Eine neue Generation junger HipHop-, R&B- und Soul-Frauen bahnt sich mit selbstbewußten Sprüchen und spektakulären Chartserfolgen ihren Weg. Wer sind diese NU DIVAS und was haben sie wirklich zu bieten?


Sie heißen Alicia Keys, Blu Cantrell, Lisa „Left Eye“ Lopes, P!ink, Olivia oder Milla, kommen aus den Black Neighbourhoods der Millionenstädte an der US-Ostküste und schicken sich an, mit post-feministischer Attitüde und durchaus ambitioniertem R&B und HipHop die Zeiten der Girhe-Dominanz in den US-Hitparaden zu beenden. Die amerikanischen Medien jedenfalls feiern schon mal das Ende des „Schnuller-Pop“. Aber nicht nur Britney Spears und Christina Aguilera haben unverhofft Konkurrenz bekommen, auch die etablierten Soul-Königinnen Whitney Houston, Mariah Carey, Janet Jackson oder Toni Braxton müssen sich warm anziehen.

Dia Musikpresse in den Staaten hat, unter tüchtiger und bestimmt nicht selbstloser Mithilfe der Marketing-Strategen der Plattenfirmen Arista und I Records, längst ein marktgängiges Etikett für das Phänomen etabliert: „Nu Divas“. Auffälligste Figur unter den nach vorne drängenden Nachwuchstalenten ist die 20-jährige New Yorkerin Alicia Keys. Die Tochter einer italienisch-stämmigen Mutter und eines Afro-Amerikaners, die seit ihrem fünften Lebensjahr eine klassische Musikausbildung erhielt, hat bereits mit ihrem ersten Album „Songs In A Minor“ international den Durchburch geschafft: Nur eine Woche nach Erscheinen hatten schon über 300.000 Exemplare den Weg in amerikansche Wohnstuben gefunden – Platz eins der US-Albumcharts. Zweieinhalb Millionen Platten wurden in ihrer Heimat bisher verkauft, Tendenz weiterhin steigend.

Die triumphale Bilanz riecht zunächst ganz stark nach Hype und Hollywood. Da ist es einigermaßen beruhigend zu wissen, dass Alicia Keys lange relativ erfolglos an ihrem Material herumbastelte. Als 16-Jährige bekam sie einen Plattenvertrag beim renommierten Label Columbia. Und dann passierte vier Jahre lang eher wenig. Dem Rezept für ihre eigenwillige Mixtur aus Beethoven, Soul und HipHop fehlte noch das gewisse Etwas. Doch Keys ließ sich nicht ins Bockshorn jagen, obwohl sie nach ihrem Highschool-Abschluss und dem Absolvieren der „Professional Performance Art School“ in New York die Pläne für eine akademische Karriere an der Columbia University eingestampft hatte. „Frustrierend war die Phase eigentlich nicht“, so Keys. „Ich war naiv und unbeschwert. Ich nahm Sachen auf und feilte an dem Material, aber es kam irgendwie nichts dabei heraus. Das kümmerte mich aber wenig, ich dachte, dass müsse halt so sein.“

Was Kays allerdings auf den Zeiger ging, war der Mangel an künstlerischer Freiheit. Die Betreuer bei Columbia hatten Pläne, die ihr partout nicht in den Kram passten. „Die wollten aus mir einen Klon von Mariah Carey oder Whitney Houston machen. Daraufwar ich nicht vorbereitet und hatte an so was auch kein Interesse!“ Und während der Teenager trotzig versuchte, seinen Dickkopf durchzusetzen, sah sich plötzlich ein ganz alter Hase ebenfalls mit Problemen konfrontiert: Clive Davis, eine Legende unter den Plattenbossen. 300 Nummer-1-Hits hatte er in seiner 40-jährigen Karriere dem von ihm selbst mitgegründeten Label Arista Records beschert. Doch seine Tage bei der Firma waren gezählt – die Führungsspitze des Arista-Eigentümers BMG sah den Veteranen nicht mehr als Hoffnungsträger im sich dramatisch wandelnden Musikgeschäft. Daraufhin machte Davis sich selbstständig und gründete die Firma J Records. Das Startkapital wurde großzügig von seinem alten Arbeitgeber übernommen, und Davis investierte es klug – zum Beispiel in Alicia Keys.

Auf einer Party hatte der alte Business-Haudegen das Mädchen kennen gelernt. Und zog bei der Planung seiner Karriere seitdem alle Register: In einer Limo fuhr Davis im Frühjahr bei MTV vor, überreichte das 500.000 Dollar teure Video zu „Fallin'“ und überzeugte die Programmplaner von einer Power-Rotation. Der Branchen-Tycoon putzte persönlich Klinken bei der Presse und besorgte Alicia einen Auftritt bei Late-Night-Talker Jay Leno. Oprah Winfrey, einer weiteren Quoten-Garantin des amerikanischen Fernsehens, schrieb er einen zweiseitigen Brief, in dem er die Qualitäten seines neuen Stars anpries. Mit dem Erfolg, dass Alicia Keys als erste Nachwuchskünstlerin live in Winfreys Show auftreten durfte.

So penetrant Davis auch auf die Medienvertreter eingewirkt haben mag, so wenig soll er zuvor Einfluss auf die Musik seines Schützlings genommen haben. „Das ist das, was ich an Clive schätze: Er ermutigt mich, macht mir aber keine Vorschriften“, freut sich Keys über das entspannte Arbeitsklima. „Ich bin nicht der Typ für Pailetten-Kleider und Stöckelschuhe. Bei mir geht’s nicht ums Dekollete. Clive lässt mich einfach ich sein.“ Genau hier liegt das Geheimnis von Keys‘ Erfolg: Die R&B-Szene leidet unter einem Mangel an Personalities. Acts aus der Retorte , die zu lieblos produzierter Plastikmucke Belanglosigkeiten in die Mikrophone jaulen, stellen den Löwenanteil in diesem Marktsegment, das sich von seinen Ursprüngen denkbar weit entfernt hat. Alicia Keys sorgt nun, da mancher einen ganz wesentlichen Teil der Black Music schon verloren glaubte, wieder für das, was man sich schon so lange sehnlichst gewünscht hatte: Intensität, Persönlichkeit, Tiefe. „Ich wurde erzogen, mein Ding durchzuziehen, das zu tun, woran ich glaube – und nicht das, was andere von mir erwarten oder mir vorschreiben“, sagt Keys selbst.

Exakt diese Einstellung, diese Offenheit ist das, was sie tatsächlich zu einer Diva neuen Stils macht. Es geht um Selbstbewusstsein und damit auch ganz direkt um die Identitätsfrage der in der Diaspora lebenden Schwarzen. Der männliche Teil der Afro-Amerikaner hat den HipHop, um diese Fragen zu verhandeln. Weibliches Selbstbewusstsein hingegen ist namentlich in der schwarzen respektive farbigen Kultur eine hochgradig diffizile Angelegenheit. Und so ist Alicia Keys stolz darauf, dass sie musikalisch die Fäden in der Hand behält. Sie schreibt ihre Songs selbst und hat angeblich die Tracks ihres Debütalbums weitgehend selbst produziert und arrangiert. Ihre klassische Ausbildung ist da sicherlich kein Nachteil. „Meine Mutter hat mir immer gesagt: Du kannst von mir aus alles hinschmeißen, aber auf keinen Fall den Klavierunterricht!“ Und so gehören Beethoven, Chopin, Mozart, Billie Holiday und Ella Fitzgerald neben Prince, Nina Simone und Marvin Gaye zu ihren Einflüssen. „Ich höre mir natürlich auch modernere Sachen an“, sagt sie mit ihrer beim Sprechen erstaunlich dunkel klingenden Vier-Oktaven-Stimme. Mit dieser Vielseitigkeit hat sich Keys, die sich ihr Street Wisdom durch die Jugendjahre in einer rauen Neighbourhood mit dem bezeichnenden Namen Hell’s Kitchen holte, immerhin den Respect solcher Black Music-Ikonen wie Jermaine Dupri und Isaac Hayes erworben, die auf ihrem Album Credibility-fördernde Gastspiele geben.

Blu Cantrell ist ein ähnlich gelagerter Fall. Gleich mit ihrer ersten Single „Hit Em Up Style (Oops!)“ steckte sie im vergangenen Sommer die Claims ab. Die Streicher-Hookline des Songs klingt noch harmlos romantisch, die Bläser schweben ätherisch über den krachenden Beats. Doch was die Dame dann erzählt, lässt einen die Luft anhalten: Ihr Macker war untreu, dafür soll er bezahlen. Und das ist durchaus im Wortsinne gemeint: Mit der Kreditkarte des ehemals werten Herrn geht es auf zum Shopping-Marathon, bis auf Haus und Hof der Kuckuck prangt. Der einst Geliebte soll nun blechen, bis er alt und grau ist: „‚Cuz revenge is better than money, you see.“ In Amerika, dem Land der Kreditkarten, fand man solcherlei nicht besonders komisch. Womit das „Nu Diva‘-Movement seinen erstes kleines Skandälchen hätte. So werden Trends gemacht: Platz zwei der Billboard-Charts war Cantrell sicher. Die 25-jährige hat seitdem Oberwasser und ist um weitere große Worte nicht verlegen. Sollte sie jemand unverschämterweise mit einem Mariah-Carey-Vergleich belästigen, setzt’s aber was: „Ich sehe mich eher als Vertreterin einer neuen Generation!“

Cantrells Album „So Blu“ ist denn auch ein aggressives Statement für Freiheit und Unabhängigkeit, allerdings weniger in unmittelbar gesellschaftspolitischer Hinsicht: Blu Cantrell singt durchweg von enttäuschter Liebe und der ihrer Ansicht nach passenden Antwort darauf (Hiebe). Ihrem Vater, einem Afro-Amerikaner (der Begriff „Nu Divas“ meint nicht nur „new“, sondern eben auch „nubian“) ist die Schönheit aus Providence, Rhode Island nie begegnet. Die Mutter, eine Jazz-Chanteuse, zog die Kinder allein auf. Als junge Frau begegnet Cantrell einem A&R-Manager, der sie anspricht, weil sie, wie er findet, „aussieht wie eine Sängerin“. Dieser Mann stellt die Connection zu dem Arista-Boss L.A. Reid her – pikanterweise der Nachfolger von Clive Davis. Der hat mit postfeministischer Frauen-Power zunächst nicht unbedingt etwas am Hut. Als er die Bewerbungsfotos zu Gesicht bekommt, zweifelt er an Cantrells Können. Sein Satz „Die ist zu hübsch für so eine Stimme“ schaffte es sogar in den Werbe-Waschzettel zum Album-Debüt.

Bei Cantrell geht es musikalisch deutlich forscher zur Sache als bei Alicia Keys. Star-Produzenten haben ganze Arbeit geleistet, um amtliche Beats zusammenzuhauen, die sich mitunter durchaus nach Straße anhören. Allerdings bleibt auf „So Blu“ vieles im Rahmen des Genre-üblichen: hier ein wenig Gospel, da ein wenig Soul; mal knallige HipHop-Avancen, mal darfs dann auch ein bisserl Schmalz sein. Aber: Die Attitüde ist neu. Und aus dieser lässt sich allmählich tatsächlich so etwas wie ein Trend ablesen. Lisa „Lefteye“ Lopes etwa ist das Kämpfen gewöhnt. Wo Blu Cantrell nur davon singt, ihrem Alten die Kreditkarte zu entwenden, solcherlei aber niemals tun würde, schreitet Lefteye umgehend zur Tat. Der Mittelpunkt des erfolgreichen Damentrios TLC steckte vor Jahren im Streit und mit glatter Absicht das Haus seines Freundes Andre Rison in Brand – und wanderte postwendend für einige Zeit hinter Gitter. Trotz Mega-Hits mit TLC wie „No Scrubs“ oder „Unpretty“ versucht sie es jetzt mal im Alleingang mit dem Solodebüt „Supernova“: „Ich habe viel mehr zu bieten, als ich bei TLC beisteuern konnte. Bei TLC hatte ich gar nicht die Zeit, mal andere Wege zu erforschen.“ Allerdings bedient sich Lisa Nicole Lopes, die auch schon für Mel C oder ‚N Sync rappte, beinahe durchgängig des HipHop-Idioms.

Vorbilder dafür finden sich unter den HipHop-Queens der neunziger Jahre. Allen voran eine Missy Elliott, die sich ganz nonchalant als Diva inszeniert und die sich Respekt bis weit über die Grenzen des Genres verschafft hat. Und bei der so manche Fäden zusammenlaufen: Mit P!ink, der rotzfrechen Göre aus Philadelphia mit der Vorliebe für ausgefallene Frisuren und einer weiteren angehenden Diva, nahm Missy nämlich „Lady Marmelade“ auf. Eine Vorreiter-Rolle hatte auch Mary J. Blige, die den Acker für das Gedeihen neuer, frischer Acts bestellt hat. Ob die nun Alicia Keys, Blu Cantrell, Missy Elliott, Mary J. Blige heißen mögen; ob es sich um die Newcomerin Olivia, die just ihren Erstling fertig gestellt hat, oder um P!ink handelt, die am Nachfolger ihres Einstandserfolgs „Can’t Take Me Home“ arbeitet – sie alle hauen auf den Tisch, stellen Forderungen und lassen sich von irgendwelchen hergelaufenen Männern nichts sagen. Denn die haben sie gefälligst zu respektieren, zu lieben und für großartigen Sex zu sorgen. Zum Dank dafür werden sie mehrheitlich in Ruhe gelassen und dürfen gerne mit Kumpels saufen gehen oder in Nu Metal-Bands spielen. Den zahmen Hupfdohlen-Pop werden die neuen R&B-Diven freilich nicht für alle Zeiten in den Orkus schicken. Ihm den Kampfansagen – und zwar wütend und bestimmt -, das aber können sie ohne jeden Zweifel.

www.nu-divas.de