Bootlegs


Was den Fan oft freut, kostet Industrie und Künstler Jahr für Jahr Millionen: das illegale Mitschneiden von Konzerten. Doch längst sind den Soundpiraten, auch Bootlegger genannt, Fahnder auf den Fersen. ME/Sounds ging mit Detektiv Körfer auf die Jagd nach heißer Ware.

Ein Fernsehkrimi-geschultes Auge hätte die Sache sofort erkannt: Eine Spur zu unauffällig biegen die vier dunklen Autos, gehobene Mittelklasse, in der gutbürgerlichen Wohngegend im Süden Bonns um die Ecke. Auch die vier mal vier Männer mittleren Alters, die in die hochsommerliche Morgenstunde aussteigen, wirken eine Spur zu unauffällig, ihre Körper sind – für diese Gegend – eine Spur zu durchtrainiert. Richtig geraten: Die scharf frisierten markigen Typen haben hier beruflich zu tun, sie sind auf einer verdammt heißen Spur: Die Einsatzgruppe der Kölner Zollfahndung ist auf der ]agd nach Musikpiraten. Im Keller eines unscheinbaren Mehrfamilienhauses soll ein illegales Lager ausgehoben werden.

Einen Namen hat nur einer von ihnen, die anderen wollen (und sollen) anonym bleiben. Dieser eine heißt Körfer. Er ist Angestellter der IFPI, der Dachorganisation der internationalen Plattenfirmen. Auf seiner Visitenkarte steht „Head of Anti-Piracy-Operations“ und die Sache mit dem „Kopf“ ist durchaus wörtlich zu nehmen: Manfred Körfer ist Deutschlands oberster Musikpiraten-Jäger, der Schrecken aller Bootlegger.

Nervös wirkt Körfer nicht, eher angespannt. Wie vor einer Geburt: Wochenlang hat er gegen einen illegalen Bootleg-Großhändler ermittelt und jetzt, kurz vor dem Hochnehmen des Lagers, setzen auch bei einem Profi-Ermittler wie ihm die Preßwehen ein. Nüchtern beschreibt er seine Arbeit: „Ich bin der Müllmann der Musikbranche, der, der den Dreck wegräumt. Meine Aufgabe ist es, den versteckten Dreck zu finden, ihn zu entsorgen und die Märkte freizumachen.“

Zunächst müssen aber erst einmal die zwölf Zollbeamten gemeinsam mit drei Männern aus Körfers Team den Weg in den Keller von dem herumliegenden Sperrmüll freimachen. Wie immer ist auch heute in Bonn die Wirklichkeit weit weniger plastisch als der TV-Krimi: Keine Waffe ist im Anschlag, kein Hubschrauber kreist über dem Dach. Die Bewegungen der Männer sind ruhig, natürlich lautlos. Ein eingespieltes Team. Der Türspezialist braucht zum Knacken der Kellertür keine fünf Sekunden, gleich werden wir das Lager mit bis unter die Decke gestapelten, illegalen CDs betreten können. Langsam schwingt die Tür zur Seite, die Kegel von drei Taschenlampen treffen auf…NICHTS. Der Keller ist leer, ein Wohnungsmakler würde sagen: „besenrein.“

„Ein Flop bereitet mir körperliche Schmerzen.“ Körfers Mundwinkel zeigen fallende Tendenz. „Wir haben vor drei Wochen in Köln das Hauptlager eines Kopfes der Szene ausgehoben und gut 15.000 illegale CDs rausgeholt. In der Zwischenzeit hat die Szene im Raum Köln-Bonn wohl kalte Füße bekommen und ihre weiteren Lager aufgelöst.“ Jetzt hellt sich Körfers Miene wieder auf: „Der Typ ist ein alter Bekannter von mir. Den habe ich 1988 das erste Mal geschnappt. Er hat 22 Monate bekommen, von denen er 14 Monate abgesessen hat. Als ich ihn das erste Mal gesehen habe, kam er gerade braungebrannt aus Mauritius. Später sah er dann etwas blasser aus. Den haben wir jetzt im März das zweite Mal hochgezogen und ihm wieder tonnenweise Bootlegs abgenommen. Er wurde dann ein bißchen gewalttätig, weil er an seinem Computer eben noch mal schnell die Daten löschen wollte.“

Körfers Alltag hat mit Schimanski allerdings soviel zu tun wie Don Camillo mit Kardinal Ratzinger: „Eine Arbeit im Nachrichtengeschäft sieht immer anders aus als bei Schimanski im Fernsehen. Dort observieren sie mal für eine halbe Zigarettenlänge, in Wirklichkeit kann das aber Wochen dauern.“ Körfers Abteilung recherchiert einen Fall solange, bis die Beweise für einen Richterbeschluß ausreichen. Erst bei den Razzien muß er mit der Polizei oder Zollfahndung aufkreuzen.

Was nicht heißen soll, daß sich ein Mann wie Körfer nicht auch glasklare Überlebens-Regeln halten muß. Schließlich hat man ihm „zu verstehen gegeben, eine ganze Reihe von Leuten habe großes Interesse daran bekundet, daß man mir endlich mal ordentlich auf die dicke Birne schlägt. Ich bin denen inzwischen zu teuer geworden. Sie meinen, wir machen soviel Druck, daß sie nicht mehr in Ruhe arbeiten können.“ Dennoch stammt die Beule in Körfers Jacke nur von seinem Brillenetui. Seine schärfste Waffe ist der Kopf: „Ich halte nichts von Waffen, denn Waffen lassen in der Regel eine Situationen nur eskalieren. Besser ist es, Turnschuhe zu tragen, um notfalls ganz schnell weglaufen zu können.“

Gut oder Böse – auf welcher Seite steht einer wie Körfer? Er steht auf der Seite des Rechts. Und das sagt klar: Keiner darf sich mit der Herstellung und dem Verkauf von Schall-Platten eine goldene Nase verdienen, der nicht zuvor mit dem Künstler und dessen Plattenfirma die Rechte an eben dieser Musik geklärt hat. Im Laufe der Jahre ist die Gesetzeslage immer eindeutiger geworden, internationale Verträge, Gerichtsurteile und Urhebergesetze lassen von dieser Regel so gut wie keine Ausnahme mehr zu. Unautorisierte Live-Mitschnitte und geklaute Demobänder waren – als Platte gepreßt – schon immer illegal. Inzwischen sind auch alle Backkatalog-Aufnahmen weltweit 50 Jahre lang geschützt und der sogenannte „TRIPS“-Zusatz zum internationalen GATT-Handelsabkommen schließt Anfang 1996 das letzte Schlupfloch („Schutzlücke“): Dann dürfen auch unautorisierte Live-Mitschnitte amerikanischer Künstler, gleich wo das Konzert stattfand, nicht mehr verkauft werden.

Körfers Job ist es, bei der Umsetzung dieser Gesetze tatkräftig mitzuarbeiten. Mit Erfolg: Allein in diesem Jahr wurden gut 300.000 illegale Tonträger im Wert von über zehn Millionen Mark einkassiert, der Anteil der Piraterie am Gesamt-Plattenmarkt schrumpfte damit auf 2,5 Prozent (Europa-Durchschnitt: sechs Prozent). Körfer, studierter Betriebswirt und langjähriger Plattenmanager bei EMI und CBS, ermittelt seit gut 15 Jahren im schwarzen Markt der Töne. In diesen Jahren ist er oft bedroht, manchmal verprügelt und noch öfter wüst beschimpft worden. Seinen Ermittlungseifer konnte das nie bremsen: „Ich habe während meiner Promotion- und Marketing-Zeit gesehen, wie hart Musiker arbeiten müssen.“ Und seitdem will er, daß diese harte Arbeit auch zu ihrem gerechten Lohn kommt. Selbst wenn einige Musiker – zumeist am Anfang ihrer Karriere – sogar eher stolz darauf sind, daß es die ersten Bootlegs von ihnen gibt. „U2 haben früher Bootlegs ganz offen befürwortet“, erinnert sich Andreas Voigts, Piraten-Kenner und Autor des Buches ‚Bootleg-Guide‘. „Bono selbst ging ab und zu mit Bootleggern ins Studio, um deren Bänder nachzubessern. Richtig sauer wurde er erst, als die Demos von ‚Achtung Baby‘ als Bootleg auf den Markt kamen.“

Bei den meisten Stars hält die anfängliche Begeisterung, gebootlegt zu werden, nicht lange vor. In dem Moment, in dem die dicke Kohle rollt, wollen sie überall mit absahnen. Joe Cocker soll am Anfang seiner Karriere mal gesagt haben, es interessiere ihn nicht, seine Rechte für eine Kanne Bier zu verkaufen. Heute kämpft er an vorderster Front gegen die Bootlegger. Zu Recht meint Körfer: „Eigentlich ist die Befürwortung von Bootlegs das klassische Sägen am eigenen Ast. Geld verdient wird nur mit den großen Namen. Wenn die kein Geld mehr abwerfen würden, kann auch kein Geld mehr für den Aufbau neuer Acts reinvestiert werden. Dann würde es heute keine H-BlockX und keine Kelly Family geben.“

Die Ermittlungsarbeit der IFPI ist keine billige Sache. Der Verband zahlt neben dem Angestellten Körfer die Gehälter für dessen Team, finanziert deren Logistik von Handy bis Nikon, zahlt Zusatz-Krankenversicherungen („Risiko-Verträge“) und den Wagenpark der Ermittler. Eine ziemlich teure Angelegenheit, wenn man bedenkt, daß die Piraten gerade mal zweieinhalb Prozent des Plattenkuchens unter sich aufteilen. Für Körfers Kollegen Martin Schaefer, Justitiar und stellvertretender IFPI-Geschäftsführer, geht es aber ums Prinzip: „In der Sekunde, in der unsere Ermittlungsbemühungen aufhören, würde die Pirateriequote rapide ansteigen. Wir müssen den Gegendruck aufrecht erhalten. Das haben wir in Polen gesehen bevor dort die gleichen Gesetze wie im Rest Europas galten, waren über 90 Prozent aller Platten mit internationalem Repertoire Piratenware.“

Und immer lockt dabei die schnelle Mark. Der Aussicht, eine CD für 89 Pfennig zu pressen und sie dann für 35 Mark zu verkaufen, ohne die Gewinnspanne mit mehr als einem Zwischenhändler teilen zu müssen, erliegen viele. Früher oder später hat Körfer die meisten jedoch am Schlawittchen: „Ich kenne etliche Bootlegger, viele habe ich ja auch in die Kiste gebracht. Und ich weiß, welche Autos sie am Anfang gefahren haben – und welche heute. Alle haben sie sich eine goldene Nase verdient – immer unter dem Mäntelchen des Fan-Tums.“

Ein Mäntelchen, das inzwischen ohnehin zu klein geworden ist: Nachdem die meisten Schutzlücken geschlossen worden sind, ist der Anteil von reinen Fan-Bootlegs (Live- und Studio-Mitschnitte) auf maximal fünf Prozent der Piraten-Beute zusammengeschrumpft. Einer der Gründe: „Der reine Fan-Markt ist durch die Bootleg-Schwemme Anfang der Neunziger in sich zusammengebrochen“, weiß Andreas Voigts.

Und auch Körfer hat eine zunehmende Bootleg-Müdigkeit entdeckt: „Wenn du dir das dreizehnte Guns N’Roses-Bootleg kaufst, klingt das genauso beschissen wie das erste. Irgendwann hat auch der hartgesottenste Fan die Nase voll.“ Voigts, nicht immer eindeutig auf der Seite der Körfers dieser Welt stehend, beklagt: „Ich bin der Meinung, daß ein gut produziertes Bootleg in einer Auflage von nur 1000 Stück niemandem schadet. Schlimm wird es erst, wenn Produzenten, denen es nicht um die Sache selbst geht, riesige Mengen Schrott auf den Markt werfen.“

Doch eben dieser „Schrott“ hat es in sich. Neben immer originalgetreuer werdenden Identfälschungen haben die meisten Freibeuter der Plattenmeere ihre Dreimaster inzwischen in ein neues, verdammt lukratives Gewässer manövriert: Bis zu 70 Mark legen tanzwütige Kids auf den Tisch, um eine CD mit dem Disco-Mix ihres Lieblings-DJs zu ergattern. Was mit einigen Tapes, die der Plattenaufleger von seiner freitagabendlichen Auflegerei mitschnitt, begann, hat sich zum Hauptumsatzfaktor der Piratenszene entwickelt: Gut 400 Mix-Titel von ‚Deep Dance‘ bis zu Pink Floyds ‚Meddle – Limited Edition Trance Remix‘ rotieren derzeit auf dem Schwarzmarkt. Zielgruppe: „Keine Musik-Freaks, sondern eher das Malocher-Publikum, das jeden Freitag losrennt und zum Abzappeln geht.“ (Körfer) Mit den Disco-Mixes kommt erstmals ein echter kreativer Impuls aus dem Piratenlager: Waren Bootlegs bislang ausschließlich gut verkäufliche fremde Federn, tritt nun der DJ als Mix- und Veränderungs-Künstler auf. Dennoch sind und bleiben die Rechte an den Tracks, die der DJ ineinanderwurstelt, geschützt. Sogar Körfer, sonst eher ein Kind von Richard Marx und Coca Cola, gesteht: „Wirklich kreativ. Nur leider illegal von A bis Z.“ Und auch für Justitias Legionär Schaefer leben die wahren Wölfe nicht in den Diskotheken: „Ich habe nichts gegen DJs und ihre Mixkünste, sondern nur gegen die, die sich eine goldene Nase daran verdienen. Die DJs verkaufen ihr Masterband für vier- bis fünfstellige Summen an den Piraten, der zum Teil mehrere zehntausend CDs für mindestens 50 Mark absetzt. Die Trennlinie ist klar: der DJ kann machen, was er will, er darf sein Zeug bloß nicht an einen Piraten verkloppen. Am liebsten würde ich den Begabten unter ihnen goldene Brücken in die legale Plattenindustrie bauen. Einem ehemaligen Mix-Piraten ist tatsächlich schon der Sprung gelungen. Der ist inzwischen richtig berühmt geworden.“

Da wir uns nach wie vor im „Nachrichtengeschäft“ befinden, gibt es auch hier keine Namen. Eines ist klar: Alex Christensen, als U96-Kapitän immerhin der Seefahrerei nicht ganz unkundig, war jedenfalls nicht der auf die helle Seite der Macht gezogene Pirat. Christensen, der nach wie vor einmal die Woche in einer Disco auflegt, hatte das Glück, seine Plattenfirma von dem Umsatzpotential der DJ-Mixe überzeugen zu können. Resultat: ‚In The Mix‘, der erste legale Mitschnitt eines Di-Abends, steht seit zwei Wochen in allen Plattenläden. Olaf Kuchenbecker, verantwortlicher Product-Manager bei Warner Special Marketing, rechnet mit satten 100.000 verkauften CDs. „Unsere Intention“, so Kuchenbecker, „richtet sich nicht direkt gegen Bootlegger. Sicher entstand die Idee zunächst im halblegalen Bereich. Die ganze Optik unseres Produkts geht ja auch in diese Richtung. Alles ist sehr rough, sieht sehr selbstgemacht aus.“ Bootlegging the Bootleggers – der elegante Weg der Industrie, an der Piratenbeute ganz legal teilzuhaben. „Special Marketing heißt auch, die Impulse des Marktes frühzeitig zu erkennen.“

Wesentlicher Unterschied zu den Freibeuter-Mixes: Auf ‚In The Mix‘ sind die Rechte an jedem Track, jedem Sample, jedem Schnipsel geklärt. Eine Arbeit, die nur Profis leisten können: „Wir haben es als Special Marketing-Abteilung leichter, weil Lizensierungen unser tägliches Geschäft sind“, erklärt Kuchenbecker. Dabei muß man auch Schlappen hinnehmen: Tracks von La Bouche oder Dr. Dre, die auf Christensens Ur-Mix benutzt wurden, fehlen auf der fertigen CD, weil deren Plattenfirmen die Rechte nicht freigeben wollten. Klar, daß jeder Flachland-Piattenkratzer mit einer solchen Recherche heillos überfordert wäre. Kuchenbecker: „Unsere Rechtsabteilung arbeitete vier Wochen lang daran, die Rechte zusammenzubekommen. Ohne einschlägige Kontakte schafft das keiner.“

Das alles läßt die Hintermänner des illegalen Mix-Geschäftes freilich kalt. „Piraten sind flexibel. Sobald wir eine Rechtslücke geschlossen haben, finden sie sofort die nächste. Oder sie erkennen neue Trends wie die Dj-Mixe.“ Körfer hat seine Bonner Schlappe lässig weggesteckt. Mit dem Ellbogen aus dem Fenster und der Ray Ban auf der Nase fährt er zurück nach Köln, aus dem Auto-Player dröhnt ein Stones-Bootleg. Der Mann muß schließlich wissen, wie die beschlagnahmte Ware klingt. Und er weiß, daß er den Kampf gegen die Piraten nie endgültig gewinnt: „Leider lassen sich diese Leute nicht erziehen, dafür verdienen die zuviel Geld. Wenn die als A&R-Manager bei einer Plattenfirma arbeiten müßten, würden sie mit 5.780 Mark im Monat nach Hause gehen. Da lachen die sich doch tot.“