone

Aus der sozialen Schicht, die in England tragend für die Punk-Bewegung ist, findest du kaum jemanden dazwischen.“ Die neue Musik und die neue Mode seien das Entscheidende gewesen, erklärt Azzurra; ..über die Texte wurde nichts bewegt.“ Azzurra ist inzwischen aus dem Vibrators-Management ausgestiegen. Er wollte nicht länger Zuträger für ein „derartig vergnügungssüchtiges Schickeria-Publikum“ zu sein. Von nun an will er die Erwartungshaltungen enttäuschen. Azzurra taucht unter.

Lützowstraße 3, Hinterhof, Keller, 30 Sekunden über der Dunkel-Zone. Ein feuchter Keller, darüber Fabriketagen. Vibrators-Plakate, PVC und“.Punk in Berlin“ an die Wände gespritzt, und immer wieder die Nässe und die Kälte. Dies ist nicht die Wohnung von Iggy Pop. Auch nicht das Peter Lorenz-Versteck. Hierbei handelt es sich um den Übungsraum (oder besser: das Übungsgelände) der Berliner Rock’n’Roll- (oder Punk-, wie’s gefällt) Band PVC. Auch die Vibrators wagten sich da rein, um zu proben. Um die nächste Straßenecke stehen die, die jede Modewelle überleben und doch so brutal Ausdruck einer kaputten Gesellschaft sind: die Prostituierten der Potsdamer Straße. PVC – es gibt kaum eine Wand in Berlin, die nicht mit diesen Buchstaben verziert ist: U-Bahn-Schächte, Bushaltestellen (hier ist man seitens der Berliner-Verkehrs-Gesellschaft, sprich BVG, dazu übergegangen, die Buchstaben für die Eigenwerbung zu nutzen aus PVC mach BVG), Häuserruinen und die Mauer (ja die!).

,, 1984 is not far away/ And if you dort ‚t watch out/ You gonna have to payj Programmed into a Computer/ This is gonna be your futurej Watched by night and day/ No escape from police regulations/ No escape from government legislations/ No escape from mental demolition/ No escape for the anarchist/ No escape for the atheist/ No escape for the communist/ So get up and fight/ Cause you know we are standing by your side/ If you wanna change the futurej Gotta change the present now. „

(„No Escape“, PVC, 19 77) Ohne Rücksicht auf soziale Schichten räumt PVC auf mit all diesem soften Zeug, was uns lange genug die Ohren (und Augen) zukleisterte. Ihr schneller, harter Rock’n Roll, der häßlich-aggressive Gesang und die Texte beweisen auch einem Mr. Bowie, daß man Worte und Musik finden kann, um ein Stück Wirklichkeit in Deutschland zu beschreiben (Bowie über Seite 2 von „Low“: „Ich wollte die Atmosphäre ausdrücken, die ich in Polen, Westdeutschland und Rußland gespürt habe und für die ich keine Worte finden konnte.“). Leider fehlt der Gruppe die Möglichkeit, häufiger aufzutreten; außer dem Kant-Kino und dem Punk-House (welch peinlicher Name für eine Disco in Berlin!.‘) wagt sich niemand an die Band ran. Du findest aber jede Menge Folk-Clubs (das muß wohl an den Studenten liegen), in denen du bei Wein, Weib und „reinem“ Gitarrenspiel von der Sonne in Griechenland träumst oder das Meer in der Blumenvase siehst. Knut, Bassist und Sänger der Gruppe, hat dennoch große Pläne, was den Bühenauftritt betrifft: „Im Hintergrund soll ein riesiges Schwarzweiß-Foto vom zerbombten Berlin hängen, zwischen Publikum und Bühne wird ein Stacheldrahtverhau ausgerollt. Verstärker und Boxen sind mit schwarzer Plastikfolie verpackt, die Gruppe ist ganz schwarz gekleidet. Nur weißes Licht. Wir kommen mit schwarzen Doggen auf die Bühne.“ Black out. David, hast du zugehört?!

Ein Transvestit an der Seite von Bowie und Udo

Berlin, Kino-Stadt. Filme. 312 verschiedene Filme in 14 Tagen. Du kannst dir also gut 22 Filme pro Tag/Nacht ansehen. Arsenal, Cinema, Colonna, Filmkunst 66, Kant-Kino, Notausgang (um nur einige Kinos zu nennen) sind Programmkinos, bieten Filmkunst. OFF-Kudamm Kinos. Sie zeigen Filme, die du in den kommerziellen Kinos nicht zu sehen kriegst, weil sie nicht das große Geld versprechen; in dieser Woche zum Beispiel eine Retrospektive des japanischen Klassikers „Akira Kurosawa“ („Die sieben Samurai“): zehn Filme. Das Kant-Kino macht gleichzeitig Live-Programme: Musik und Theater. Es ist in Berlin mit seinen knapp 600 Sitzplätzen der einzige (größere) Veranstaltungsort an dem Punk-Rocker auf die Bühne dürfen.

Berlin, Stadt der Transvestiten. Der bekannteste unter den Paradiesvögeln dürfte wohl Romy Haag sein. Romy schillerte privat an der Seite David Bowies und in Udo Lindenbergs Show. Ihren Künstlernamen ,,Haag“ leitete sie aus ihrem Geburtsort Den Haag ab, wo sie einst als Franz Eduard Verbaarschoot geboren wurde. Bevor sie vor vier Jahren nach Berlin kam, hielt sie sich (noch als Junge, wie man sagt) in Hamburg auf und trat danach zusammen mit dem schönen „Serge de Paris“ im legendären Pariser Transvestitenclub Aikazaar auf. In Berlin arbeitete Romy zunächst im ,,Chez Nous“, Berlin ältestem Transvestiten-Club. Das Chez Nous existiert seit circa 20 Jahren, und die Mehrzahl der Darsteller ist von Anfang an dabei. Die Kostüme sind ungeheuer aufwendig, und die Atmosphäre so, „wie sich ein Berliner Paris vorstellt“ (Serge).

In Berlin trafen sich Serge und Romy wieder und arbeiteten zunächst gemeinsam an einer Show. Doch dann gab es Ärger, und die beiden gingen getrennte Wege. Romy besitzt mittlerweile einen eigenen Nachtclub in der Fuggerstraße/Ecke Welser Straße: „Romy Haag“. Ihre Transvestitenshow ist eine Mischung aus Parodie, Komik und Theater und spult wie die meisten Shows dieser Art nach Playback ab. Mittlerweile ist der Laden zu einer Touristenattraktion geworden und speziell an Wochenden total überlaufen. Romy ist übrigens verheiratet. Ihr Ehemann ist der Berliner Filmemacher Robert Ackeren (Harlis), der sie in seinem jüngsten Film „Belcanto — oder darf eine Nutte schluchzen“ auf die Leinwand brachte.

Serge Dymenstein alias Serge de Paris hat, so gibt er an, bereits zehn Jahre klassisches Ballett hinter sich. Er war unlängst in einer Sendung des dritten Fernsehprogramms in der Nordkette zum Thema Strichjungen zu bewundern — in seiner Rolle als Show-Transvestit. AtDgeschminkt, im lila-grünen Morgenmantel, sitzt er uns gegenüber.

Die Leute in Berlin haben Lust, zu explodieren

Nach einer eigenen Show im Berliner „Roxy“ tritt er jetzt bei Madame Arthur auf, einem Mischmasch aus Striplokal, ZDF-Hitparaden-Atmosphäre und Transvestitenclub. Hier präsentiert er im ersten Teil zu Vollplayback (Songs aus dem gleichnamigen Musical) die „Rocky Horror Show“ und posiert danach zu Brecht-Songs, die ebenfalls vom Band kommen. Serge (mit französischem Akzent): „Reines Geldverdienen! Ich versuche, eine eigene Show aufzubauen, und eine Schallplatte zu machen. Ich möchte die ganze Transvestitenszene in die kommerzielle Branche bringen. Du weißt, wir sind Menschen, die zu einer Minorität gehören: entweder die Leute lachen über uns, oder sie akzeptieren uns, wenn wir so auf toll, spitze Federn, machen! Als Mensch, so wie ich bin, gibt es Schwierigkeiten. Und das möchte ich gern mit Chansons bringen.

Berlin ist für mich sehr interessant und wichtig. OK, damals war ich nicht da, ich weiß nicht, wie das war, aber es war wirklich die Stadt für das Cabaret. Alles,was zum Cabaret gehört, ist in Berlin geboren. Ich finde, jetzt ist der richtige Moment, denn das kommt alles wieder. Weil Berlin eine Insel ist, wo alles geschlossen ist. Und die Leute haben wirklich Lust, zu explodieren. Wenn du in Hamburg bist, oder irgendwo, kannst du dein Auto nehmen und zwei Tage fahren, auf die Wiese gehen und mäh mäh, ich weiß nicht was. In Berlin: Wenn du rausgehen willst, gibt es entweder das Theater oder die ,Szene‘ oder die Bühne. Und das gefällt mir! Das ist unheimlich kreativ! Es zwingt einen dazu, du mußt! In Berlin gibt es so viele dufte junge Leute, international, die amerikanische Clique, die französische, die indonesische. Jeder bringt eine Demonstration seiner Folklore; anstatt zu reisen hier und da und da, hast du alles zu Hause! Man hat auch die Möglichkeit, hier was zu machen. Die Leute sind unheimlich tolerant, uns gegenüber!“ Die Berliner offener, liberaler? Serge: „Die alten Leute sind so fantastisch.

Tag und Nacht Action im Soft Rock-Cafe

Wenn du in eine normale Bierkneipe gehst, nachmittags, dann fangen sie sofort an zu reden und zu erzählen, wie’s früher war. Die haben alle die Erfahrungen vom Nachtleben. In Berlin lebst du auch nachts ziemlich lang; du kannst 24 Stunden durchmachen. Für uns ist das eine riesige Spannung!“

24 Stunden action bietet zum Beispiel das Berliner Soft Rock-Cafe. Hier treffen sich gegen Morgen die Transvestiten nach ihren Shows. Es gibt für jeden etwas: Man kann flippern, in der Discothek tanzen oder in einer ruhigen Ecke gemütlich einen Kaffee oder Tee trinken. Dort in der Dahlmannstraße im Stadtteil Charlottenburg trifft sich alles vom Späthippie bis hin zum Mode-Punk. Einer von ihnen ist Jackie (nach eigenen Angaben Schauspielschüler), der die Haarfarbe öfter wechselt als andere Leute die Unterwäsche und zeitweise von einer Karriere als Punk-Sänger träumte. Beim Vorsingen bei PVC war er allerdings nicht in Form. Zur Zeit kellnert Jackie-Darling im Soft Rock Cafe. Er gehört zweifellos zu den Originalen der Szene und ist für Publicity-Gags immer bereit. So war er sich nicht zu schade, Iggy Pop während des Konzerts die Hosenbeine abzulecken.

Iggy ist wieder da. Mit einem Abwaschtisch, einem Feuerherd und einer Duschkabine

Apropos Iggy: Iggy Pop is back in town. Seine Welttournee ist beendet. Jetzt sitzt er in seiner Wohnung, zeigt uns stolz die neuesten Errungenschaften: einen klassischen deutschen Abwaschtisch, einen Feuerherd und eine Duschkabine, installiert in einer winzigen Abstellkammer. Ein altes Klavier, darauf ein Porträt von Iggy Pop in einer Schneelandschaft, gemalt von David Bowie. Aus der Ferne erinnert das Bild an die „Art Brut“, jene Kunst der Geisteskranken. Iggy spielt ein bißchen auf dem Klavier, ein paar Takte aus dem Lou Reed-Song „Berlin“, hockt sich auf den Teppich und spielt uns auf einer E-Gitarre die Grundakkorde der Stooges-Klassiker ,,I Wanna Be Your Dog“, „Search & Destroy“, „No Fun“ und ,,I Got A Right“ vor: „Die habe ich alle geschrieben. Asheton und Williamson haben nur ergänzt!“ Sein nächstes Album ist in Arbeit. Iggy möchte in kleinen Clubs in Deutschland auftreten: „So vier Nächte in Düsseldorf.“

„Was mir an Berlin gefällt ist, daß mich niemand beachtet, außer, wenn ich mit ihm sprechen möchte oder ihn kenne… oder wenn ich ‚rausgehe, um mir nachts einen anzusaufen. So habe ich Gelegenheit, zu denken; ’ne Sache, die ich so in den Staaten nicht erreichen konnte. Berlin ist der einzige Platz, den ich gefunden habe, der hektischer ist als New York.

New York ist wahnsinnig hektisch… hey! Give me money.. und so; Berlin ist fast genauso, sehr direkt, weißt du, wenn ich nicht sofort meine fünf Deutschmark draußen habe für meine drei Zeitungen, geht’s: quick! quick!… Es hält dich auf Trab! Wenn ich so morgens aufwache, denke ich: Hey, was mach‘ ich heute, statt lange rumzurätseln. Hier ist action! Action in the city! Und wenn ich so zwei oder drei Stunden ‚rumgehe und die action gefunden habe, dann fühl ich mich OK! Deshalb ist auch mein letztes Album so ,active‘. Es ist ein verdammt guter Platz zum Arbeiten; die Studios sind viel billiger und viel besser, und das alles beeinflußtdich. Denn wenn du irgendwo arbeitest, wo’s so teuer, so stinkig ist, dann verhältst du dich auch selbst so widerlich!“

Bowie braucht extreme Situationen, um gute Stücke schreiben zu können

Zitat: „Für micht geht von Berlin eine eigenartige Spannung aus!“ Frage: Gibt Dir die Arbeit in einem Studio, das direkt an der Mauer liegt, das Gefühl, am Rande einer Sache zu stehen? „Genau das ist es! Ich habe gemerkt, daß ich mich immer in extreme Situationen begeben muß, um irgendwas Gutes schreiben zu können.“ David Bowie hat gesprochen. Sein wiederholt geäußertes Interesse an dem „Medien-Star“ Hitler und der Faschismus-Erscheinung mögen auch sein Interesse an der Stadt Berlin beeinflußt haben. Eine Erklärung für Bowies-Sympathie ist aber sicherlich in seiner persönlichen Entwicklung zu suchen: seiner Abwendung von der amerikanischen Rock-Kultur zum europäischen Kulturgeschehen (Eurock, Kraftwerk, T.Dream, elektronische Musik und Film), dokumentiert durch die LP’s „Low“ und „Heroes . Ihn fasziniert die Möglichkeit, „mich selbstkritisch zu betrachten, dich mit Leuten zu umgeben, die dich nicht verstehen, dich an einem Ort niederzulassen, den du gar nicht magst!“ Seine Berliner Wohnung lag in einem Türkenviertel.

In der Wüste aus Stahl und Glas verdursten die Menschen _____

Berlin strahlt sicherlich eine eigenartige Atmosphäre aus: Viele Kneipen und „Tante Emma-Läden“ in jedem Bezirk, wo du mit den Leuten leicht ins Gespräch kommst. 24 Stunden die Möglichkeit haben, in Kneipen, Discotheken oder Clubs zu gehen. Große, breite Strassenzüge. Riesige, sich unheimlich in die Höhe erstreckende Gebäudefronten – Produkte aus dem Dritten Reich, die aus der Metropolis-Architektur entsprungen sein könnten. Perfekte Kulisse für „Neukölln“ und „Moss Garden“ (zwei Titel der jüngsten Bowie-LP), wenn du in der entsprechenden Stimmung bist. Berlin – das ist aber auch: städtische Verdammung in den Stahl- und Glaswüsten des Märkischen Viertels und Neuköllns; Ton Steine Scherben – ehemalige Berliner Rockband – liefern für dieses Stadtbild den Soundtrack. Oder der Bezirk Kreuzberg: Arbeiterviertel und „Heimat“ unzähliger Türken und Griechen, die hier zum Teil illegal im Zille-Milieu ihr Dasein ertragen müssen. Sagte doch neulich eine Amerikanerin, die in Berlin lebt und in der „Creme“ verkehrt: „Ich gäbe was drum, um in Kreuzberg eine Wohnung zu haben, mit Blick auf die Mauer. Kreuzberg ist toll!“ Man sollte sie einmauern. In Neukölln kannst du aus den Betonkäfigen heraus direkt auf die Mauer blicken. Es fällt dir jedoch schwer, dabei einen Mr. Bowie zu verstehen. Den Song „Durch die Wüste“ von Ton Steine Scherben schon eher, weil darin das Stadtleben – nicht nur Berlins — beschrieben wird, wie wir es jeden Tag selbst erleben:

,,Ich komm aus der Wüste aus Stahl und aus Glas/ Ich komm aus der Wüste aus A ngst und Haß/ Wo die Menschen verdursten auf der Suche nach Liebe/ …Ich komm aus dem Land der vergifteten Straßen/ Wo man den Tag verkaufen muß, um sorglos zu schlafen/ Wo das Leben schneller ist als ein Herz schlagen kann.“