Die Verschwörung der Hoffnung


amnesty international wird 25 Jahre alt. Während sich die

Organisation in Europa längst einen Namen gemacht hat, galt sie in den Vereinigten Staaten bislang als wohl gehütetes Geheimnis. Bis ai-Direktor Jack Healey und U2-Kopf Bono Vox eine Idee ausheckten, die amnesty international innerhalb eines Monats 26000 neue Mitglieder bringen sollte. Sechs Konzerte quer durch die Staaten mit Größen wie Sting, U2, Peter Gabriel, Lou Reed, Bryan Adams u.a. machten die „Conspiracy Of Hope* zum größten Medienspektakel seit »Live Aid“. ME/Sounds verfolgte das Geschehen vor Ort.

„Entschuldigen Sie bitte meine Ekstase, aber das ist mehr, als wir in unseren kühnsten Träumen erhofften.“ Der kleine dickliche Mann mit Brille und hohem Haaransatz hat gerade zu einem 55.000 Mann starken Publikum gesprochen, das zwar definitiv nicht wegen ihm, doch immerhin für ihn erschienen war. Jack Healey, Executive Director von amnesty international, ist zumindest an diesem 15. Juni ein glücklicher, erfolgreicher Mensch.

Unter dem Motto „Conspiracy of Hope“ ging im Giants Stadium, New Jersey, ein zweiwöchiger Kreuzzug für die Menschenrechtsorganisation zu Ende, der Künstler wie U2, Sting, Peter Gabriel, Bryan Adams, Lou Reed, Joan Baez und die N&ville Brothers in sechs amerikanische Städte brachte. Zahlreiche andere große Namen stellten sich bei den einzelnen Stationen zusätzlich in den Dienst der guten Sache, ohne Gage, versteht sich.

Mit einer Live-Übertragung auf Amerikas Musikkanal MTV und der Westwood One-Radiokette, sowie zahlreichen Reaktionen in den Print-Medien versprachen erste Hochrechnungen, beachtliche 60% der amerikanischen Bevölkerung erreicht zu haben.

Die Idee zu diesem Spektakel wurde im späten August des vorigen Jahres geboren. Jack Healey befand sich auf dem Weg zu einer amnesty-Konferenz nach Finnland, als er einen kurzen Stop in Dublin einlegte, um Paul McGuiness, Manager von U2, zu treffen. Die beiden kannten sich nicht, Healey hatte lediglich die Band bei einem Konzert 1984 in der Radio City Music Hall, New York, kennengelernt, als die Iren diesen Gig ihrer damaligen US-Tournee kurzfristig zu einer ai-Benefizveranstaltung umfunktionierten.

Eigentlich wußte Healey auch nicht so ganz genau, was er nun von U2 und McGuiness wollte, außer vielleicht einen guten Ratschlag und moralische Unterstützung für die 25jährigen Jubiläumsfeierlichkeiten, die es 1986 zu begehen galt. Aber als er an jenem Augusttag das U2-Hauptquartier in den Windmill Lane Studios verließ, war das der Anfang der nach Live-Aid wohl atemberaubendsten konzertanten Aktion der Musikgeschichte.

„Sie fragten mich: , Was brauchen Sie“‚, erzählt der Herr Direktor immer noch euphorisiert. McGuiness und Bono, der zufällig auch anwesend war, hörten sich Healeys Pläne an: „Wir müssen unsere Message den Amerikanern näherbringen. Wir wollen das sehr respektvoll und klassisch machen, und ich glaube, Sie könnten uns dabei eventuell helfen. “ Er deutete sehr vage die Möglichkeit einer kleinen Konzertserie mit U2an.

McGuiness fragte: „Wie lange wollen Sie uns haben?“ Healey meinte eine oder zwei Wochen. McGuiness setzte sich sofort zur Schreibmaschine und tippte einen kurzen Brief mit folgendem Inhalt: „Wir bestätigen hiermit, daß U2 im Jahr des Bestehens von amnesty international der Organisation für mindestens eine Woche zur Verfügung steht. Zeigen Sie bitte diesen Brief jedem, der ihn sehen will, als Zeichen unserer totalen Unterstützung dieser Feierlichkeiten. See von there!“

Doch auch nach der bedingungslosen Unterschrift von Sting. die kurz darauf folgte, war es noch ein dorniger Weg zu jenem gigantischen Tour-Unterfangen, das in manchen Belangen sogar Geldofs Live-Aid noch übertreffen sollte. Und genau darin lag auch das Problem. Healey, als Showbiz-Neuling nicht gerade prädestiniert für den Job eines Pop-Spektakel-Organisators, hörte auf sogenannte Fachkundige, die meinten, daß man sich über die Künstler die wenigsten Gedanken zu machen brauche. Die würden bei Headliner-Kalibern wie Sting und U2 noch darum betteln, mit dabei sein zu dürfen.

Allein, dem war nicht so. Altmeister Bill Graham, der mittlerweile als Koordinator gewonnen werden konnte, klärt auf. „Das hier ist nicht wie Live Aid; wir bitten hier Künstler, einen verdammt großen Beitrag zu leisten — zwei Wochen lang der besten Konzensaison zu opfern — ein Engagement, das sich viele gar nicht leisten können! Live Aid war ein Tag, ein Phänomen, wo die Musiker meinten, da müsse man einfach dabei gewesen sein. Die wären auch vom Arsch der Welt für diesen einen, speziellen Tag angereist. Aber wir wollen sie für zwei ganze Wochen!“

Einer, bei dems fast geklappt hatte, war Van Morrison. Bono, der als Mitorganisator eine Schlüsselrolle spielte, erzählt: „Er war bereit, mitzumachen, doch dann kamen logistische Probleme dazwischen, die einfach nicht zu bewältigen waren. Aber es ist für mich eine Ehre, daß er wenigstens wirklich wollte. „

Andere Künstler, wie Peter Gabriel, konnten sich freimachen, wenn auch nur unter schwierigsten Umständen. Bono: „Wir hatten Probleme mit seiner Plattenfirma, die in der fraglichen Zeit einen Japan-Trip für Peter plante. Als amnesty ihn fragte, ob er mitmacht, rief er mich an und sagte: .Ich bin mir nicht sicher, ob ich’s schaffe, aber ich muß …'“

Jack Healey und amnestys Communication Director Mary Daly können heute ein Lied von schwierigen Telefonaten mit diversen Management-Firmen singen: „Natürlich versuchten wir’s bei den ganz Großen. Stevie Wonder, Dylan, Bruce Springsteen, Huey Lewis, Streisand, die Unerreichbaren eben.“

Healey stöhnt: „Das war der schwierigste Job in meinem ganzen Leben. Irgendwie kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß die ganze Rock ’n‘ Roll-lndustrie unter einem Hut steckt. Sie quasseln sehr viel und gerne miteinander und schreiben sehr wenig davon auf. Wir sind da das Gegenteil. Wir mögen viel Papier und wenig Worte…“

Healey und Dale bekamen die ganze Parade der üblichen Entschuldigungen zu hören: „Ich habe zur Zeit keine Band“, „Wir sind gerade im Studio“, etc. Die Enttäuschung war groß. Immerhin fanden sich dann doch noch einige Herrschaften, die trotz anderweitiger Verpflichtungen zumindest ein paar nette Worte als voraufgezeichnete Video-Messages an die Fernsehzuschauer richteten. Als da wären: Jagger, Richards, Paul Simon, John Taylor (Duran Duran), Mr. Mister, Pet Shop Boys und Carly Simon.

Und trotzdem können die beiden ihren Mißmut über viele große Damen und Herren des Showgeschäfts nicht verbergen. „Nicht, daß wir grundsätzlich was gegen diese Leute haben; wir wissen, daß es bei Gott nicht einfach war, da mitzumachen, aber die Regierungen in den betroffenen Ländern beobachten jeden Schritt, den wir tun. Und wenn wir da rausgehen und uns an einer Veranstaltung dieser Größenordnung versuchen, dann muß es einfach mehr als nur gut sein. Es gibt Länder, wo Menschen in Gefangenschaft sitzen und gefoltert werden. Und ich weiß“, sagt Frau Daly, „daß wir sie befreien können, wenn diese Künstler ßr uns auf die Bühne gehen würden. „

Auch eine 800er Toll Free-Telefon-Nummer war nicht so leicht zu bekommen. Diese gebührenfreie Spendenleitung wurde vorerst vom US-Kommunikationskonzern AT&T mit der Begründung abgelehnt, der 15. Juni sei ja Vatertag und statistisch gesehen der fünftaktivste Telefontag in den Staaten, was die Leitungen bei einer solchen zusätzlichen Belastung zusammenbrechen lassen könnte. Nachdem etwas höher gestellte Persönlichkeiten mit den AT&T-Verantwortlichen ein ernstes Wörtchen redeten (über Telefon natürlich) war diese sonst eher leicht zu ergatternde Service-Leistung plötzlich auch gewährleistet.

Andere wiederum zeigten sich kooperativ. Die Hyatt-Hotelkette beispielsweise, die im ganzen Land Zimmer zur Verfügung stellte. Das Forum in Los Angeles durfte ebenfalls ohne Hallenmiete benutzt werden. Und auch in solchen Veranstaltungsstätten, die nicht freizügig sein konnten, wurden alle Versuche unternommen, die Kosten so tief wie möglich zu halten. Viele Gewerkschaftsvertreter des Hallenpersonals konnten nach Gesprächen mit amnesty-Leuten von der Tragweite diese Veranstaltung überzeugt werden. In der Tat erfuhren schon im Zuge der Vorbereitungen eine Menge Menschen, was amnesty international eigentlich will.

Zum Beispiel Stings Tourband, die bis zu diesem Zeitpunkt, wie die meisten Amerikaner auch, von der Existenz dieser Organisation keinen blassen Schimmer hatten. Als Sting die Musiker fragte, ob sie bei dieser Benefiz-Reise mitmachen würde, zuckte man zuerst nur mit den Schultern, bis der Herr Chef — seit fünf Jahren ai-Mitglied — aus ein paar Broschüren vorlas, die er immer on the road mit dabei hat. Sting: „Nach fünf Minuten gab’s über die Frage der Teilnahme keinerlei Diskussionen mehr. „

Neben der Tatsache, daß sie beide Iren sind, haben Bono und Jack Healey noch einige Gemeinsamkeiten mehr. Etwa ihren Glauben an die Kraft des Rock ’n‘ Roll, den jungen Durchschnittsmenschen zu etwas Großem zu motivieren. Der heute 48jährige ehemalige Franziskaner-Mönch Jack Healey, der fünf Jahre lang in einer Friedens-Truppe in Südafrika tätig war, hatte in seiner Jugend mehr als intensiven Kontakt zur damals so verpönten Musikszene gehabt. Ein Schwager belieferte Bars und Kneipen in Pittsburgh mit Juke Boxen und den jungen Jack mit gebrauchten Singles. „Als ich Fats Domino und Elvis Presley hörte, war das die erste Explosion in meinem Kopf!“

Ein ähnliches pyrotechnisches Erlebnis hatte Healey, als er das eingangs schon erwähnte Benefizkonzert von U2 1984 miterleben durfte. „Bono hat mit einer solchen treibenden Kraft gesungen, mit soviel Enthusiasmus. Diese ganze Show hatte eine solche Power, daß man sich fragen mußte, ist das nun Manipulation oder wahre Stärke. Ich entschied mich für letzteres. Die mußten einfach wirklich an das glauben, was sie da so sangen. „

Sein Vertrauen war nicht fehl am Platze. Die Band und deren Manager McGuiness kannten amnesty schon eine ganze Weile. Bevor McGuinness U2 Belange regelte, arbeitete er in einer irischen Filmproduktionsgesellschaft, deren Inhaber Tiernan MacBride war, der Sohn des amnesty-Gründungsmitglieds Sean MacBride. Bono lernte die Organisation 1979 kennen, als in London ein Benefiz-Konzert unter dem Titel „The Secret Policemen’s Ball“ veranstaltet worden war, und er tief beeindruckt, damals noch als Zuschauer, nach Hause ging. Bono: „Womit wohl jede Kritik an dieser ‚Conspiracy of Hope‘-Tour ad absurdum geführt werden kann, die meint, ein Pop-Konzert allein würde niemals genügen, um die Probleme von politischen Gefangenen bewußt zu machen. Ich selbst bin das beste Gegenargument…“

Mit U2 hat Healey die perfekte amnesty-Band. Sting ist ebenfalls ein perfekter Repräsentant, beide enorm populär und von dieser neuen Garde: „politisch bewußter Rock-Star“. Peter Gabriel hat einen der schärfsten musikalischen Proteste gegen die Apartheitspolitik Südafrikas geschrieben: „Biko“, jener 1980 entstandene Song über den politischen Gefangenen und Gefolterten Steven Biko. Aber die große Frage bleibt: Werden die knapp 200.000 Fans, die zu den Festivals gekommen waren, plus die Millionen Zuschauer am Fernseher, mehr tun, als sich nur an ein großartiges Konzert erinnern?

Die größte Überraschung war wohl die Wiedervereinigung von Police, die seit 1983 nicht mehr zusammen gespielt hatten und seither nicht gerade gut aufeinander zu sprechen waren. Es war eigentlich wieder Jack Healey, der Sting bat, das Mega-Trio wieder auferstehen zu lassen. Herr Summers antwortete: „Wenn Sie mich so nett fragen, verspreche ich Ihnen, ernsthaft über die Sache nachzudenken, aber nur, wenn Sie niemanden erzählen, daß Sie mich fragten!“

Healey schwieg, und so sah man in Atlanta — quasi zum Aufwärmen — und schließlich im Giants Stadium — als krönenden Abschluß — die Herren Andy Summers, Stewart Copeland und Sting, unterstützt von Kenny Kirkland (Keyboards) und den beiden Chordamen Janice Pendarvis und Dolette McDonald aus der All-Star-Jazzband des großen Blonden, wieder bei der Arbeit.

Viel geredet wurde auch nachher nicht, lediglich Sting gab zu Protokoll, daß es nach so langer Zeit „schon ein richtiger Schock gewesen ist. Es gibt einfach so gewaltige Unterschiede in der Art zu spielen zwischen schwarzen und weißen Musikern“. So richtig gern haben sich die großen Drei anscheinend noch immer nicht…

Die Stimmung zwischen den einzelnen Konzerten war mehr als nur gut. Man reiste zum größten Teil zusammen in einer Boeing 707, um ….. eine Gemeinschaft zu entwickeln, die auch in den Shows rüberkommen sollte“ (Healey).

Was mit Sicherheit funktionierte. So initiierte beispielsweise Peter Gabriel in einer Reiseflughöhe von 9000 Metern eine Kissenschlacht, bei der die Fetzen flogen. Als in Denver Station gemacht wurde, der einzigen Stadt mit eher mäßigen Ticketverkäufen. schnappte sich Bryan Adams in Eigeninitiative Frau Baez und die Herren Bono und Gabriel und marschierte mit ihnen schnurstracks zur beliebtesten Radiostation. Gemeinsam enterte man das Studio, wo völlig entgeisterte Programm-Macher sofort umdisponierten und mit den Künstlern eine Werbestunde für das amnesty-Konzert moderierten. Innerhalb der nächsten Stunden wurden 2000 Tickets zusätzlich verkauft.

Nach der Show in Atlanta überfiel die gesamte Mannschaft die Hotelbar im Ramada Inn, um in allen möglichen Konstellationen jeden Song zu singen, der seit Beginn der Zeitrechnung geschrieben wurde. Die endlose Session wurde nur von einem gar nicht sensiblen Barkeeper unterbrochen, der — unter Androhung massiver Gewalt — die Sperrstunde durchgesetzt wissen wollte. Die Meute schlug sich als Hand-auf-die-Schulter-des-Vorder-mannes-Schlange in serpentinähnlichen Bahnen den Weg in die Lobby, wo bis zum Frühstück Protest-Songs aus den 60er Jahren intoniert wurden.

Natürlich wurde der nüchterne Ernst der Sache aber nie vergessen. Peter Gabriel: „Rock-Musiker haben weltweit ein Publikum, das Nationalitätsgrenzen oder Hautfarbenunterschiede nicht kennt. Und das ist ziemlich einzigartig in der Geschichte!“

Bono: „Und Rock ’n Roll ist eine absolut selbstsüchtige Angelegenheit. Wir umgeben uns mit Leuten, die zu allem ja sagen, und wir werden viel zu hoch entlohnt für das, was wir tun. Es ist mir vollkommen klar, daß ich bereits mehr bekommen habe, als ich gegeben habe.“

Unterschiede wurden auch offenbar, als die Popstars backstage des öfteren mit ehemaligen politischen Gefangenen zusammentrafen, von denen viele durch die Interventionen amnesty internationals erst befreit werden konnten. Joan Baez hatte Tränen in den Augen, als die Rechtsanwältin Lee Shin Born beschrieb, wie sie in sechs Jahren in einem südkoreanischen Gefängnis gefoltert wurde. Gabriel nahm die argentinische Physikerin Irene Martinez in seine Arme, die für zwei Jahre im Gefängnis blieb, vier Monate davon gefesselt und mit verbundenen Augen, nur weil sie sich erdreistete, eine eigene politische Ansicht zu haben.

Und sogar der sonst so redegewandte Sting war knapp mit Worten, als er mit Menschen konfrontiert wurde, deren Erfahrungen und Erlebnisse so extrem gegensätzlich zu der herrschenden Open-Air-Sommer-Festival-Stimmung stehen.

„Ich wußte nicht, was ich zu diesen Leuten sagen sollte“, erzählte er Jack Healey später, „außer: ,lch bin wirklich verdammt froh, daß ihr hier seid!“

Erfolg auf der ganzen Linie. Das „gut gehütete Geheimnis“ (Healey), das amnesty international vor den „Conspiracy of Hope“-Aktivitäten gewesen war, wurde gelüftet. Die Organisation mit Hauptsitz London konnte innerhalb von 14 Tagen knapp 26.000 neue Mitglieder in den USA gewinnen, und obwohl es nicht das eigentliche Ziel der Veranstaltung war, finanzielle Mittel aufzutreiben (Healey: „Wir wollen hauptsächlich Aktivisten, nicht Geld!“), ergab die Bilanz ein Plus von knapp zwei Millionen Dollar.

Doch was alle Teilnehmer mit Sicherheit am meisten berührte, war die Tatsache, daß kurze Zeit nach den ersten Konzerten einer der sechs in den verteilten ai-Flugblättern annoncierten, politischen Gefangenen freigelassen wurde. Name: Thozamile Gqweta, von der Südafrikanischen Regierung verurteilt zu jahrelangem Freiheitsentzug. Grund: Gewerkschaftsführer und schwarz.