Titelgeschichte

Depeche Mode: Auf die Barrikaden, Kameraden!


Depeche Modes noch immer aktuelles Album SPIRIT erschien 2017. Nun, da Andy Fletcher mit nur 60 Jahren gestorben ist, aktualisieren wir unsere damalige Titelstory. Darin hieß es: Depeche Mode sind zurück mit SPIRIT, einem Album, das politisch aufgeladen ist, wie keines zuvor. Wir trafen Songschreiber Martin Gore in Santa Barbara, wo die neue Platte entstand. Der Mann macht sich Sorgen um das Wohl der Welt – und Witze darüber, dass sie ihn vielleicht bald rausschmeißen aus seiner kalifornischen Residenz.

Mr. Gore also. Was muss man 37 Jahre nach Bandgründung noch einmal vorab erwähnen zu diesem Mann? Der Kurzabriss, den die Ultras mitbeten können und die Nachrücker, die die Band womöglich tatsächlich erst mit der neuen Platte entdecken, noch nicht kennen, geht so: Martin Lee Gore, vor 55 Jahren im Londoner Vorort Dagenham geboren, aufgewachsen in der Grafschaft Essex, im Städtchen Basildon.

Als Teenager bekommt er gesagt, dass der Mann, den er Vater nennt, sein Stiefvater ist. Sein biologischer Vater, erfährt er, ist ein afro-amerikanischer Soldat, der in Großbritannien stationiert war. Etwa zur gleichen Zeit fängt er an, Songs zu schreiben. Nach der Schule spielt er in diversen Bands, bis er 1980 mit Andy Fletcher, Vince Clarke und Dave Gahan Depeche Mode gründet. Das Debüt SPEAK & SPELL erscheint 1981. Es dauert nicht lange, bis sich mit Singles wie „Everything Counts“ (1983) und „People Are People“ (1984) daraus eine Weltkarriere entwickelt. Feiner Teppichboden schluckt die Schritte auf dem Weg zu Zimmer 209. Gores persönliche Assistentin öffnet die Tür zur Suite mit Terrasse und Meerblick. Am Ende des Flurs, im Wohnzimmer an einem langen Tisch neben dem Kamin, sitzt er. Guten Morgen!

Gore springt auf, am Bund seiner Lederhose baumeln mehrere Schlüssel. Der Musiker, klein und schmal, mit gesunder Gesichtsbräune, bittet um Entschuldigung, zeigt die rechte Handfläche, lässt sie hinterm Rücken verschwinden, macht einen Diener und sagt: „Ich bin ein bisschen krank, ich will nicht, dass …“ Schon klar. Über Hustenschnupfenheiserkeit brauchen wir nicht reden. Der Tisch, an dem Gore Platz nimmt, ist Fünf-Sterne-Hotel-typisch präpariert: vier gekühlte Wasserflaschen für zwei Leute, eine Kaffeekanne, eine Teekanne, frisches Obst, aufgeschnitten und aufgefächert wie Spielkarten in Las Vegas, und ein einziger, nach Instant-Brechreiz aussehender, palmengrüner, frisch gepresster Gemüsesaft. Direkt vor Gore: eine Tasse mit Kaffee.

„Wenn es gleich noch einmal klopft, ist das die Mandelmilch“, sagt er. Aha. Dass Gore Vegetarier ist, wusste man. Ist er jetzt etwa ein California-Lifestyle-Irgendwasguru? „Mandelmilch“, wiederholt er, weil er weiß, wie das klingt, und setzt eine Kunstpause, „na weil ich doch eine Diva bin …“ Wieder das lustige, wohlklingende Zigarettenlachen.

Das letzte Album der Band, DELTA MACHINE, erschien im März 2013, vor ziemlich genau vier Jahren. 2015 veröffentlichte Gore dann MG, sein zweites Soloalbum, das erste mit selbstgeschriebenen Stücken. Wie entscheidet eigentlich seine Band, wann es an der Zeit ist, ein neues Album aufzunehmen? „Entscheidend ist natürlich“, sagt Gore, „dass die Songs geschrieben sind. Nachdem ich mit MG durch war, habe ich mich gleich daran gemacht, Stücke für die Band zu schreiben. Dave (Gahan) hatte nach seiner gemeinsamen Platte mit Soulsavers auch angefangen, Lieder zu schreiben. Als wir beide dann eine gewisse Anzahl an Stücken zusammen hatten, haben wir ein Treffen arrangiert.“

„Alle vier Jahre eine Platte, alle vier Jahre eine Tour. Langsam können wir die Uhr danach stellen“ – Martin Gore

Den Einwand, dass das bei dieser Ausführung ziemlich geschäftsmäßig klinge, hört Gore nicht sonderlich gern. Er hält diese zeitlichen Zusammenkünfte mit seinen Bandkollegen Gahan und Andy Fletcher, die in New York und in England leben, eher für Zufall: „Es ist allerdings schon seltsam. Seit SONGS OF FAITH AND DEVOTION haben wir alle vier Jahre ein Album veröffentlicht. Also alle vier Jahre eine Platte, alle vier Jahre eine Tour. Langsam können wir die Uhr danach stellen. Das ist gar keine bewusste Entscheidung – jetzt müssen wir mal wieder ins Studio, oder so. Wir drei haben alle Familien, Dave und ich dazu noch Soloprojekte. Dann müssen irgendwann die Songs geschrieben und ein Studio gebucht werden, und irgendwie hat sich dieser Vier-Jahre-Rhythmus immer so ergeben.“

Foto: Anton Corbijn / Musikexpress