Er klaut Texte …


… und begeht einen Feldversuch in progressiver Popmusik. Sufjan Stevens, der wundersame Held, ist zurück.

Sufjan Stevens hat ein Déjà-Vu. Und das nur, weil sich ein paar Parameter in seiner Pop-Chemie verschoben haben und plötzlich all das, was selbstverständlich war, nicht mehr so leicht von der Hand geht. „Als wir anfingen, unsere neuen Songs einzustudieren, hörte sich das an, als würde eine College-Band spielen. Nichts funktionierte so richtig. Die Synthesizer und Drumpads, die Effekt-Geräte. Es ist ein Lernprozess für uns, damit umzugehen. Am Ende aber fühlst du dich wie neu geboren.“

Dabei hat der Künstler die Blaupause für sein aktuelles Werk THE AGE OF ADZ selbst geliefert. Sie stammt aus jenen Jahren, als Sufjan Stevens von einem handverlesenen Häufchen von Bewunderern aus dem Umfeld seines Asthmatic Kitty Labels hofiert wurde – dem Rest der Welt vollkommen unbekannt. Den elektronischen Sufjan kann man retrospektiv auf dem 2001er-Album ENJOY YOUR RABBIT entdecken, einer Sammlung von Klang-Expeditionen, die etwa zu gleichen Teilen auf Noise/Prog-Rock, die Minimal Music von Steve Reich und den Atari-Sound des globalen Kinderzimmers verweisen. Was auf den 13 Tracks des frühen Albums noch im Ungefähren und Experimentellen verharrt, wächst sich nun in den aktuellen Beiträgen zu durchweg ambitionierten, hin und wieder auch undurchdringbaren Songkunstwerken aus. Das Sufjan-Stevens-Orchester ist durch ein Effektgerät geschickt worden und erkennt sich selbst nicht wieder. THE AGE OF ADZ ist der aktuell größte Feldversuch in progressiver Popmusik.

Groß war für Sufjan Stevens noch nie ein zu großes Wort. Was der 35-jährige Amerikaner anpackt, sprengt den Rahmen der Unterhaltungsmusik. 2004 fühlte Stevens sich berufen, eine Serie von 50 CDs zu den US-Bundesstaaten anzukündigen, nach den ersten beiden Veröffentlichungen und einer überdurchschnittlich guten Resteplatte hatte er das Projekt zwar wieder ad acta gelegt, aber so ganz nebenbei der Berufsbezeichnung „Singer/Songwriter“ zu neuem Glanz verholfen. Stevens bringt einen Haufen interessanter Vorraussetzungen mit, er spielt über 25 Instrumente von der Oboe bis zum Spielzeug-Casio, beschäftigt sich mit keltischer und indischer Musik, studierte an der New Yorker „New School For Social Research“, schreibt Prosa, ist Graphik-Designer und Maler. Das hätte die Type sein können, die Bob Dylan und Bruce Springsteen sich im Hinterzimmer einer Pinte in New Jersey ausgedacht haben; ein vor Ideen übersprudelnder Songautor und Bewahrer des guten Amerika inmitten der vielen Verflachungen der Popmusik. Der Hochgelobte aber zeigte wenig Interesse, den Zuschreibungen und Erwartungen gerecht zu werden. 2009 überraschte Stevens erst nach längerer Pause mit einem Orchesterwerk zu Ehren des Brooklyn-Queens-Expressway, „einer der hässlichsten Schnellstraßen der Welt“. Er hatte an seinem Image als Supermann des Pop durchaus zu knabbern. Er sehe sich weder als neuen Folk-Gott noch als das Orchesterpop-Genie, sagt er. „Meine Musik ist eine Collage aus vielen Einflüssen. Damit bin ich state of the art im Pop. Es gibt momentan kaum mehr Kategorien und Unterteilungen. Major-League-Hip-Hop-Stars arbeiten mit Indie-Rock-Leuten zusammen, die Stile finden im iPod-Shuffle zueinander. Ich klaue dauernd Texte, ich klaue dauernd Melodien.“

Aus welchen Quellen sich der melodische Reichtum speist, soll sein Geheimnis bleiben. Zuletzt hat er sich immerhin soweit offenbart, dass THE AGE OF ADZ als Abschied von den historischen und literarischen Manövern der letzten Alben zu verstehen ist. „Ich habe mich hinter den epischen Konzepten versteckt. Jetzt habe ich Songs so geschrieben, als ob ich mich mit jemandem unterhalten würde.“ Dabei verweist Stevens auf den Einfluss des amerikanischen Künstlers Royal Robertson (1936-1997), dessen Arbeit auf dem Album-Cover abgebildet ist. „Robertson war schizophren und schmiss eines Tages seine Familie aus dem Haus. Er zog sich zurück und arbeitete. Es gibt eine wunderbare Energie in seinen Werken, sie erinnern mich an einen Schuljungen, der in Notizhefte malt. Monster, Superhelden, Raumschiffe oder futuristische Fahrzeuge, man liest seine Visionen über das Jüngste Gericht. Sehr schön, sehr traurig. Ich habe eine Verbindung zu ihm empfunden, weil ich mich in meiner Arbeitswut so wenig mit der Welt verbunden fühlte.“

Damit soll jetzt Schluss sein. „Die Proben haben einen sozialen Effekt“, sagt Stevens. Da-nach beginnt die Tournee in Nordamerika. Im Frühling 2011 wird mit Sicherheit ein Musiker auf deutschen Bühnen stehen, der sich im Dialog mit der Band und den Effektgeräten schon wieder etwas besser kennen gelernt hat.

Albumkritik ME 11/10

http://sufjanstevens.bandcamp.com