Der grandiose Nachklapp


Einen besseren Vorlauf als 1976, als Punk und Disco explodierten, kann man nicht haben. Da braucht man nur noch die Scherben aufrieben und neu zusammensetzen. In Scherben lag Anfang ’77 fast alles, was in den zehn Jahren davor dem etwas älteren Musikkenner die Möglichkeit verschaffte, dem etwas jüngeren Musikhörer zu verdeutlichen, dass er sich mit diesem oder jenem erst mal richtig beschäftigen müsse. Led Zeppelin hatten mit dem Live-Album THE SONG REMAINS THE SAME die eigene Legende in einem AboTt voller Lärmgekrumpel versenkt, Queen vor Weihnachten endlich ein richtig doofes Album gemacht (a day atthe races), Fleetwood Mac sülzten die Charts mit RUMOURS-Pudding voll, die Eagles pressten aus hotel California soviel Pulver raus wie geht. Die Stones purzelten gelähmtauf Stadionbühnen rum und fragten sich, wer gerade die zweite Gitarre spielt, Rod Stewart schüttete sich mit kalifornischem Sekt zu und hielt Britt Eklund für erstrebenswerter als Ron Wood. Genesis ersetzten Peter Gabriel durch Phil Col-Iins, Yes überschwemmten die Ramschkisten mit Soloschrott, ehe sie sich zähneknirschend mit Wakemans Bier- und Tote-Tiere-Konsum abfanden. ELP bliesen Murks zu WORKS auf, Pink Floyd schleppten sich durch ein düsteres Bombast-Zynismus-Album, das keiner verstehen wollte; Roxy Music hatten keinen Bock mehr, als Bryan-Ferrari-Backing-Group zu tingeln, Black Sabbath schaufelten Ozzys Grab, Deep Purple lagen im eigenen schon drin (Gitarrist Tommy Bolin seit Dezember nicht nur im übertragenen Sinn). Der schöne Traum der New York Dolls hatte Kiss ausgerülpst. Marc Bolan versuchte sich im Koks-Delirium an seinen Vornamen zu erinnern, Slade tourten per Anhalter durch leere US-Kaschemmen, die RestGlam-Szene machte irgendwelchen Blödsinn oder kampierte vor dem Arbeitsamt. In Deutschland röhrten wackere Recken in Glitzerumhängen von Atomkraft und indischen Mandalas, und die Hoffnungen der Musikindustrie trugen Namen wie Supertramp, Starz und Boston.

Oder halt. Da war ja der Sommer ’76 gewesen, die Punk-Sache, als Londons Straßen brannten und die alten Idole battalionweise in den Mülltonnen verschwanden. Und? Punk war nach der Schließung des Roxy Anfang ’77 offiziell auch vorbei. Die Industrie hatte sich den Begriff „New Wave“ gegrabscht und ihn Figuren wie Tom Petty und No Dice um den Hals gehängt, die anknüpften, wo 1975 alles aufgehört hatte. Und Punk-Platten waren kaum welche erschienen, dafür ging alles zu schnell die Barrikaden hinauf und den Bach hinab. Es gab aber noch ein paar Verträge, die erfüllt sein wollten. Oder gekündigt: Die Sex Pistols vertrieben sich das Frühjahr mit dem Ätsch-den-Vorschussbehalten-wir-Spielchen und hopsten von Label zu Label; The Clash wieselten in ihrem Schlepptau rum und waren am Ende schneller. Im April erschien ihre Debüt-LP, von der fragmentierten Szene als Ausverkaufs-Nachklapp beschimpft und doch ein epochaler Meilenstein. Noch hurtiger waren The Damned: DAMNED DAMNED damned, von Nick Löwe in ungefähr einer Drei Viertelstunde „notproduced“, war schon im Februar fertig. Um die Dreifaltigkeit herum wimmelten die übriggebliebenen Bands, sahnten ab, was ging, oder dachten drei Ecken weiter: Die Stranglers hatten den besten Kommerzriecher, Ultravox! die kühnste, ähem, „Vision“, die Buzzcocks das Händchen für Singles, mit der Sriff-Bande (Costello, Löwe, Wreckless, Dury) wuchs eine neue Songwriter-Generaüon heran. In den USA mühten sich Ramones, Television, Blondie, Talking Heads und andere (vorläufig) vergeblich um Hitparadenplätze, während Patti Smith das Bedürfnis nach klassischem Rocken erkannte (aber 1977 nur live zu hören war). Und im November rollte nach der prächtigen Queen-Thronjubiläums-Sause doch noch das Pistols-Album in die Läden und war so böse, dass sein Titel nicht mal in den Charts abgedruckt werden durfte (auf Nummer eins, wo sonst). Weil die meisten Punk-Protagonisten es immer noch teuflisch eilig hatten und statt einem Album lieber zwei machten, wurde aus dem großen Nichts eine prall gefüllte Kiste mit ewigkeitstauglichen Meisterwerken einer ziemlich neuartigen Musik, die eigentlich schon vorbeigewesen zu sein schien. Gilt übrigens auch für Disco: Dass nach Donna Summers „Love To Love You Baby“-Gestöhn von Weihnachten’75 noch was nachkäme, hatte nach dem Bump-Desaster keiner gedacht. Dann kam „Saturday Night Fever“ in die Kinos, und am Ende tanzte sogar Frank Zappa im Goldlameanzug über Leuchtfliesen, und aus der Asche der One-Hit-Wonders erstanden Chic. Ach so, und freilich war das eingangs aufgefaltete Schreckensszenario sowieso bloß ein Trick, der darauf beruhte, David Bowie und Iggy Pop nicht zu erwähnen. Die machten 1977 LOW, HEROES, THE IDIOT und LUST FOR LIFE, und das hätte auch für zehn Jahre gereicht.

Das Establishment von müden End-2oer-Altrockern wurde ’77 von einer wuselnden Horde frecher Teenager abgeräumt und ausgetrieben – ein Aufbruchssignal, das weit über die öde Wüste des Folgejahrs hinauswirkte. Oder anders: Jeder, ob notgedrungen oder freudig, suchte in den Trümmern nach einem Neubeginn, „besann „sich auf „das Wesentliche – selbst Prog-Popanze produzierten plötzlich Vierminutensingles. Der Traum von der stetig sich weiterentwickelnden „Gegenkultur“ war mit einem Schlag verflogen; übrig blieb das Skelett – der nackte Waren- und Produktcharakter der Popmusik, den die einen verschämt benützten, um ihre Rente zu sichern, und die anderen mit zynischer Lust zelebrierten. So markierte 1977 auch einen Schlusspunkt: Seither muss die Popmusik zwanghaft immer wieder „bei null“ anfangen und unterliegt demselben Zukunfts- und Innovationswahn wie die meisten Bereiche der modernen Kultur.«