„DIE LEUTE GLAUBEN, ICH BIN ERLEDIGT“


Anno 2008, als die Gagamanie so richtig ins Rollen kam, hatte man oft das Gefühl, der Frau überhaupt nicht mehr entkommen zu können. Da gab’s zunächst einmal ihre Hits („Poker Face“,“Telephone“ oder „Bad Romance“, um nur drei der bekanntesten zu nennen), provokante Performances wie die mit dem Fleisch-Kostüm oder der Grammy-Auftritt in einem gigantischen Ei, dann aber auch einen schier endlosen Strom geschickt inszenierter Kontroversen. Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, als würde Madame Germanotta eigentlich nichts anderes tun, als jeden Tag eine neue mediale Lawine loszutreten.

Genau das Gegenteil sei der Fall gewesen. „Ich hab mich zu Hause regelrecht verkrochen“, sagt sie, als ich sie am Abend vor dem iTunes-Festival im Londoner „Roundhouse“ treffe. „Ich versteckte mich, um das Image des Superstars länger konservieren zu können – für meine Fans! Ich wollte, dass sie stets nur meine beste Seite zu sehen bekommen. Aber dummerweise trieb mich dieser Zustand auch in den Wahnsinn. Also nahm ich mir vor, wieder häufiger aus meinem Loch zu kriechen. Können Sie sich vorstellen, nicht mehr zu wissen, wie sich Wind anfühlt? Und ich übertreibe nicht, wenn ich sage: Ich hab seit Jahren nicht mehr richtigen Wind auf meiner Haut verspürt.“

Gaga legt Wert darauf, dass ihre Fans immer in der ersten Reihe sitzen, möchte andererseits aber auch vermeiden, dass man sie in ihrem stinknormalen Alltag erlebt. „Man würde mir doch nur dabei zusehen, wie ich in irgendein austauschbares Gebäude gehe, dann in die Tiefgarage zu meinem Auto, von dort in eine andere Garage fahre, meine Proben durchziehe, dann das Gleiche noch mal von vorne – und so weiter und so fort, ein Land nach dem anderen. Ich setzte meinen Fuß überhaupt nicht mehr vor die Tür! Ich erinnere mich, dass einer meiner längsten Fußmärsche darin bestand, auf dem Rollfeld vom Auto zum Flugzeug zu gehen.“

Bei ihrer morgigen Performance wird sie eine Nummer ihres neuen Albums ARTPOP präsentieren – und dabei auch eine Zeile singen, für die sie Fans lieben und Kritiker mal wieder verdammen werden: „My art-pop could mean anything.“ Für die wachsende Zahl der Lästermäuler wird es ein willkommener Anlass sein, über einen identitätslosen Megastar herzuziehen, der leere Worthülsen drischt, die erst im Nachhinein mit vermeintlicher Bedeutungsschwere aufgeplustert werden. Für ihre Hardcore-Fans, auch „little monsters“ genannt, wird sie natürlich nicht nur der größte Popstar aller Zeiten bleiben, sondern auch ihr kultisch verehrter Leader: Das Mantra der Selbstliebe, das sie auf ihrem letzten Album BORN THIS WAY in Stein meißelte, ist ihnen so heilig wie die Bibel.

Vielleicht weil sie sich ihrer (mehr denn je) polarisierenden Wirkung bewusst ist, geht Gaga heute umgehend in die Charme-Offensive. Gleich zu Beginn drückt sie mir einen Kuss auf die Backe – und macht sogar meinen Schuhen ein dickes Kompliment. (An einem Punkt unseres Gesprächs beugt sie sich nach unten, um mit den Fingern über das Material zu streichen.) PR-Mann wie auch Manager, die beide durch die Tür spiekern, erhalten den Auftrag, „sich gefälligst still zu verhalten“. Sie selbst fläzt sich in einen altmodischen Sessel und hängt ihr Bein so über die Lehne, dass ihr gigantischer Stöckelschuh pausenlos hin und her baumelt. Doch selbst wenn sie demonstrativ das Verhalten eines wohlerzogenen Kleinkindes an den Tag legt: Die wilde Entschlossenheit, die aus jedem ihrer Worte spricht, kann sie auch damit nicht überspielen. Natürlich weiß sie, dass BORN THIS WAY noch sechs Millionen Alben verkauft hat, ihre Charts-Dominanz aber doch langsam zu schwinden beginnt. „Marry The Night“, die letzte Single, verpasste zum ersten Mal die amerikanischen Top 10. Und nachdem „Applause“, die erste ARTPOP-Auskopplung, offensichtlich in keinem wichtigen Territorium an die Spitze der Charts schoss, kann man die Unruhe im Gaga-Lager mit Händen greifen.

Vor ein paar Wochen nutzte sie Twitter, um ein Zitat von Michael Jackson unter ihre Follower zu bringen: „Je größer der Star, desto größer die Zielscheibe.“ Könnte es sein, dass sie sich damit selbst meint?

„Natürlich tu ich das“, sagt sie ohne zu zögern. Ihr hautenger Jogginganzug verrutscht mit jeder Bewegung. „Manchmal hab ich sogar den Eindruck, als seien die Leute überrascht, dass sie mich noch immer nicht fertiggemacht haben.“

Sie greift zum Strohhalm ihres Drinks und nimmt einen geräuschvollen Zug. „Die Vorstellung, mich im Staub liegen zu sehen, muss ihnen doch einen Kick geben, eine innere Befriedigung. Für gewisse Leute ist es fast schon ein Sport, Lady Gaga niederzumachen -auch wenn sie noch keine Ahnung haben, wie mein neues Album klingt und wie viel Arbeit ich da reingesteckt habe. Letztlich wissen sie gar nichts von mir. Sie können sich auch nicht ausmalen, was ich von mir investieren musste, um überhaupt an diesen Punkt zu gelangen. Folglich kratzt mich ihre Kritik auch nicht, aber es ist schon ein interessantes Lehrstück darüber, wie unsere Gesellschaft funktioniert.“

Bevor ich überhaupt die Gelegenheit habe, kommt sie selbst auf den Erfolg von „Applause“ zu sprechen – oder in diesem Fall eher: das Ausbleiben des Erfolgs. „Nicht mal zwei Wochen sind vergangen, seit die erste Single auf dem Markt ist – und schon heißt es: ,Sie ist am Ende, sie ist erledigt.‘ Nur weil ich noch nicht auf Platz eins bin, bin ich schon ,abserviert‘. Die Leute scheinen sich weniger für die Musik zu interessieren als für die Zahlen dahinter. Aber wer glaubt, dass ich mich für Geld krumm mache, kennt meinen künstlerischen Ehrgeiz nicht.“ Sie denkt kurz über ihre Worte nach und fährt fort: „Wenn man erst einmal ein paar Nummer-eins-Hits gehabt hat, braucht man diese Art von Bestätigung auch eigentlich gar nicht mehr.“

Dass „Applause“ kommerziell nicht mehr in früherem Umfang zündet, begründen einige Beobachter mit der Tatsache, dass es inzwischen nur noch um Gaga und ihre mentalen Wehwehchen zu gehen scheine. Sie schrieb den Song Anfang des Jahres, nachdem sie die letzten Termine ihrer „Born This Way Ball“-Tour absagen musste. Sie hatte Probleme mit ihrer Hüfte, saß zeitweilig im Rollstuhl und musste sich letztlich einer Operation unterziehen. Der Song thematisiert das Bedürfnis – ihr Bedürfnis -, auf die Bewunderung der Menge nicht verzichten zu können.

Sie hatte ursprünglich geplant, die Operation vor ihren Fans geheim zu halten – um ihnen einmal mehr die Konfrontation mit der unschönen Realität zu ersparen -, doch der Versuch, den Rest der Tournee unauff.shortällig über die Bühne zu bringen, erwies sich als nicht praktikabel. „Ich konnte schon zwei Wochen vorher nicht auf den Rollstuhl verzichten“, sagt sie. „Natürlich haben alle Leute über meinen goldenen Rollstuhl gelästert, aber meinen Fans gegenüber wollte ich zumindest noch einen Hauch von Haltung dokumentieren. Sie waren beunruhigt und aufgebracht.“

Die Unterstellung, dass es in „Applause“ nur um ihre eigene Befindlichkeit gehe, lehnt Gaga rundweg ab. Wie jeder Lovesong habe auch diese Nummer eine universelle Gültigkeit. „Es ist so bezeichnend, dass die Leute prompt glauben, es gehe nur um mich“, sagt sie kopfschüttelnd, klingt dabei aber nicht wirklich überzeugend. „Ich wünsche mir, dass auch sie dieses Gefühl haben, dass sie morgens aufwachen und sagen: ,Ich leb für euren Beifall, schaut mich an, ich bin gut drauf, ich geh jetzt zur Arbeit, ich treff mich nachher mit meinen Freunden zu einem wundervollen Lunch.‘ Aber man sollte auch nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Deshalb mache ich mich in den Lyrics auch darüber lustig, was die Leute gewöhnlich unter Ruhm verstehen.“

Es ist dieser Humor, den ihre Kritiker heute gerne ignorieren – oder zumindest schneller übersehen, seit sie mit dem erhobenen „Wir sind alle gleich“-Zeigefinger von BORN THIS WAY für einige Irritationen sorgte. Wie bei Michael Jackson hat man auch bei Gaga oft den Eindruck, als würde der „biggest pop star on earth“ Musik gar nicht mehr für den durchschnittlichen Pop-Konsumenten machen, sondern nur noch für die ersten 20 Reihen mit gestylten, Banner-schwenkenden Gaga-Getreuen. Wenn Sie von Ihren Fans sprechen, frage ich sie, wen meinen Sie da überhaupt? „Ich meine alle. Alle, die zuschauen.“

Sie räumt ein, dass es manchmal „unangenehm“ sein könne, sich in einen Popstar zu vergucken, der unter der glanzvollen Oberfläche noch mit Eigenschaften aufwartet, die niemand erwünscht oder auch nur erwartet hatte. „Plötzlich nimmt der Popstar sein Schaffell ab – und man sieht dieses schmuddelige, subversive Metal-Mädchen aus dem New Yorker Underground, das pausenlos über Gleichberechtigung dröhnt und darüber, dass man sich selbst lieben muss. Aber ich hab nun mal meine Wahl getroffen“, sagt sie. „Ich hab diese Wahl getroffen, weil ich jedermann klarmachen wollte, dass es bis zum Ende meiner Karriere immer diese Person geben wird -egal, welches Outfit ich gerade darüber trage. Was meine Message betrifft, gehe ich mit ARTPOP vielleicht schon in eine neue Richtung, aber BORN THIS WAY drehte sich tatsächlich genau um diese Botschaft.“

Haben Sie von vorneherein damit gerechnet, auf Ihrem Weg Fans zu verlieren?

„Dass ich nur mit denen kommuniziere, die meine Message wirklich brauchen, gibt mir durchaus ein gutes Gefühl. Gleichzeitig bin ich aber auch davon überzeugt, dass sich so viele großartige Songs auf dem Album befinden, dass es ein breites Publikum finden wird. Die Leute können sagen, was sie wollen, sie können sich darüber lustig machen, dass ich das Leben meiner Fans verändert habe, oder alles einen großen Bluff nennen – aber sie können nichts an der Tatsache ändern, dass ich mit dieser Tournee die entferntesten Orte der ganzen Welt besucht habe.“ An diesem Punkt klappert sie die Kapazitäten diverser Hallen ab, lässt sich von ihrem Manager noch ein paar Fakten bestätigen und fügt dann beiläufig an: „Ich weiß, dass gewisse Leute behaupten, einige Shows in den USA seien nicht ausverkauft gewesen. Was in keiner Weise stimmt. Wir haben jede Halle in der ganzen Welt ausverkauft – und jeden Abend habe ich meine Fans gesehen, die Leute in den ersten Reihen, von denen Sie sprechen, ich habe ihre Tränen gesehen, ihre ehrliche Unfähigkeit, nicht von den eigenen Gefühlen überwältigt zu werden – und das alles, weil sie sich verstanden und akzeptiert fühlen. Das bedeutet mir mehr als das Schreiben eines neuen Popsongs.“

Wir sprechen kurz über die MTV Video Music Awards, die sie mit einer bemerkenswerten, an Botticelli erinnernden Performance von „Applause“ eröffnete. Doch selbst ihr eigenwilliger Auftritt wurde prompt überschattet von Miley Cyrus und dem halb nackten Kopulationstanz mit Robin Thicke.

„Der tiefere Sinn meiner Performance bestand nicht darin, mir die Kleider auszuziehen – wenn Sie wissen, was ich meine. Ich wollte stark sein und schön und selbstbewusst. Es hat mich auch nicht gestört, dass es dort eine andere Performance gab, die viel Aufmerksamkeit auf sich zog. Es gibt keine Konkurrenz. Ich mache, was ich mache – und sie machen, was sie machen. Ist es nicht toll, dass all das passiert und alles für die Nachwelt aufgezeichnet wird? Nicht nur die substanziellen Dinge bleiben, sondern alles wird für die Nachwelt erhalten.“

Es passiert selten, dass sich ein Popstar ihrer Größenordnung überhaupt eine Blöße gibt, doch Gaga scheint – zumindest auf der Oberfläche – zu signalisieren, dass ein leichtes Absacken der Verkaufszahlen noch lange kein Beinbruch ist. Mehr noch: Sie ist sich wohl sogar der Notwendigkeit bewusst, nach BORN THIS WAY die Weichen neu stellen zu müssen.

„In den letzten Jahren hab ich wirklich versucht, viel von dem Schmerz zu verdrängen, der sich in der Vergangenheit angestaut hatte“, sagt sie zum Ende unseres Gesprächs. Als sie beim Auftritt im „Roundhouse“ ihren neuen Song „Swine“ vorstellt, präsentiert sie ihn mit den Worten: „My heart, my skin, my pussy felt like trash.“ Fast klingt es so, als wolle sie uns in ein dunkles Kapitel ihres früheren Lebens einführen – und uns damit auch einen Hinweis auf ihre weitere Karriere geben? Ist sie vielleicht an dem Punkt angelangt, wo sie ihr langjähriges Versteck verlassen kann? Wo sie sich auch ihren Fans so zeigen kann, wie sie wirklich ist?

„Metaphorisch gesprochen, stellte ich mich für ARTPOP vor den Spiegel, riss die Perücke herunter, wischte mir das Make-up ab und zog das Kostüm aus. Dann streifte ich mir einen schwarzen Catsuit mit schwarzer Haube über, schaute in den Spiegel und sagte: ,Okay, nun beweis ihnen, dass du auch ohne Verkleidungen brillant sein kannst.‘ Und genau darum geht es in ARTPOP. Ich wusste eines: Wenn ich wirklich wachsen will, wenn ich mich von innen heraus erneuern will, dann muss ich etwas schaffen, was meine Kräfte fast übersteigt.“