„Dieser Moshpit ist für FLINTA*!“ So war die ME-Nacht auf dem Reeperbahn-Festival


Am Samstag präsentierte MUSIKEXPRESS mit Die Selektion, Tirzah und Team Scheisse drei von der Redaktion hochgeschätzte Musiker:innen im Uebel und Gefährlich.

Der Hamburger Club im Flakturm IV auf dem Heiligengeistfeld ist bereits beim Betreten ein Erlebnis. Nur wer sich an metertiefen Erdlöchern vorbei und durch die Baugerüste traut, die um den Eingang aus dem Bauschuttboden ragen, kommt ins Uebel & Gefährlich im vierten Stock.

Der Tonfall dieses Abends ist ein ganz anderer als bei der ME-Nacht im Jahr zuvor. Damals traten alyona alyona, Mia Morgan und die Petrol Girls im Grünspan auf und provokative Riot-Grrrl-Power. Dieses Jahr besteht das Line-Up aus Die Selektion, Tirzah und Team Scheisse – noch verruchter, rauer und dunkler.

Dark Wave und Trompetenklang? Die Selektion

Die MUSIKEXPRESS-Nacht beginnt mit der EBM-Industrial-Formation Die Selektion, die spontan für Circa Waves eingesprungen ist. Die Gruppe passt zur Location: Cold Wave, Dark Wave, Industrial Techno. Luca Gillians Gesang klingt wie ein Echo aus vergessenen Träumen. Untypisch für das Genre ist Hannes Riefs Trompete. Nach dem Auftritt, der etwa 50 Minuten dauert, küssen sich Gillian und Rief auf den Mund, und dann tauchen sie wieder ab.

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Tirzah aus dem Nebel

Die zweite Künstlerin des Abends, Art-Pop-Musikerin Tirzah, verzichtet fast gänzlich auf Licht im Raum. Ihr genügt ein weiß leuchtender Scheinwerfer, in dessen Lichtkegel der Bühnennebel Schlieren zieht. Aus diesem taucht die Süd-Londonerin schließlich wie eine Erscheinung auf. Ihre Begleitung, der DJ, der die Location mit wuchtigen Bässen füllt, steht fast komplett im Dunkeln. Tirzah hat die Augen geschlossen, während sie singt.

Ihre Tracks bringen Körper in Bewegung, ihrer Stimme kann man sich nicht entziehen. Vom Uebel und Gefährlich, komplett abgedunkelt, sieht man neben der Sängerin nur noch die massiven silbernen Stahlrohre an der Decke. Sie blitzen auf, wenn das Licht sie trifft.

Team Scheisse sind da – und die Bude bebt

Zwischen ihrem Auftritt und dem von Team Scheisse liegen schließlich Welten. Schon in der Stunde vor dem Gig verändert sich das Publikum gänzlich. War die Stimmung zuvor weichund neblig, ist sie jetzt lauter, wilder. Das Licht im Club wird greller, Leute sitzen mit Bier auf dem Boden und lachen laut, der Raucherraum hinter der Bar füllt sich. Beim Soundcheck wirds schließlich richtig voll, zur ersten Reihe kommt man zehn Minuten vorm Auftritt kaum noch durch.
Als die Punkrock-Gruppe aus Bremen dann endlich die Bühne betritt, hat der brachiale Jubel kein Ende mehr.

 „Der Moshpit ist für FLINTA!*“ – Timo Warkus

Und mal ehrlich: Live-Auftritte von Team Scheisse tun auch einfach scheiße gut! Obwohl nämlich die Menge bebt und tobt, springt, schreit und schwitzt, geht niemand unter, dafür wird gleich zu Beginn – humorvoll aber mit Nachdruck – gesorgt: „Wir haben zu viel Scheiße erlebt, das wollen wir nicht bei unseren Konzerten. Also: Grapscht niemanden an. Achtet aufeinander, verletzt niemanden, helft einander auf, wenn wer fällt. Und: Lasst ALLE eure T-Shirts an!“

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Ohne diese Band kannst Du 2021 halt vergessen

Das vermitteln Timo Warkus und der Rest der Bande, bevor es so richtig losgeht. Das Publikum findet Achtsamkeit scheinbar auch geil und grölt. Nach dem vierten Lied erhebt Warkus nochmal das Wort, bittet um einen Kreis in den ersten Reihen. Und dann soll der somit entstehende Moshpit aber bitte mal nur den Flinta*-Personen gehören. Die Cis-Dudes, wie ich einer bin, nehmen oft zu viel Raum ein. Die achten jetzt mal schön darauf, dass sich die FLINTA* austoben können, ohne von zig liebenswürdig besoffenen Kerlen niedergewalzt zu werden!

Am Ende gleicht die euphorische Stimmung im Raum einem Stadion, in dem gerade die Lieblingsmannschaft gewonnen hat. Team Scheisse zeigen, dass Punk auch und vor allem im achtsamen Miteinander funktioniert. (Sidefact: FC St. Pauli hat am gleichen Abend gegen FC Schalke gespielt, nur ein paar Meter Luftlinie entfernt. Vielleicht lag das Knistern schon deshalb in der Luft.)