Der Groove Großhandel


Gerade mal 27 Jahre ist er jung, doch als Geschäftsmann schon ein alter Hase. Das Soul II Soul-Imperium, das sich der DJ Jazzie B aufgebaut hat, platzt aus allen Nähten. ME/ Sounds-Mitarbeiter Rolf Lenz machte in London eine Werksbesichtigung.

„Jetzt vergeßt halt endlich Cliff Richard und Paul McCartney„, forderte der Londoner „Evening Standard“ Mitte März seine Leser auf. Nach einem Blick über den Atlantik befand die Tageszeitung: „Wenn Amerikaner an britische Musik denken, denken sie zuerstmal an Soul II Soul.“

Doch wie so oft gilt der Prophet im eigenen Lande weniger als in der großen weiten Welt. Obwohl Soul II Soul auch in Großbritannien Unmengen Platten verkauft haben und zu Gold- und Platin-Ehren kamen, gingen sie bei der diesjährigen Verleihung der British Music Awards leer aus. Nicht so in den Staaten, wo sie erst zwei „Grammies“ und wenige Wochen später nochmal drei Preise der Fernsehsendung „Soul Train“ einheimsen konnten. Aus Amerika kam auch eine Auszeichnung besonderer Art: Bereits letztes Jahr ehrte die Vereinigung zur Förderung Farbiger (NAACP) Soul II Soul-Chefdenker Jazzie B für seine Verdienste um die eigene Rasse, Daß es sich bei Beresford Romeo (so sein bürgerlicher Name) nicht bloß um irgendeinen 27jährigen Farbigen mit dem richtigen Dancefloor-Riecher handelt, ist inzwischen sogar der bürgerlichen britischen Presse aufgefallen: Blätter wie die „Sunday Times“ erklärten Jazzie zum Vorbild für sämtliche schwarze Jugendliche der Insel. Der Mann hat nämlich nicht nur als Musiker und Produzent Erfolg – unter dem Namen Soul II Soul firmieren außerdem ein Platten-Label, ein Studiound Büro-Komplex im Londoner Stadtteil Islington, zwei Boutiquen, ein PA-Verleih sowie diverse Discjockeys. die rund um die Welt im Einsatz sind.

„Außerdem ist gerade das neue Album fertig geworden“, fügt Jazzie B hinzu, stellt sein vegetarisches Abendessen auf einem Tisch ab und räkelt sich auf dem Studio-Sofa. Er ist zufrieden. Und geschafft: Der Arbeitstag dauert schon wieder 13 Stunden, 16 werden es wohl noch werden. Um uns herum wuseln mindestens 20 Soul II Soul-Mitarbeiter. Ein Drittel ißt und raucht, ein Drittel tobt vorm Fernseher, der Rest arbeitet an Solo-Aufnahmen für Sängerin Victoria Wilson-James.

Wird das nicht manchmal zuviel, wächst ihm der Trubel nie über den Kopf?

„Ne – alles, was ich tue, macht mir Spaß. Ich betrachte das auch nicht als Arbeit. Wenn ich wirklich mal Ruhe brauche, verbringe ich viel Zeit mit meiner Mutter, gucke Videos, lese und – glaub’s oder glaub’s nicht – höre mir Platten an.“

Mit dem Platten-Auflegen hat auch alles angefangen: Die erste Party, die Jazzie beschallte, war seine eigene Grundschul-Abschlußfeier – Jazzie war gerade 11 Jahre alt. Die Anlage stellten damals seine älteren Brüder, die sich als Discjockeys mit eigenem Sound-System bereits einen Namen („El-Rico“) gemacht hatten. Wenige Jahre später traten Jazzie (damals: „Master B“) und sein Kumpel Philip Harvey („Papa Harvey“) als „Jah Rico“ in ihre Fußstapfen. Sie legten bei Schulfesten, Haus-, Schul- und Straßen-Parties Reggae auf, hatten bald eine feste Fan-Gemeinde und begannen zu expandieren – stilistisch und personell.

„Jah Rico“ mixten Reggae zunehmend mit Funk, Hip Hop, Calypso und tanzbarem Soul aller Art, nahmen erst einen („Q“), dann noch zwei Discjockeys („Soul Mole HB“ und „Sammy Dread“) hinzu und nannten sich mit wechselndem Musik-Spektrum „Soul To Soul Rico“, später „Soul II Soul Hi-Tec“ und schließlich nur noch „Soul II Soul“.

Besonders gute Mixes schnitten sie auf Azetat-Platten, sogenannten „Dubplates“ mit. Diese Spezialplatten lassen sich zwar nur ein paarmal abspielen, waren aber grandiose Reklame und sorgten dafür, daß Soul II Soul bald in der ganzen Stadt auflegten, selber Spektakel für bis zu 5000 Tanzwütige veranstalteten und damit zu einem integralen Bestandteil der Warehouse Party-Szene wurden.

Zum akustischen Image kam schließlich auch ein optisches: Um sich von den hüpfenden Massen abzuheben, trugen die fünf Soul II Souler (inzwischen nannten sie sich Jazzie B, Daddae Harvey. Jazzie Q, Aitch B und Sparky D) eigens entworfene T-Shirts mit graffitimäßigen Aufdrucken. Eines schicksalsträchtigen Tages ließen sich Aitch und Jazzie B unabhängig voneinander einen neuen Haarschnitt verpassen (oben Dreadlock-Würstel, an den Seiten rasiert) und kreierten damit die Optik der Funki Dreds.

Daraufhin wurden sie von einem ihrer Party-Gäste, dem jungen Künstler Derek Yates angesprochen. Yates entwarf neue T-Shirt Motive, die so gut ankamen, daß Soul II Soul schon bald zu jeder Veranstaltung mit eigenem Merchandising-Stand anrückten. Während er an einem Londoner College Scratchen und Mixen unterrichtete, machte Jazzie B außerdem die Bekanntschaft der Designerin Nicolai Bean, die sich fortan um Ausstattung und Kulissen der Warehouse Parties kümmerte.

Mit der Warehouse-Szene ging es allerdings zügig bergab, seit sich immer mehr skrupellose Geschäftemacher ins Partyleben mischten und erst die Presse, dann das Gesetz auf den Plan riefen – dasselbe, was momentan den Acid House/ Rave-Veranstaltern passiert. Soul II Soul suchten ein neues Standbein, begannen sonntagabends im „Africa Centre“ in Covent Garden aufzulegen und machten innerhalb eines Vierteljahres aus dem bis dato unbekannten afrikanischen Gemeindezentrum eine Club-Attraktion mit illustren Herrschaften wie Run DMC und den Beastie Boys im Gästebuch.

Gleichzeitig schrie der Kreativ-Output von Derek Yates und Nicolai Bean nach weitergehender Vermarktung, und mit vereinten Kräften richtete sich die Soul II Soul-Crew ihren ersten Laden ein. Warum das Geschäft zweimal umziehen mußte, bis es im Untergeschoß von Camden High Street 162 eine dauerhafte Bleibe fand, merkt die Kundschaft spätestens auf der Treppe in den Keller: „Bum bum tschak! Bum bum tschak!“, dröhnen einem schwere Hip Hop-Rhythmen entgegen. Zum Laden gehört auch ein DJ samt discotaughcher Anlage. und wer bei Soul II Soul einkaufen will, muß trainierte Ohren mitbringen, sonst treiben ihn ohrenbetäubende Beats und Bässe sofort wieder auf die Straße.

Neben den Yates-Shirts. mit denen alles begann, bekommt man hier – nicht gerade billig, aber auch nicht über die Maßen teuer – die komplette Funki Dred-Grundausstattung: T-Shirts, Sweater. Jogging-Anzüge von Baumwolle bis Seide, Schuhe, Lederjacken. Anhänger, Gürtelschnallen sowie neue und gebrauchte Dancefloor-Scheiben. Auffälligster Wand-Behang: Gold- und Platin-Auszeichnungen für Soul II Soul-Platten.

Die erste Single „Fairplay“ erreichte in England Platz 63, und bereits mit „Back To Life“ hatten Jazzie B & Co. ihren ersten Nummer-eins-Hit. Der Rest ist längst Geschichte: Im letzten Sommer tönten Soul 11 Soul aus sämtlichen Radios, Ghettoblastern und Discos und ihr Bestseller-Album CLUB CLASSICS VOL. ONE trägt seinen anmaßenden Titel (der, so Jazzie B., „natürlich nur ein Witz war‘) zweifellos zu Recht.

„The future for Soul II Soul?“, fragte sich Jazzie B in der letzten Nummer des ersten Albums und antwortete mit dem Funki Dred-Motto: „A happy face, a thumping bass, for a loving race.“ Inzwischen ist VOL. TWO erschienen – laut Jazzie „musikalisch und geßhlsmäßig der logische nächste Schrill“. Diesmal sind „mehr Instrumente“ geboten, außerdem neue Stimmen (Lamnia, Kym Mazelle, Victoria Wilson-James), und Saxophonist Courtney Pine ist ebenfalls mit dabei. Ab Ende Juni/Anfang Juli soll’s dann endlich für fünf bis sieben Monate auf ausgedehnte Tournee durch Japan, die Staaten und Europa gehen.

Derweilen sind die übrigen Soul II Soul-Unternehmungen keineswegs auf Eis gelegt: Seit Herbst ’89 gibt es einen zweiten Laden in der Tottenham Court Road 47 – weitere Filialen, z.B. in Los Angeles und Japan, sind in Planung. Das „Africa Centre“ existiert nicht mehr, dafür legen die Soul II Soul-DJs jetzt jeden Freitag im „Fridge“ in Brixton und sonntags im „Rocket“ in der Holloway Road auf. Auch der P.A.-Verleih floriert, und in der Kundenkartei finden sich neben Bands wie The The, Coldcut oder Bomb The Bass auch die Auktionshäuser Sotheby’s und Christie’s.

Das neue Album und die Single „Dream’s A Dream“ erscheinen noch bei der bisherigen Firma 10 Records; wenn die bestehenden Verträge abgelaufen ist. wird das eigene Soul II Soul-Plattenlabel verantwortlich zeichnen, das mit Victoria Wilson-James, Lamnia und Jimi Polo bereits drei weitere Pferde im Stall hat. „Nicht in allernächster Zukunft, aber so in zwei, drei Jahren“ hofft Jazzie B eine komplette Plattenfirma sein eigen zu nennen, um die Soul II Soul-Geschicke komplett in der eigenen Hand zu haben.

„Wir machen“, so der Chef-Stratege, „nun mal nicht nur Musik, sondern spielen ein völlig neues Spiel. Wir haben unser Unternehmen ganz bewußt so angelegt, daß wir anderen talentierten Leuten eine Plattform geben können. Mit Soul II Soul möchte ich beweisen, daß auch Farbige in England etwas auf die Beine stellen können. Mein größter Erfolg wäre es, wenn sich das lädierte Selbstbewußtsein meiner schwarzen Brüder an unserem Beispiel aufrichten könnte.“

Obwohl der gemutuch-runde Mr. Romeo unumstritten im Zentrum des Geschehens steht und im Zweifelsfall immer das letzte Wort hat, funktioniert sein wachsendes Imperium in erster Linie nach dem Prinzip eines vergrößerten Familien-Unternehmens. „Mehr als drei oder vier sind’s bestimmt“, lacht der Boss auf die Frage nach der Zahl seiner Mitarbeiter – Tatsache ist: Jazzie hat keine Ahnung, wieviele Leute insgesamt für Soul II Soul arbeiten. Neben diversen Brüdern, Schwestern, Vettern und Kusinen sind da vor allem seine vier Kumpel aus der Gründerzeit: Aitch B leitet heute sämtliche Laden-Geschäfte, Sparky D organisiert die Versand-Abteilung, Jazzie Q und Daddae Harvey kümmern sich ums Club-Geschehen, den Discjockey-Nachwuchs und arbeiten als A&R-Abteilung/Demo-Cassetten-Vorkoster fürs Platten-Label.

Hinter dem steten Aufstieg vom Sound System/Discjockey-Duo zu Dancefloor-Weltstars und einem expandierenden Kultur-Unternehmen steckt kein meisterlich ausgeklügelter Plan, sondern „das ist einfach so passiert“, zuckt Jazzie B die Achseln. Jedes neue Projekt war ein natürlicher Fortschritt, der sich aus dem Vorangegangenen quasi logisch ergab. Außerdem ist das ganze Unternehmen immer ein Gemeinschafts-Ding.“ Wieder grinst er. „Und wir werden immer mehr und mehr …“

In der Nordlondoner Bntannia Row entsteht gerade das neue Soul II Soul-Hauptquartier mit Büros und Studios, Übungs- und Lagerräumen, damit die momentan über die ganze Stadt verteilten Unternehmenszweige „endlich unter einem Dach zusammenkommen“. Teamwork und innerbetriebliche Kommunikation sind zwei Grundfeste der Club-Kultur und werden in der Funki Dred-Philosophie mindestens so groß geschrieben wie der gute Draht zur Kundschaft.

Wenn Jazzie und sein Studiopartner Nellee Hooper neue Grooves ausgetüftelt haben, schneiden sie davon nach wie vor Azetat-Platten und testen im nächtlichen Club-Einsatz die unmittelbare Publikums-Wirkung. Und als Soul II Soul für die anstehenden Live-Auftritte neue Tänzer suchten, wandten sie sich nicht an entsprechende Agenturen, sondern veranstalteten ein offenes Vortanzen: 500 bis 600 Bewerber, drei machten das Rennen. „Wir möchten sicher gehen, daß wir nichts verpassen, was im Club-Bereich passiert. Außerdem wollten wir damit allen zeigen, daß sich immer noch jeder an uns wenden kann.“