Popkolumne, Folge 207

Bodyshaming, Ricarda Lang und der (gar nicht so feine) Unterschied zwischen Kritik und toxischer Vollscheiße


Toxische Trolle und Bodyshaming: Unser Autor Linus Volkmann traute seinen Augen nicht, was auf Twitter aus einem Musik-Interview mit der Grünen-Politikerin Ricarda Lang erwuchs. Die Popkolumne am Rande des Nervenzusammenbruchs – und nicht ohne Gutmenschen-Bekenntnis (und ein paar Tape-Empfehlungen).

Was früher von eher singulären Medien wie dem Magazin Titanic oder dem „guten“ alten Kabarett übernommen wurde, gehört heute ausnahmslos uns allen. Danke Spaßgesellschaft, danke Satire-Boom! Durch diese Demokratisierung von Fun wird in weitreichenden Posts, lustigen Tweets und Memes jeden Tag aufs Neue klar gemacht, dass ausnahmslos jede Person, die ein politisches Amt bekleidet, eigentlich ein lächerliches Würstchen darstellt. Und dass sie auf jeden Fall alles falsch macht.

Nicht nur die vielen „offiziellen“ Satiriker von Böhmermann bis Xtra3 führen diese Form von Outing in ihrer Job-Beschreibung, auch unzählige Clown-Accounts von nebenan nehmen sich der Sache an: Politiker*innen sind Hirnis, die ausschließlich daneben liegen. Niemand mit einem Amt oberhalb des Hausmeisters im Parlament bleibt von diesen durchlaufenden „Enthüllungen“ verschont. Witz und Häme für die Politik – das ist längst Internet-Folklore für uns geworden. Und wie Humor so ist, manchmal ist das unterhaltsam, manchmal ist das unangenehm.

Ich persönlich finde die dahinter stehende Grundannahme, dass jede*r, der oder die Entscheidungen für mehr als sich selbst trifft, ein umgehend zu entlarvender Vollpfosten sei, einigermaßen bedrückend. Heißt das doch nichts anderes, als dass auch Demokratie beziehungsweise das Delegieren der Gewalt des Volkes an gewählte Vertreter*innen eigentlich eine Farce darstellt. Doch aufgrund einer Punksozialisation und einem verinnerlichten Misstrauen gegenüber Autoritäten wäre ich sicher nicht der Richtige, der eine Lanze bricht für all die reflexhaft verächtlich gemachten Politakteur*innen.

Ich habe allerdings bemerken müssen, wie schnell aus dieser graswurzeligen Comedykultur toxischer Stuhl werden kann. Und zwar vor allem wenn es um (jüngere) Frauen im Politbetrieb geht.

Den übergriffigen, aber immer auch mal sprühend gottlosen Podcast des ehemaligen VIVA2-Dudes Niels Ruf kann ich mir beispielsweise schon seit geraumer Zeit nicht mehr geben. Denn er hat – wie viele Neurechte oder anderswo Hängengebliebene – Ricarda Lang (die Bundesvorsitzende der Grünen) als Zielscheibe entdeckt. In sich zwanghaft wiederholenden Tourette-Phantasmen geht es vornehmlich darum, Lang sei zu dick. Nicht fuckable und trotzdem im Amt? Für Ruf und eine smegma-lastige Community ein Unding. Auch in seiner Neujahrs-Liveshow mit Nina Queer wird der mäßig als Witz getarnte Hate wieder aufgeführt. Dass Bodyshaming keine Grundlage für irgendeine zurechnungsfähige Satire-Imitation darstellt, dessen ist sich natürlich auch der mediengestählte Ruf bewusst – und bietet daher gern einen Take an, der seinen konzertierten Mobberkram rechtfertigen soll – und den er sichtbar für wahnsinnig schlau hält.


Na, dann möchte ich ihn auch hier niemandem vorenthalten: Also Ricarda Lang dürfe man auf jeden Fall bodyshamen, denn in den 90ern habe das Magazin „Titanic“ bei seinen Kohlwitzen sich mitunter auch mal auf dessen Körper bezogen. Die 1994 geborene Lang dafür nun verantwortlich machen zu wollen, weil man Satire und Die Grünen gleich setzt (alles links-versifft nämlich, Wendler würde ihm recht geben), ist auf jeden Fall die größere Pointe als die allermeisten Jokes, die der Veteran des Provo-TVs in der Jetztzeit zu bieten hat.

Dass diese Ressentiments allerdings auf furchtbaren Boden fallen, konnte ich miterleben, als Ricarda Lang das „Blind Date des Jahres 2022“, das ich mit ihr für den Musikexpress geführt hatte, auf Twitter verlinkte.


Die Kommentare sind dermaßen misogyn und beschämend, dass ich ihnen hier keinen größeren Raum bieten möchte. Aber da sie Kronzeugen dieser Zeilen hier sein sollen, komme ich nicht umhin, hier doch mal etwas zu zitieren.
Triggerwarnung: Arschlöcher am Werk.

Öffentlich gepostet – keine Notwendigkeit die Urheber zu anonymisieren

Menschen- und vor allem Frauenhass, der sich selbst noch edgy findet. Ich hoffe, das Medienteam der Betroffenen hat etliche dieser Tweets, die längst nicht nur unter diesem Artikel bei Ricarda Lang auftauchen, zur Anzeige gebracht.

Misogynes Mobbing verkleidet als Herrschaftskritik. Ich wünsche allen, die sowas Liken, Verbreiten oder nur Durchwinken ein paar mehr Erkenntnisse dieses Jahr.

Und noch ein Disclaimer, der ist mir persönlich auch wichtig: Ich habe selbst noch nie grün gewählt. Ich schreibe das hier sicher nicht, weil ich für eine Partei einstehen will. Ich schreibe das, um zu verdeutlichen, dass es auch in diesem digitalen Volkssport der Politikerschelte immer noch eine klare Grenze gibt zwischen Kritik und toxischer Vollscheiße.

Und dann kam Punk: Dirk Jora (Slime)

Mein Klassenkamerad Eric stürmt in mein altes Kinderzimmer, hektische rote Flecken zeichnen das sonst blasse Gesicht, er klingt atemlos, als er etwas von einem musikalischen Erlebnis erzählt, das ihm gerade widerfahren sei. Ich beruhige ihn, lege ihn aufs Bett, wache über seinen Leib, bis der Jugendliche endlich einschläft. Dann führe ich die von ihm mitgebrachte Kassette in den Rekorder. Erlebnis? Was das wohl wieder für ein Rohrkrepierer sein mag?

Die ersten Akkorde von Slimes „Deutschland muss sterben“ erklingen.

Sofort ist alles klar. Ich trete nun ins Wohnzimmer: „Mama, zerreiß die Zusage der Sparkasse für eine Lehre, ich werde jetzt Staatsfeind!“

Mutter sagt nur noch sowas wie: „Zieh dir aber einen Mantel an“, dann ist es entschieden.

Diese lebensverändernde Initiation geht einher mit der eindrucksvollen und eigentlich nicht gerade klassischen Singstimme von Dirk „Diggen“ Jora. Sie ist rostig, scheppernd, mitunter daneben, aber schlichtweg überwältigend. Slime begleiten mich fortan durch die Jahrzehnte. Immer wieder ist was bei ihnen, Trennung, Skandale, Reunion, oder auch mal Gitarrist „Elf“ als Kandidat bei „Wer wird Millionär“. 2020 dann eine besonders tiefe Zäsur: Die gefühlt dienstälteste Punkband trennt sich – nicht wirklich im Guten – von Sänger Diggen.

Längst nicht nur deshalb höre ich die ganzen 2 Stunden 20, die der immer professioneller aufgestellte Podcast „Und dann kam Punk“ von Jobst und Christopher mit Dirk Jora als Gast anbietet. Ich habe es nicht bereut – auch wenn sich Diggen bedeckt halten will beim Konflikt mit den ehemaligen Bandkollegen. Er spricht dennoch sehr klar und offen, auch über unangenehme Themen, zu denen sicher der Hartz-IV-Antrag gehört. Aber auch über die Hamburger RAF-Sympathisanten-Szene erfährt man etwas, über den ikonischen Vokuhila-Hairstyle des verrauchten Norddeutschen, der seinerzeit „den FC St.Pauli auf links gedreht“ habe (mehrfach wiederholte Selbstaussage). Als Diggen gegen Ende des Podcasts auch noch sagt, dass er Gendern für okay halte und sicher nicht mit Idioten wie Dieter Nuhr in einem Topf enden wolle, bin ich echt fast nochmal so begeistert über diese Stimme wie damals. Wie damals als Eric „Deutschland muss sterben“ auf Kassette mitbrachte…

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Mach mal Kassette

Als ich einst Redakteur des mittlerweile verblichenen Musikmagazins „Intro“ wurde, schien nichts wichtiger, als seine Kompetenz in dem schwindsüchtigen Feld der Popmusik durch den Besitz von unzähligen Tonträgern zu erden. Eine Zeit lang hätte ich eine Flatrate bei Ikea benötigt, da ich andauernd neue Benno-Regale kaufte. Diese schwankenden CD-Aufbewahrungs-Elemente mit dem Zahnstocher-Charme, die in den Nullern Herzstücke meiner sonst eher vernachlässigten Einrichtung darstellten.

Fast Forward: CDs schrammen nur knapp am Sondermüllstatus vorbei und die meisten Bennos habe ich längst heimlich in den Hausmüll gegeben. An ihre Stelle trat das Streaming, das – unter uns – noch freudloser ist. Wie soll man denn über diesen gestaltlosen Files vor Gästen mit der eigenen sorgsam aufgewallten Popdistinktion angeben? Dafür bleiben nur noch die schweren Vinyl-Platten, die in ihrer altbautauglichen Spießigkeit allerdings längst zu Gartenzwergen des Hipsters gemorpht sind.

Moment mal, aber da fehlt ja noch einer! Genau: Kassetten. Unpraktischer geht’s ja kaum noch, aber dennoch hat dieses Spleen-Format die letzten Jahre ein sympathisches Comeback hingelegt. Ich weiß, auch ich muss irgendwo ein Abspielgerät dafür besitzen und steige tief in den Keller, um für diese Kolumne endlich mal die Kassetten zu hören, die mir in den letzten Wochen zugingen. Fünf MC-Review, the medium is the message.

Wehatethesmith „A New Crack“
Stilvoll düsterer Post-Wave aus dem Hobbyraum rund um die Band EA80. Alles betont geheimnisvoll, alles ein Kontradiktum zur Selbstvermarktungswelt, die alles sofort von sich preis gibt. Verweigert euch! Hier bekommt man einfach vier fast namenlose Stücke in einer kunstvoll eingerissenen Kassettenhülle.

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The Melmacs „Good Advice“
Gute-Laune-Punk mit Old-School-Attitüde, der sich auf den Heimatplaneten von Alf bezieht. Könnte man sich im örtlichen Punkrockschuppen vorstellen, ein paar jüngere Leute schütteln vor der Bühne die Fäuste in der Luft, wenn der Refrain kommt, ein paar ältere stehen am Tresen und winken, wenn die Thekenkraft kommt. Die Keyboard-Songs stehen The Melmacs am besten, da klingt’s mitunter nach Kim Wilde oder The Epoxies. Dem besprühten Tape liegt auch noch ein Aufkleber und ein Button bei. Musikalisch wie haptisch ein Kandidat für die Zeitkapsel.

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Lügen „Lügen“
Das beiliegende Textblatt in 4-Punkt-Schrift soll vermutlich Brillenträger abschrecken. Da freut man sich dann doch wieder auf eine LP, da kann man zumindest manchmal noch was erkennen. Okay, die Beschriftung der Kassette selbst wurde mit einem Etikettengerät vollzogen, das Erhabene hat beim Drüberstreichen auf jeden Fall was. Lügen holen ansonsten mit energetischem Powerpop die Pascow-Fans ab, die vor’m Gemeindehaus ihrer fuckin‘ Kleinstadt auf den Bus warten. Engagiert, niedlich, mehrstimmig.

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Antimanifest „Lernzielkontrolle“
Diese Kassette wiederum ist mit Edding oder Tipp-Ex bemalt. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Basteln und abrocken – so also die Devise von Antimanifest, die irgendwo flimmern zwischen Detlef, Muff Potter und …But Alive. Abgestoppte Gitarren, Verzerrer und deutschsprachige Slogans, die man sich ins Mäppchen schreiben könnte, wenn man noch irgendwo eins hätte.

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Howard Carter „Die Entdeckung des Tut-ench-Amun“
Es handelt sich hierbei um ein Hörspiel, die Story dreht sich um das Tal der Könige, Ramses den Sechsten und Ausgrabungslizenzen. Diese Kassette hat mir ein Freund zum Geburtstag geschenkt. Kommentarlos. Ich denke, er wollte mir durch die Blume sagen, ich sei für ihn eher eine Art Mumie als jugendlicher Lover. Mein Fluch soll ihn treffen!

„Es wird dann später noch besser“: Warum Cineasten und Streaming-Empfehlungen am Ende sind

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