MC-Comeback

40 Jahre Walkman: Warum die Kassette der beste Tonträger aller Zeiten ist


Am 1. Juli 1979 wurde der erste Walkman verkauft. Unsere Autorin Julia Friese und unser Autor André Boße erzählen vom „besten Tonträger aller Zeiten“ und dem „wertvollen Pioniergeist“, der durch die Kassette entstand.

Jugend im Zeichen der Kassette

Leerkassetten in Orange, überspielte Märchenhörspiele, Störgeräusche auf Gerät-zu-Gerät-Übertragungen: Die große Zeit des „Home Taping“ war eine Epoche der Zumutungen und Ärgernisse. Und doch entstand damals der für eine Pop-Biografie so wertvolle Pioniergeist, findet unser Autor André Boße.

Als der ältere Bruder eines Freundes seine Lehre begonnen hatte, kam es zur Währungsreform. Bis dahin waren die Sammelbildchen von Panini das Schulhofgold gewesen, besonders die Spieler des Hamburger SV lagen hoch im Kurs, was schon zeigt: Das ist sehr lange her, Sommer 1983, der HSV hatte gerade den Europapokal der Landesmeister gewonnen, die Bildchen von Manni Kaltz oder Holger Hieronymus brachten mindestens eine Milch-Schnitte.

Return To The Planet Of The Tapes: Warum und wo die gute alte MC ihr Revival feiert
Nach den großen Ferien hatte der Freund dann plötzlich Schallplatten dabei, die sein Bruder von seinem ersten selbst verdienten Geld gekauft hatte. Das Angebot: Man könne sich die Platten ja mal ausleihen. Über Nacht: Raider oder Banjo. Übers Wochenende: das Doppelte. Rabatte kannte die Schulhofökonomie nicht. Akribisch führte der Freund eine Liste, wer wann welche Platte mit nach Hause nehmen dürfe. Ich dachte zuerst, man nimmt die LP mit, um sie daheim auf der Stereoanlage der Eltern zu hören – und gut ist. „Hören?“, fragte der Freund. „Ne, ziehen!“ Ach so.

Ich ließ mich weiter in die Leihliste meines Freundes eintragen, mein Vater brachte mir die Kunst des „Ziehens“ an der Stereoanlage bei.

An einem Dienstag war ich dann mal dran, mit großer Sorgfalt balancierte ich die Platte auf dem Rad nach Hause: Peter Schilling und sein erstes Album FEHLER IM SYSTEM, alles drauf, „Major Tom (völlig losgelöst)“ und „Die Wüste lebt“. Nicht hören, ziehen – wie soll das gehen? Papa fragen. „Ja, dafür brauchst du erst mal eine Leerkassette“, sagte er. Hm, die habe ich natürlich nicht. „Ja gut, ich schon. Die sind aber nicht billig, das sind technische Geräte.“

Ich gab ihm also FEHLER IM SYSTEM, als ich schon schlief, zog er mir die Platte auf Kassette, eine AGFA-Ferrocolor in Rot. „Das ist eine C60, da haste jetzt das letzte Lied auf der zweiten Seite, das ging nicht anders.“ Ach so. Das letzte Lied hatte meinem Vater eh nicht gefallen, das war eine superkühle und gesellschaftskritische Version von „Stille Nacht (Heilige Nacht)“, was ihn dazu verleitete, Peter Schilling einen „Kasper“ zu nennen. „Hier hast du deinen Kasper“, sagte er und gab mir die LP und die Kassette zurück. Ich war verwirrt. Aber auch glücklich: Ich hatte mir meine erste Platte gezogen. Oder zumindest ziehen lassen.

Die AGFA-Ferrocolor in Rot blieb nicht lange allein. Ich ließ mich weiter in die Leihliste meines Freundes eintragen, mein Vater brachte mir die Kunst des „Ziehens“ an der Stereoanlage bei, mit sehr vielen warnenden Worten und der seiner Meinung nach goldenen Regel: „Nicht eine schlechte Nadel macht die Platte kaputt, sondern eine schlechte Platte die Nadel.“ Ich sollte mich also hüten, Schrottdinger abzuspielen.

Die „Drei Fragezeichen“ zu löschen kam nicht infrage, aber die Märchen-Kassetten hörte ich doch eh nicht mehr: Hans Paetsch weg, die Cutting Crew drauf!

Auf der Suche nach Kassetten durfte ich mich zunächst beim Vorrat meines Vaters bedienen, irgendwann war der aufgebraucht, also zottelte ich zu Aldi, wo es Leerkassetten gleich an der Kasse gab, die orangenen Modelle von BASF, etwas später Kassetten von Maxell und TDK. Ich zog wie ein wahnsinniger, erst die Platten diverser älterer Brüder, dann auch die LPs oder Maxi-Singles, die wir uns selbst kauften und untereinander tauschten. Gezogen wurde auch aus dem Radio, vor allem Hitparadensendungen. Penibel beschriftete ich die Inlays, vertraute meinen rudimentären Englischkenntnissen, verstand vieles falsch: You Too, „To Unforget The Fire“.

Manchmal musste es schnell gehen, es gab heiße Ware: BROADCAST, die LP der Cutting Crew, ich mochte „(I Just) Died In Your Arms“, aber die neue Single „One For The Mockingbird“ war noch besser, die hatte ich mir schon aus dem Radio gezogen, aber nur halb. Jetzt brachte der Freund mit dem älteren Bruder die Platte zum Training mit. „Muss ich aber direkt wieder mitnehmen, sonst gibt’s Ärger.“ Also: Sofort ziehen – oder leer ausgehen.

So nahe an My Bloody Valentine wie auf dem Tape klangen A-ha nie wieder

Papas Kassettenschrank war leer. Aldi hatte nach dem Training schon zu, es war kein langer Donnerstag. Was tun? „Lösch doch was!“, sagte der Freund, schaute auf die Uhr. „Bist du verrückt?“ Wobei … Kassetten besaß ich genug, die vielen Hörspiele. Die „Drei Fragezeichen“ zu löschen kam nicht infrage, aber die Märchen-Kassetten hörte ich doch eh nicht mehr: Hans Paetsch weg, die Cutting Crew drauf! Kassette rein, gleichzeitig Play und Record drücken – doch es ging nicht. „Klar, Kopierschutz“, sagte mein Freund und biss in das Schokokussbrötchen, das ich ihm gekauft hatte. „Haste Tesa?“ Hatte ich. Also, diese eingedrückten Nippel oben überklebt, dann ging’s. Leider war BROADCAST deutlich länger als „Tischlein deck dich“ und „Bremer Stadtmusikanten“. „Lass bloß nicht das letzte Lied weg“, mahnte meine Freund mampfend, „das ist immer gut.“

Mit der Zeit fingen die Dinger an zu eiern, die Tonköpfe der Decks verstaubten, Bandsalat behandelten wir mit Buntstiften, später mit dem sechskantigen Stabilo-Fineliner.

Leider klang die Cutting Crew auf der Europa-Hörspielkassette nicht gut. Aber immer noch besser als SCOUNDREL DAYS von A-ha, die hatte jemand als Original-Kassette, ein Doppel-Tape-Deck besaßen wir noch nicht, also: Das Tape laut auf der großen Anlage abspielen, den kleinen Rekorder neben die Boxen stellen, auf Aufnahme drücken und hoffen, dass nichts und niemand stört. Hat nie geklappt. So nahe an My Bloody Valentine wie auf dem Tape klangen A-ha nie wieder.

Sowieso, Ärger gab es mit den Kassetten häufig. Mit der Zeit fingen die Dinger an zu eiern, die Tonköpfe der Decks verstaubten, Bandsalat behandelten wir mit Buntstiften, später mit dem sechskantigen Stabilo-Fineliner. Der Walkman machte Pop mobil, doch wenn die Batterien leer gingen, stellte sich das Gerät nicht einfach aus, sondern starb einen langsamen Tod: Immer langsamer wurde das Band abgespielt, stellte man den Walkman leiser, nahm das Abspieltempo für eine kurze Zeit wieder zu – ein ständiges Ausbalancieren am Rande der Stille.

Kurz: Kassetten bedeuteten Arbeit. Der Aufbau der ersten Pop-Sammlung mithilfe von Tapes war aufwendig und gar nicht billig, wenn man die ganzen Banjos, Raiders und Schokokussbrötchen dazuzählt. Doch ich erinnere mich noch an alles: an die Farben von Ferrocolor, an das Beschriften der Inlays und den Gesichtsausdruck meiner kleinen Schwester, als sie „Tischlein deck dich“ hören wollte und die Cutting Crew losdröhnte.

Meine erste CD? Eine vage Erinnerung. Der erste Download? Hat lange gedauert, aber wie hieß das Lied gleich noch mal? Das erste Einloggen beim Streamingdienst? Keine Ahnung. Wenn Pop die Musik der Gegenwart ist, dann bringen Kassetten die Gegenwart von früher zurück ins Hier und Jetzt.

Diese Texte erschienen erstmalig im Musikexpress 04/2018.

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