„Den da will ich haben“


Television verpassten wichtige Momente, und es mus- sten erst Jahre vergehen, bis jeder klar erkannte, was sie 1976 mit marquee moon geschaffen hatten: ein stil- (und Strokes-)prägendes Meisterwerk.

Es war keine Kritik, sondern eine Liebeserklärung, die Anfang Juni 1974 in der So ho Weekly News erschien. Vom einem „schwanengleichen Nacken, dem schönsten des Rock V? ‚Roll“ war da die Rede. von einer Gitarre wie Jausend schreiende Amseln“. Verfasserin war eine aufstrebende Underground-Poetin: Patti Smith, die sich inzwischen selbst eine Band gesucht hatte und gemeinsam mit der Gruppe auftrat, die sie dazu inspiriert hatte und als heißestes Eisen in der seit dem Durchbruch der New York Dolls wiedereröffheten Pop-Schmiede der Stadt galt: Television.

Als Tom Miller seinem besten Freund Richard Meyers 1968 nach New York folgte, lag die Szene der Stadt in Trümmern. Der „Sommer der Liebe“, der die Ostküste nur in grimmig ironisierter Form berührt hatte, war in Gewalt, Repression und Zynismus versunken. Heroin hatte Marijuana als Modedroge abgelöst, und nur sehr langsam sammelten sich in dem Spannungsfeld von Frustration und unterdrückter Lebenslust neue, junge Gesichter, um den Rock’n‘ Roll wenn schon nicht wiederzubeleben, dann doch wenigstens in einem exzessiven Feuerwerk endgültig zu vernichten. Im Hinterzimmer der Spelunke Max’s Kansas City drängelten sich Leute wie Patti Smith, Richard Mapplethorpe, David Johansen, Cherry Vanilla, Iggy Pop, Wayne County – Maler, Musiker, Dichter, Theater-Visionäre.

Miller und Meyers kannten sich seit ihrer Kindheit in der Arbeiterklassenvorstadt Wilmington in Delaware. Miller hatte sich als Klavierschüler für Wagner begeistert, dann den Jazz entdeckt und Saxophon gelernt und war schließlich auf der High-School an die Gitarre gewechselt. Mit 16 spielte er zusammen mit Drummer Billy Ficca in einer kurzlebigen Rockband und lief dann mit Meyers von zu Hause weg. Das Ziel der Freunde war Florida, aber sie kamen nur bis Alabama, wo sie wegen eines Lagerfeuers, bei dem ein Feld in Flammen aufging, festgenommen wurden. Sie brachten Richard zu seiner Mutter nach Norfolk in Virginia, von wo erbald wieder aufbrach, diesmal nach New York – während Tom in Wilmington seinen Schulabschluss machte und sich danach einem, für alle Zeiten abschreckenden, Grundkurs in Drogenkonsum unterzog.

Die Zustände in New York schockierten den sensiblen, verträumten Tom, der sich nur für Literatur und Musik interessierte. Er fand einen Job in dem legendären Antiquariat The Strand und verbrachte die Nächte mit Richard und einer alten Schreibmaschine, auf der sie Gedichte schrieben. Richard startete das handkopierte Poesie-Magazin „Genesis Grasp“, und die Ergebnisse der nächtlichen Tippereien erschienen als Buch unter dem Titel „Wanna Go Out?“ und dem gemeinsamen Pseudonym Therese Stern. So zogen die Jahre dahin, bis die beiden eines Nachts im April 1972 im Mercer Arts Center landeten und die New York Dolls erlebten. Der Auftritt der Glam-Revoluzzer war die Initialzündung. „Es war, als brächten sie die Straße auf die Bühne“, beschrieb Richard später seine Begeisterung. Er überzeugte Tom, seine Akustikgitarre wegzulegen und eine Band zu gründen. Tom zeigte ihm, wie man einen Bass hält, rief Billy Ficca an, der in Boston für eine Bluesband trommelte, und sagte ihm, er müsse sofort nach New York kommen. Die Suche nach einem zweiten Gitarristen für die Neon Boys, wie die Band hieß, gestaltete sich jedoch schwierig. Auf eine Anzeige in Creem („Rhythmusgitarristgesucht. Talent nicht erforderlich“) meldeten sich Kandidaten wie der Strichjunge Douglas Colvin (Spitzname Dee Dee), der nicht nur keinen einzigen Akkord spielen konnte, sondern das noch nicht einmal bemerkte. Andere wiederum, wie Chris Stein von den Stilettoes (später Blondie), waren zu gut. Schließlich nahm das Trio ohne Verstärkung in einem Kellerstudio fünf Songs auf und warf danach frustriert die Brocken hin.

Tom Miller verbrachte die nächsten Monate damit, mit seiner Gitarre durch Clubs und Cafes zu ziehen; Richard agierte als sein „Manager“. Ihr Geld verdienten beide in dem Kino-Buchladen Cinemabiüa, dessen Inhaber Terry Ork ein fanatischer Underground-Rockfan war. Er stellte Tom den jungen Gitarristen Richard Lloyd vor, der sich einige Jahre in Boston und Los Angeles herumgetrieben hatte und nun nach einigen Monaten als Stadtstreicher in Orks Loft in Chinatown untergekommen war. Es funkte sofort.Terry Ork stellte der wiederbelebten Band, die nun zuerst Goo Goo, dann auf Meyers‘ Vorschlag hin Television hieß, sein Loft zur Verfügung und sorgte für Nachschub an Heroin, mit dem Lloyd vom Alkohol loskommen wollte, das aber auch Hell und Ork selbst konsumierten. Es war die Zeit der glamourösen Pseudonyme. Meyers nannte sich Richard Hell, Tom nahm den Namen des Dichters Verlaine an. Billy allerdings weigerte sich, künftig Fucker zu heißen.

Für ihren ersten Auftritt am 2. März 1974 mieteten Television das Townhouse und dekorierten die Bühne mit Fernsehern. „Das klingt furchtbar“, stellte Verlaine hinterher fest. „Wir müssen mehr üben.“ Richard Hell, der die Band auf kurze Haare und seinen selbstentworfenen „Mülltonnen-Chic“ mit Fifties-Sonnenbrilleri, zerris senen Hemden und Sicherzeitlupeheitsnadeln einschwor, hatte auch ein Live-Konzepi im Kopf: Beeindruckt von der engen Verbindung, die Bands wie die New York Dolls zu ihren angestammten Clubs hatten, wollte er auch fürTelevision ein „Heim-Lokal“ suchen. Er wurde fündig: Da gab es ein Loch, auf dessen Vordach die rätselhafte Aufschrift „CBG B OM FUG“ stand. Die beiden sprachen mit Inhaber Hilly Kristal, der erläuterte die Abkürzung („Country, Bluegrass, Blues And Other Music For Uplifting Gourmandizers“), und als Verlaine und Lloyd betonten, sie hätten diese Stile drauf, reservierte er Television drei Sonntage, an denen er ansonsten geschlossen gehabt hätte.

Obwohl nicht selten das Equipment zusammenbrach und die Band Schwierigkeiten mit den eigenen spielerischen Ansprüchen hatte, wurde sie in Windeseile zur Sensation. Bowie, Reed, Paul Simon und Gene Simmons kamen. Und Patti Smith, die auf Terry Ork zumarschierte und sagte: „Den da will ich haben: Tom Verlaine.“ Sechs Monate lang kochte das CBGB, auch in anderen Clubs waren Television das große Ding; andere Bands folgten (u.a. Douglas Colvin mit seinen Ramones), dann streckte die Musikindustrie ihre Fühleraus-vorsichtig, denn die Erfahrungen mit Acts wie Velvet Underground und die Dolls hatten gezeigt, dass sich Ruhm, Genie und Sensation nicht leicht in Verkäufe umsetzen ließen. Richard Williams von Island ließ sich schließlich breitschlagen und produzierte Anfang 1975 mit Brian Eno die ersten Demos. Verlaine zog danach zwei Schlüsse: Er musste zukünftig selbst produzieren, und die Band brauchte einen anderen Bassisten.

Es war nicht nur Heils rudimentäres Spiel, das für Konflikte sorgte. Hell gestaltete das provokante Outfit der Band und gebärdete sich auf der Bühne wie entfesselt. Verlaine fürchtete, Heils Eskapaden könnten von seinem Gesang ablenken. Die unterschiedliche Einstellung zu Drogen tat ein übriges. Im März 1975 spielten Television zwei Gigs mit den New York Dolls. Malcom McLaren war von Heils Aussehen so begeistert, dass er (vergeblich) anbot, sich um die Band zu kümmern, und den neuen Look schließlich seinen Sex Pistols verpasste. Kurz daraufwaren sowohl Hell als auch die Dolls Johnny Thunders und Jerry Nolan arbeitslos; sie gründeten die Heartbreakers. Der Bruch mit seinem ehemals besten Freund hinterließ Narben, die nie vollständig verheilten: „Ich fühlte mich total verraten “ sagt er heute. Heils Nachfolger wurde Fred Smith von Blondie.

Musikalisch war Smith eine ideale Ergänzung. Die Band übte wie besessen und nahm eine Single auf, die Terry Ork auf seinem Label veröffentlichen wollte: den siebenminütigen Experimental-Song „Little Johnny Jewel“. Von Lou Reed bis zu Richard Lloyd (der deswegen für zwei Monate ausstieg) riet jedermann davon ab, aber Verlaine beharrte auf die Veröffentlichung. Er behielt recht: Das radikale Konzept sorgte für Aufsehen. Bald kam die Band mit dem Verschicken kaum mehr nach. Die 2000 im August 1975 gepressten Exemplare waren in ein paar Wochen ausverkauft. Jetzt reagierte die Industrie: Arista bot einen Vertrag an, aber Television lehnten ab (zu wenig Geld). Seymour Stein (Sire) wollte aus Television „die neuen Grateful Dead“ machen. Er bekam statt dessen Talking Heads und Ramones. Atlantic lud die Band ins Studio. Doch Präsident Ahmet Ertegun teilte dem Demo-Produzenten Jerry Wexler mit: „Ich kann diese Band unmöglich unter Vertrag nehmen. Das ist keine irdische Musik.“

Als sich mit Elektra im I uli 1976 doch ein passendes Label fand, schienen Television zum zweiten Mal ihren Moment verpasst zu haben. Inzwischen war Punk der letzte Schrei und ihr Ruf als Vorreiter verblasste. Für weitere Verzögerungen sorgte die Suche nach einem Produzenten. Verlaine wollte Rudy Van Gelder, den Blue-Note-Hausproduzenten, aber Fred Smith spielte ihm Stones- und Led-Zeppelin-Platten vor, die Andy Johns als Toningenieur aufgenommen hatte, und konnte ihn überzeugen. Johns wiederum war komplett andere Dinge gewohnt („Mein Eindruck war: Die können nicht spielen, nkhtsingen, unddieMusik ist sehr bizarr“) und gab nach einer Woche auf und den Job an seinen Assistenten Jim Boyer weiter. Als Johns nach Weihnachten 1976 zum Mix zurückkehrte, war er von den konzentrierten, perfekten Arrangements und dem reduzierten, trockenen, gänzlich auf die Songs zugeschnittenen Sound begeistert, mar-QUEE MOON, darin waren sich alle einig, war ein Meisterwerk- in jeder Hinsicht vollkommen.

Im Februar 1977 erschien das Album. In GB kam die Platte auf Platz 33, in den USA gar nicht in die Top 150. Aber Nick Kent war nicht allein, als er eine Seite im NME vollschrieb, die in der nüchternen Feststellung gipfelte: „In einer Million Bandsfindet man nur eines wie diese; ihre Songs gehören zu den größten aller Zeiten. “ Als Television ein Vierteljahrhundert später aus dem Debütalbum der Strokes ein spätes Echo entgegenschallte, wurden sie endgültig als das anerkannt, was sie waren: konkurrenzlose Pioniere und Meister einer bis dahin unerhörten Musik.