Club der Neuen Helden


Diese Band spielt mit den Beats der Geschichte und dem Geist ihrer Heimatstadt. Krautrock und kontrolliertes Chaos, analoge Synthesizer und Kellerpartys. Stabil Elite aus Düsseldorf verkünden eine Musik ohne Grenzen und wollen Pop neu erfinden. Ein Besuch am Rhein.

Nur wenige Meter vom Hauptbahnhof entfernt wirkt Düsseldorf bereits trist. Der Worringer Platz, eine Versuchszone im farblosen Teil der Stadt. Verabredung gegen halb sieben im Bistro Agi: ein Computer, fünf Tische, drei Spielautomaten mit Bildschirmen aus Flüssigkristall, Magic Gold Liner, Konsolen der Verlorenen und hoffnungsvoller Sucht. Auf den Angebotskatalog begrenztes Deutsch reicht völlig aus. Hinter der Theke versteckt der Eiffelturm auf dem weißen T-Shirt die dralle Körperform. Fünf Ringe umklammern den schon kalten Kaffee aus der Futurema-Espressomaschine. Es läuft Eurotrance-Geballer. Eine Spiegelformation erinnert an die Achtziger, der Rest ist reines Würfelglück. Drei türkische Jungs treten ein, bestellen fordernd drei Beck’s und löschen nicht nur Kennerdurst. „Entschuldigung, wo könnte hier bitte diese Party sein?“ – „Unten Party. Keller. Keller!“ Was nach professioneller Geldwäsche aussieht, wurde erst ein temporäres Projekt, dann der Single-Club und somit 24 Stunden Ausnahmezustand. Einmal im Monat wird dieses Bistro also zum konspirativen Ort. Für eine Nacht und einen Tag richten hier Studenten der Kunstakademie Düsseldorf die alte Kegelbahn im Keller ein. Immer neu, immer anders – so die Ansage.

Erst mal warten im zentralen Randbezirk. Lucas Croon, Martin Sonnensberger und Nikolai Szymanski gleiten am Tresen vorbei, sehen gut aus und verschwinden im Keller. Als Stabil Elite werden sie hier und heute ein Konzert spielen, jetzt müssen sie erst mal ihre Geräte aus dem Autoladen. Schon damals in der Oberstufe, als die unwissende Kunstlehrerin den schweren Minimoog auf den Müll räumen lassen wollte, wog der Synthesizer rund neunzehn Komma acht sperrige Kilogramm. Heute verankert dieses Instrument die Gruppe tief in der Vergangenheit. Das Düsseldorfer Stadtbild befördert ihre Musik gleichsam auf die Tanzflächen und in die eigene Zukunft. Vor vier Jahrzehnten entstandene Projekte wie Kraftwerk, NEU!, Cluster oder La Düsseldorf wurden von Engländern irgendwann unter Krautrock zusammengefasst. Heute muss man sich mit den alten Helden messen lassen, nicht nur weil am Rhein Lokalpatriotismus generell großgeschrieben wird. Im sich ständig überschlagenden Post-Irgendetwas ist die Referenz immer Fluch und Segen zugleich. Die Möglichkeiten des totalen Zugriffs auf das Alte führen schnell zum Plagiat. Natürlich und folgerichtig wird es aber, wenn die eigene Kreativität durch Einfluss und Identifizierung mit der Vergangenheit zu neuen Entwicklungen führt. Wo vor vierzig Jahren rund um die Düsseldorfer Altstadt originelle und innovative Zugriffe auf Musik und Kunst entstanden, ist es heute ähnlich. Wer damals noch jung war, trifft heute auf hungriges Talent.

Der Salon als Keimzelle

Seit 2004 ist der entscheidende Ort solcher Begegnungen der Salon des Amateurs in der Düsseldorfer Kunsthalle. Wo Kraftwerk ihr erstes Konzert spielten, sollte sich für die Jungs von Stabil Elite vor ein paar Jahren alles ändern. Als Nikolai das erste Mal den Salon betritt, war er „total geflasht“. Was hier aufgelegt wurde, sei für die Entwicklung der Band so gravierend gewesen, dass sich der Einfluss kaum greifen lässt. So vielfältig das Programm, so anders und fremd die dort gehörten Stile, die sie direkt in eine andere Welt befördern. Martin erinnert sich schemenhaft an extreme Exzesse: „Ich wurde einmal auf die Theke gelegt und mit Eiswürfeln eingerieben, von einer Escort-Dame. Miss Chase hieß die, oder so – sehr knappe Kleidung, ich war achtzehn. Bin einmal in irgendeiner Wohnung aufgewacht, in einem Kinderzimmer, ohne Erinnerung. Habe MDMA genommen, ganz viel, und habe es der ganzen Bar gegeben, alle haben mitgemacht, die ganze Theke, der ganze Salon, bin dann irgendwann bei dieser Frau aufgewacht und einfach abgehauen, da lagen überall Spielsachen rum. Mitte dreißig war die. Die, die ein bisschen aussieht wie Hauschka.“ Haha, alle lachen über den Witz auf Kosten des Düsseldorfer Elektronik-Kollegen. „Ja ja, vielleicht war es ja der Volker, der hat ja auch Kinder.“ Der Salon hat ihnen eine Plattform gegeben: „Wir konnten dort Kontakte knüpfen, alle waren älter, als wären wir Pocahontas gewesen“, berichtet Martin. „Wir haben dort unsere Wochenenden verbracht.“ Die Älteren, der bedeutende Einfluss, das sind Musiker, Künstler, Studenten, DJs, alle selbst tief verwurzelt in den Mythos Düsseldorf, die das Erbe nun weitertragen und neu formieren. Da ist Detlef Weinrich, Mitbegründer des Salons und Teil der stark von Kraut beeinflussten Band Kreidler. Oder Stefan Schneider, der ebenfalls zu Kreidler gehört und als DJ im Salon entscheidend an dessen Sound mitwirkte; beide studierten an der Kunstakademie und verbinden ästhetischen Anspruch mit avantgardistischen Tendenzen in der Musik – die Liste wäre uferlos – alle beeinflussen sich gegenseitig, auf ständiger Suche nach Inspiration, verändernder Neuerung.

Der Abend im Single-Club soll ein besonderer werden. Doch erst mal haben alle Durst. Kabel sind gelegt, Soundcheck vorbei, raus. Alt-Bier im Postämtchen II, wieder Euro-Trash, Deutschland gegen die Türkei, Tor, 2:1. Wer hier ein Sakko trägt, das Hemd zuknöpft, jung ist, fällt auf, war noch nie hier. Stabil Elite aber, sie schwärmen, haben etwas vor, sind überzeugt und wollen mehr. Gerade wird ihr erstes Album fertig, sie können sich schon über Details Gedanken machen – wie das neue Cover aussehen wird, wie Songs den Arbeitstitel verlieren. Die neuen Aufnahmen werden anders klingen als die auf Italic veröffentlichte „Gold“-EP, sie haben sich weiterentwickelt und können nun den Mut zum Pop beweisen. „Kraut, oder Neo-Kraut, das wurde einfach über uns gestülpt, hängt mit dem Salon zusammen. Viele Leute im Salon haben sich an Kraut orientiert, das war damals neu für uns“, erzählen sie. „Klar, Kraut ist ein gutes Beispiel für diesen Einfluss von außen. Weil es irgendwann einen Punkt gab, wo wir uns sagten: Ja, das finden wir gut, das machen wir. Und dann entstehen fünf Nummern, in denen wir einen Klaus-Dinger-Beat reingehauen haben, weil wir das echt gut fanden. Alles sehr krautig, analoge Synthesizer, wirklich toll. Und irgendwann kommt man dann an den Punkt, an dem dich das plötzlich langweilt …“ Sie hatten immer schon den Hang dazu, eingängigere Sachen zu schreiben, wollten immer den Spagat schaffen, zwischen tanzbar und strukturell schwierig. Keine und alle Einflüsse. Keine Grenzen, ständige Entwicklung im Prozess: „Manchmal ist für uns ein poppiges Lied schon ein Fortschritt – im Vergleich zu dem, was wir vorher so gemacht haben.“ Große Konzepte wischen sie dabei locker vom Tisch: „Wir hören ein Album und denken, das könnten wir auch noch irgendwie einbauen.“ Alles soll offen bleiben. Als sie jünger waren, erzählen Lucas und Nikolai, haben sie viel HipHop gehört und auch am Atari Beats produziert. Dann kam Moon Safari von Air und HipHop war für sie gestorben. Martin hat viel Nirvana gespielt, als er die Gitarre zu bedienen lernte. Heute wünscht er sich alle Alben von Queen, mit Pink Floyd und Led Zeppelin ist der Plattenschrank schon vollgestopft. Zu Hause, auf seinem Plattenspieler, da liegt gerade Patti Smith, im Studio hören sie viel Bowie, Talking Heads und Roxy Music. Eno ist immer irgendwie dabei, bekennen sie einhellig.

Kontrolliertes Chaos

Zurück ins Bistro Agi. Vorbei an der Tristesse, hinein in den Keller. Mittlerweile drängeln hier gut 200 Aufgeregte, immer mehr kommen nach. Überall Kunst, Poster, Schwarz und Weiß, Malerei und Farbe, Klub und Körper. Eine Wand aus blinkenden ausrangierten Geldspielgeräten führt in einen gänzlich mit Aluminiumfolie ausgelegten Raum. Ein Stroboskop reflektiert sich tausendfach zu epileptischem Gewitter. Basstöne wummern. Die Bühne, aus pastellfarben gegossenem Gips, fließt direkt in den engen Backstage-Raum. Auftritt: Stabil Elite. Normalerweise haben sie für ihre Konzerte noch einen Schlagzeuger und einen Bassisten engagiert. Heute musste Lucas für das gefühlt zehnminütige Intro vor dem Auftritt noch einen monoton wabernden Rhythmus programmieren. Das war so vorhin gegen sechs, als er im Café seiner Eltern für zwei Stunden aushelfen musste und es gerade nichts zu tun gab. Die Band steigt ein, jeder schiebt sich nach vorne, weicht zurück, lässt dem anderen Spielraum für ausufernde Sequenzen. Blickkontakt, nächster Song, nächster Track. Kühl und locker, konzentriert stylish, Kippen im Mund, das Übliche. Weil die Songs strukturell großen Spielraum haben, bleibt Zeit, die Zigarette auch mal anzuzünden: Pause machen, kurz den Vortritt lassen. Kontrolliertes Chaos, wie ein DJ die Menge nach Belieben steuern. Alle stehen auf der gleichen Ebene, werden getragen vom maschinellen Beat, umschmeicheln den großen Raum. Etwas unzufrieden sind sie, als alles vorbei ist. Doch die Masse hat keinen einzigen Fehler bemerkt. Zu groß der Sog aus den Boxen, die Mischung aus psychedelischer Fläche und treibender Kraft.

Weitermachen, Freunde sehen, verschwende deine Jugend. Die umgerechnet vierhundert Menschen werfen immer wieder Bekannte und Gefährten in den Raum hinter der Bühne. Und wieder ist es neben Schulkameraden größtenteils der Kreis um den Salon des Amateurs, der hier Hände schüttelt, Flaschen anstößt. Auch wenn man heute dort nicht mehr so ernsthaft feiern geht, ein paar Leute sind älter geworden, abgewandert, ist es dort noch immer familiär. Was hier entstanden ist, hat sein Fundament in einer konzentrierten Anlaufstelle. Der Kreis erweitert sich, man findet relativ schnell heraus, ob man auf einer Wellenlänge ist, es entstehen Sachen im Salon, andere Dinge anderswo, die dann wieder im Salon zusammenlaufen. Im Unterschied zu anderen Städten, anderen Zentren, passiert hier wirklich etwas. Es ist eine Szene, die eine Party macht und nicht eine Party, die eine Szene generiert. Wirkliche Kontakte, hier eine Band, dort ein Künstler – nicht ein schwarzes Loch, das sich nach innen dreht und frisst, sondern eine rotierend Masse, die durch ihrer Fliehkraft leuchtende Punkte in die Atmosphäre streut. Stabil Elite sind ein solcher, der gerade immer heller wird. Plötzlich schreit jemand: „Es ist Düsseldorf 1981.“ Und meint damit ein Gefühl der Grenzenlosigkeit, der wild anarchischen Vermischung von Freude, Stilen und Hoffnung. Dann kommt jemand in den Raum, setzt sich auf ein schwarzes Ledersofa, springt wieder auf, zieht seine Hose runter und versucht, in einen kleinen weißen Plastikbecher zu pinkeln: Er trifft nur tröpfchenweise. Die Akademiestudenten sind also auch hier, die verrückten Typen, fühlen sich offensichtlich wie Daheim. Nicht nur sie finden den Weg in die Galerien. Das Video zu „Gold“ drehte die Fotografin Kira Bunse. Ein vibrierender, grobkörnig warmer Retro-Film, dessen Premiere in der Galerie der Kunstsammlerin Julia Stoschek stattfindet. Auch sie ist heute hier, irgendwo zwischen den vielen verschiedenen Menschen und reißt mit ihren Absätzen kleine Fetzen aus der Aluminiumfolie am Boden. Nimmt teil an der kollektiven Euphorie, dem Gesamtkunstwerk, alterslos und schön.

Im neonhell-pastell beleuchteten Nebenraum, Mischung aus Bistro, Lounge und Kegelbahn, erzählt Arne Bunjes von seinem kleinen Label Themes For Great Cities. Er veröffentlicht junge Düsseldorfer Bands. Alles Bekannte und Gäste aus dem Salon, seine Leute, Kollegen. Auch Stabil Elite hatten hier ihre ersten neun Minuten auf Vinyl, man ist stolz, alles selbst zu machen, kein Genre, keine Grenzen. Unterbrochen wird Arne von Agi, weil jetzt fliegen nämlich alle raus. Egal ob Band oder nicht Band. Minuten später liegen die Kabel und Keyboards auf der Straße, am Worringer Platz, ruhig und kühl. Der Abend ist vorbei. Überraschend und unvermittelt. Keine Kompromisse, kein Zurück.

Im Zeichen des Minimoog

Acht Stunden später, stabil taumelnd im Kellerstudio unter Lucas‘ Wohnung. Der Proberaum steht voll: Korg Sigma, Polysix, Tascam M320, überall Bandmaschinen, Cry Baby, Fender Deluxe in Türkis. Ein Sektkühler hängt von der Wand, „Was spielst du da, A oder C?“ und der dichte Nebel aus dem Minimoog lässt den Raum vibrieren, hallt nach in wabernden Wellen über den DaDaDa Beat. Sägt sich durch den psychedelischen Schleier am Samstag Nachmittag. Es wirkt, als ob das Licht plötzlich dunkler würde, als ob Strom fehle: weil alle anziehen, aus Flächen Kaskaden wachsen, Keys durch das Zimmer perlen. Martin gleitet mit der Gitarre von Hendrix ins Surrealistic Pillow, weiter zu Paul Weller, Nikolai und Lucas schmeicheln abwechselnd um ihn herum. Blicke, Gesten, Zigaretten. Die neuen Songs sind zwingend und gut. 1980er-Referenz, David Lynch und Wave. Hier kühlt Kraftwerk, dort wärmt Air. Mal hüpft es poppig, dann wieder wird es in großen Teilen episch. „Kontrollierter Anbau am Altbau“ – Kraut ist überall. Der Berlin-Reiseführer steht neben den Platten im Regal. Er soll Reiseführer bleiben; unbedingt Düsseldorf. Leere Weinkisten, Cuvée Prestige, von den Wänden bröckelt der Putz. An der Stahltür hängt ein Zettel mit der Telefonnummer von Wolfgang Flür. „Für Lucas“ steht darauf. Falls man ihn mal wieder dringend braucht.