DIE GEBRÜDER BASS


Reigate in der südenglischen Grafschaft Surrey ist ein seltsamer Ort. Es gibt dort gefühlt 300 Regentage pro Jahr, mehr Pubs, als 20 000 Einwohner eigentlich vertragen können, und zwei ziemlich unwahrscheinliche Popstars. Mit ihren verwuschelten Undercuts und aufgekrempelten T-Shirt-Ärmeln sehen Guy und Howard Lawrence aus wie viele andere Teenager und Frühzwanziger, die im Einzugsgebiet eines American-Apparel-Ladens leben. Aber wenn sie hinter ihren Laptops hervorkriechen, warten nicht Schulbücher, sondern Tausende von Fans auf den nächsten Drop. Seit ihrer ersten Maxi „Offline Dexterity“ aus dem Jahr 2010 – Howard war damals gerade einmal 15, Guy soeben volljährig – gelten sie als Speerspitze einer neuen Generation von Dance-Produzenten, die mit fast altkluger Souveränität verschiedenste Einflüsse aus 40 Jahren Clubkultur vermengen. Ihr seltsam sauberer Sound hat etwas augenblicklich Zeitloses. Stücke wie ihr Remix zu Jessie Wares „Running“ oder „Latch“ mit dem Londoner Sänger Sam Smith klingen wie lieb gewonnene Klassiker, die man vielleicht schon ein bisschen zu oft gehört hat, die einem im rechten Moment aber immer noch ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern vermögen. Unmittelbar vertraut, vielleicht ein bisschen glatt, aber dennoch großartig und vor allem: groß. Ihre aktuelle Single „White Noise“ mit AlunaGeorge schaffte es im Frühjahr bis auf Platz zwei der UK-Singlecharts. Seitdem touren die Brüder durch das Königreich und werden auch in den USA als Posterbuben einer neuen transkontinentalen House-Bewegung herumgereicht. Die Superstars aus dem Kinderzimmer.

Im Sound von Disclosure vereinen sich zwei verwandte Stränge der jüngeren britischen Popgeschichte: der neue, von der Clubkultur beeinflusste R&B von Jessie Ware, AlunaGeorge und Jamie Woon (die allesamt auf SETTLE zu hören sind); und eine leicht aufgefrischte Version von UK Garage, mit dem Ende der 90er-Jahre erstmals die Lieblichkeit amerikanischer R&B-Produktionen Einzug in das Londoner Bass-Kontinuum hielt. „Für uns ist Garage die perfekte Partymusik: Man kann mitsingen und sich amüsieren, aber sich gleichzeitig noch cool genug fühlen“, erklärt Howard mit einem Schmunzeln. „Dabei hatten wir zuerst keine Ahnung, was Garage überhaupt ist. Wir haben den Sound erst durch Leute wie Burial, Joy Orbison oder James Blake entdeckt, die alle stark davon beeinflusst sind.“ Auch in dieser Hinsicht sind Disclosure stellvertretend für ihre Generation. Sie sind zu jung, um jemals in einschlägigen Clubs und Partyreihen wie dem „Shoom“, der „Sound Factory“ oder bei „FWD>>“ gewesen zu sein – aber vernetzt und schlau genug, um selbst durch mehrere Meta-Ebenen hindurch die euphorisierende Essenz von Körpermusiken wie House oder R&B destillieren zu können. Wenn Disclosure in den USA auftreten, wird Howard von einem Aufpasser zum Auftritt und direkt nach dem letzten Stück wieder aus dem Club eskortiert. Trotzdem klingen seine Hooks und Keyboard-Sounds, als bewege er sich seit Jahren stilsicher auf den besten Tanzflächen der Welt.

Aber vielleicht sind die Tanzflächen gar nicht mehr so wichtig. Beziehungsweise: Vielleicht haben sich auch die Tanzflächen verändert. Da ist zum Beispiel der Boiler Room: ein Hybrid aus Club, globaler Veranstaltungsreihe und noch globalerem Medienunternehmen. Die Idee ist einfach: Ein DJ legt mit dem Rücken zu einer extra-exklusiven Runde aus Kollegen, Schnittchenjägern und sonstigen Berufshipstern auf – und die Webcam schickt das (Nicht-)Spektakel live und direkt um die Welt. Dazu dürfen sich im Chatroom all jene über die Künstler und Raver auslassen, die nicht da sein können, weil sie zu jung, zu uncool oder nicht in den Metropolen London, Berlin und L. A. beheimatet sind (oder alles zusammen). Die weniger zynische Variante geht so: Seit der Gründung von Boiler Room im Jahr 2010 können Musikinteressierte auf der ganzen Welt die neuesten Mikrotrends beinahe in Echtzeit mitverfolgen, ohne dafür Unsummen in Vinyl oder Nachtbusfahrten investieren zu müssen. Thom Yorke und Caribou haben hier gespielt. Jamie xx und SBTRKT sind Stammgäste. Acts wie Mount Kimbie verdanken ihren Erfolg zu nicht unerheblichen Teilen der Plattform. Was MySpace für die Beats-Blase um Flying Lotus und Hudson Mohawke war, sind Soundcloud und eben Boiler Room für die Bass- und House-Produzenten der Jetztzeit.

Auch Disclosure verdanken der Plattform ihre Existenz. Zwar kommen sie aus einer künstlerischen Familie – der Vater tourte mit diversen Bands, die Mutter komponierte für Werbung und Film, sie selbst spielten schon in jungen Jahren Instrumente – und waren stets von Musik umgeben. Doch Clubkultur entdeckten sie erst im Internet durch Produzenten wie Burial. „Von diesem Punkt aus haben wir uns rückwärts durch die Musikgeschichte gearbeitet und sind so bei frühem Dubstep, Garage, HipHop und House aus Chicago und New Jersey gelandet. Wir sind Riesenfans von Todd Edwards und Masters At Work, aber auch von A Tribe Called Quest und J Dilla. Wir waren sogar seinetwegen in Detroit und haben sein Haus besucht.“

Diese Vielfalt spiegelt sich auch auf SETTLE wider. Neben Tracks in der urbritischen Grauzone zwischen 130 und 140 bpm finden sich auf dem Album auch klassische House-Tempi, HipHop-Beats und extrem zurückgenommene, fast folkige Stücke. Manche leben eher vom Drum-Programming des Feierbiests Guy, andere eher von den kompositorischen Einfällen des Studio-Nerds und Gelegenheitssängers Howard. Die meisten von der Kombination aus beidem. „Wir wollten einfach gute Tracks machen, die man auch am Stück durchlaufen lassen kann. Kein Mensch will eine Stunde lang nur 4/4-Gebollere hören, oder?“ Das mag man in gewissen mitteleuropäischen Metropolen zwar anders sehen, aber aus der Perspektive Disclosures ergibt die Vielfalt Sinn. Sie sind in erster Linie Musiker und erst in zweiter Linie DJs. Theoretiker sind sie nicht. „Die Leute schreiben, dass wir Garage zurückgebracht haben und die stilprägende Band unserer Zeit sind. Das sehen wir nicht so. Wir verfolgen kein Konzept. Wir machen einfach drauflos und wollen, dass dabei alles so gut wie möglich klingt. Wenn wir damit auf dem Coachella Festival vor 15 000 Leuten spielen können oder auch nur einen Typen in seinem Kinderzimmer dazu inspirieren, Musik zu machen, so wie seinerzeit Burial uns inspirierte, dann sind wir glücklich.“ Scheint, als wäre Reigate, Surrey nicht nur ein seltsamer, sondern auch ein sehr glücklicher Ort.

Albumkritik S. 82