Green Day: Die Welt aus der Vogelperspektive


American Idiot hat Green Day zur kommerziell erfolgreichsten Punkrockband aller Zeiten gemacht. Tief in der kanadischen Provinz reflektieren die Kalifornier den rasanten Aufstieg der letzten zwölf Monate.

Es gibt wenige furchterregendere Geräusche in dem sterilen Nebenraum der Zollabfertigung eines Flughafens zu hören, als die eines kräftigen Beamten, der enganliegende Latexhandschuhe anzieht. Als der streng blickende Berg von einem Mann anfängt, unsere Sachen zu durchsuchen, erklären wir zum dritten Mal, warum wir nach Kanada fliegen. „Sie sind hier, um eine Band zu sehen?“ wiederholt, man mit einem Blick, der andeutet, daß uns wohl jemand „Ich bin ein internationaler Terrorist“ auf unsere Stirn geschrieben hatte, während wir schliefen. „Und sie wird nicht in Großbritannien auftreten?“

Ist sie schon. Sie hat Mitte Juni in Milton Keynes zwei Konzerte vor 120.000 Menschen gegeben. „Also sagen Sie mir bitte noch einmal, warum Sie die Band in Winnipeg sehen möchten?“ „Weil es sich bei der Band, die wir sehen möchten, um Green Day handelt, und gerade in diesem Moment sind sie… „“Ach, Sie sind hier, um Green Day zu seien?“ wirft er nun etwas weniger frostig ein. „Nun, das macht die Sache klarer – jeder möchte Green Day sehen, stimmt’s? „

Und natürlich hat unser neu uniformierter Kumpel recht. Gerade jetzt ist Green Day für Hunderttausende die genialste Band auf dem Planeten, und heute Abend sind sie mit Sicherheit der größte Renner in Winnipeg. Vor zehn Jahren schössen sie mit DOOKIE aus dem finsteren Punkuntergrund in die sonnigeren und lukrativeren Breiten des Mainstream Rock. Der phänomenale Erfolg von AMERICAN IDIOT schob das Trio noch weiter in das kollektive globale Bewußtsein. Green Day sind nicht länger nur eine Punkband, die es geschafft hat, groß einzusteigen, sondern echte Stars. „Vielen Dank für Ihre Kooperation“, sagt man zu uns, als es uns endlich erlaubt wird, unsere Schuhe wieder anzuziehen. “ Und viel Spaß mit der Band- ich habe gehört, daß sie eine wahnsinnig gute Show abliefern.“

Am 21. Dezember 1991 hatte eine unbekannte Punkband aus Berkeley, Kalifornien, einen Auftritt in einem Vereinslokal für Busfahrer in Wigan namens The Den. 14 Jahre und 40 Millionen verkaufte Platten später läßt sich die Band in der Königinnensuite des Fairmont Hotels in Winnipeg häuslich nieder (eine Suite, die in der Tat die Queen und nicht zu vergessen Rod Stewart zu Gast hatte), und ihr Sänger – ein gewisser Billie Joe Armstrong – grinst, als er sich an diese jetzt schon lang vergangene Nacht erinnert. Der Gig warbemerkenswert, nicht nur weil es einer der ersten Auftritte von Green Day in England war, sondern auch, weil sich die Band entschloß, vier Tage vor Weihnachten ein bißchen Spaß zu haben, indem sie ihre ganz eigene Version eines Krippenspiels aufführten. Billie Joe agierte komplett als die schizophrenen Drei Weisen Punks, der Bassist Mike Dirnt war Santa Claus, und es gab eine geschmacklose jungfräuliehe Geburt mit dem Schlagzeuger Tre Cool als Maria in der Hauptrolle sowie einem Roadie als Jesus und einer Tüte Milchreis und Ketchup zur Darstellung der heiligen Plazenta.

„Wenn man bedenkt, wie lange das her ist, dann hat unsere Liveshow schon viele Entwicklungsstufen durchgemacht“, erklärt Armstrong nachdenklich und nimmt einen Schluck aus seiner Flasche Dasani – der Mineralwassermarke von Coca Cola, die aufgrund des illegal hohen Anteils an krebsverursachenden Bromaten im UK verboten wurde. „Ich habe Photos davon, und irgendwo gibt es da ein Video -jeder droht uns damit, uns irgendwann einmal eine Kopie davon zu schicken.“

Wolltet Ihr immer schon eine große theatralische Rockshow auf die Beine stellen, sofern es das Budget erlaubte? „Das könnte man meinen, stimmt’s? Es hat sich aber auf ziemlich natürliche Art und Weise entwickelt. Als wir warning machten, begann sich die Bühnendekoration zu verselbständigen, und alles verwandelte sich eher in eine Achterbahn. Wenn du das große Rockshow-Ding mit dem Blendwerk von Pyrotechnik und Feuer abziehst, kommst du zu einem Punkt der Ambivalenz, an dem du dir Gedanken machst, ob das mit dem zusammenpaßt, was du gerade tust, aber eshatsich wirklich auf natürliche Weise entwickelt. Alles paßt und ist zu der Show geworden, so wie sie jetzt ist.“ Habt Ihr schon einmal die Tage vermißt, als Ihr einfach in Euren Bus gestiegen seid, um zur nächsten miesen Absteige zu fahren? Armstrong: „Viele andere Bands würden sagen, daß sie Auftritte im kleinen Rahmen bevorzugen, aber mal ehrlich, in Stadien zu spielen, ist auch nicht schlecht.“ Cool: „Ich möchte nicht wie ein Idiot klingen, aber wir haben jetzt die Verantwortung, für Menschen zu spielen. Sie haben gehört, daß wir eine gute Live-Band sind, und wenn du einen Veranstaltungsort mit 2000 Sitzen buchst, derinnerhalb einer halben Stunde ausverkauft ist, dann machen wir offenbar was richtig.“

Gestern Wigan, morgen die Welt – zum Beispiel Milton Keynes oder Berlin vor über 200 000 Live 8-Besuchern. Und heute Abend – Winnipeg. Ein Blick in die Reiseführer verrät nicht viel. Der Reiseführer vermerkt, daß dem „Tor zu den Prärien“ die windigste Kreuzung aller kanadischen Städte zuerkannt wird. Für Drachenflieger also ein heißer Ort, aber für Popfans? Wird diese Show das Größte sein, was die Stadt jemals erlebt hat? „Ja, was den Punkrock betrifft, schon, „sagt John E. Bud, der 44jährige Betreiber der Hemp Cafe Bar und des Marihuana-Museums mit schleppender Stimme. „Wir haben eine große Punkszene hier, aber bei denjenigen, die auf großer Tournee sind, steht Mittelkanada so gut wie nie auf dem Programm.“ Hat er Green Day schon einmal gesehen? „Nee, letztes Mal, als sie da waren, war ich im Gefängnis. Aber ich freue mich auf heute abend…“

Der Begeisterung nach zu urteilen, die das kompakte und gesichtslose MTS Centre (Sitz des Manitoba Moose Hockey Teams) umgibt, freut sich jeder auf heute Abend. „Dookie war das allererste Album, das ich mir gekauft habe, und die Songs daraufwaren die ersten, die ich auf meiner Gitarre eingeübt habe“, sagt der 22jährige Jacki. „Ich bin so aufgeregt, daß sie hier spielen. Normalerweise muß man nach Toronto, um eine Band zu sehen“, fügt Olivia hinzu, die mit ihren 16 Jahren wohl in der Grundschule gewesen sein muß, als Green Day ihren ersten Durchbruch hatten. Und wenn man auf den Veranstaltungskalender schaut, muß man einfach Mitleid mit den Einwohnern dieser gleichermaßen kompakten, gesichtslosen Stadt haben. Die einzig nennenswerten Konzerte bis Oktober werden von Avril Lavigne und einer Doors Tribute Band gegeben werden. Ansonsten kommen noch der kanadische Crooner Paul Anka und Countryveteran George Jones.

„Unsere Einstellung war, immer überall und egal wo zu spielen,“ sagt Tre Cool, und das trifft auch auf Winnipeg zu. Nach einem tosenden Programm von My Chemical Romance, deren Mitglieder durch und durch für den Erfolg auf den großen Bühnen bereit sind, beginnt sich das Delirium erst richtig aufzubauen. Es ist unwahrscheinlich, daß man jemals so eine Reaktion erlebt, wenn etwa ein gigantischer pinkfarbener Hase zu „YMCA“ und „Blitzkrieg Bop“ von den Ramones tanzt, aber das ist gar nichts, verglichen mit dem Gebrülle, als Billie Joe, Mike und Tre sich auf die Bühne begeben und sich geradewegs in die nach vorne schnellenden Angriffsmomente von „American Idiot“ stürzen. „Ich möchte, daß Ihr so laut singt, daß Euch jeder verdammte Redneck in Amerika hören kann“, fordert Armstrong, und die Menge reagiert perfekt. Während des Auftri tts hat er dieses Publikum perfekt im Griff – seine Fingernägel sind schwarz lackiert, und er verbreitet ein Charisma, von dem man kaum etwas hatte erahnen können, als die Band zum ersten Mal berühmt wurde. Im Laufe des vergangenen Jahrzehnts hat er sich zum vollendeten Rock-Frontmann entwickelt und Green Day sich in stadiumfüllende Giganten. Da gibt es nichts Verblüffendes, aber es gibt eine Menge an Showelementen wie Explosionen, Lichter und ein gigantisches Flammenmeer, und das alles im Einklang mit den Highlights aus einem unbestritten großartigen Repertoire. Die Songs von american idiot klingen mittlerweile entsprechend gewaltig und maßgeschneidert für einen Auftritt wie diesen.

„Für uns war es irgendwie, als würden wir etwas Neues beginnen und etwas, irgendetwas tun, das gleichermaßen positive wie auchfurchterregende Elemente beinhaltet“, sagt Armstrong sowohl über die Show im neuen Look als auch die anspruchsvolle Bandbreite des letzten Albums. „Wir hatten wirklich das Bedürfnis, eine neue Ära für uns einzuleiten.“ Wart Ihr Euch der Tatsache bewußt, daß das für Euch ganz schön in die Hose hätte gehen können? „Absolut. Wir wußten, daß es entweder ein Erfolg werden würde oder wir beim Publikum total durchfallen würden. Wir haben irgendwie das gegeben, was wir hatten, und sagten, ok, gebt uns einfach eine ,1′ oder eine,6′.“

Wahrend der meisten Green-Day-Konzerte gibt es einen Punkt, der sich unter Fans herumgesprochen hat. Nachdem sie eine Coverversion von Operation Ivys Song „Knowledge“ zur Hälfte gespielt haben, lassen sie den Song stockend verstummen und holen drei Fans aus dem Publikum auf die Bühne, die dann den Rest des Songs spielen dürfen. Wenn man das ein Mal macht, ist es fantastisch und ein wahnsinnig unterhaltendes Element der Bühnenperformance. Wenn man es ein paar Mal macht, verliert es ein bißchen an Wirkung, und wenn man es routinemäßig bei fast jeder Show macht, könnte man es leicht als effekthaschenden Gag bezeichnen, als Green Days Masche. Und irgendwie ist dies alles eine Zusammenfassung dessen, worum es bei Green Day heute geht. Sie kümmern sich nicht darum, was Journalisten und Kommentatoren denken könnten. Sie scheuen sich nicht, erprobte Rock-Klischees im Stadion anzuwenden oder sogar ein paar neue zu erfinden. Worum sie sich kümmern, sind die Auftritte und die Fans. Als Teil der Green-Day-Live-Präsentation bleibt das „Knowledge“-Segment ein extrem unterhaltsamer Teil des Punkrock-Theaters, und was die Fans betrifft, die auf die Bühne geholt werden: Man muß sich einmal in ihre Lage versetzen und vorstellen, was das für ein Gefühl sein muß.

„Ich mache es fast alleine schon deswegen gerne, um jeden Abend die Reaktionen auf ihren Gesichtern sehen zu können „, meint Armstrong grinsend. „Sag ihnen, sie sollen sich umdrehen, und sag `schau da hinaus auf all die Menschen, deren Blicke nuraufdichgerichtet sind.` In Berlin waren das immerhin 200.000.“ „Wie das Kaninchen vor der Schlange“, lacht Tre. Erinnert Ihr Euch noch an die Zeit, als Ihr selbst noch Fans mit großen Augen wart? „Absolut“, nickt der Frontmann. „Zugegeben, es gibt Zeiten, da ist man total am Ende und ausgelaugt, wenn man das Nacht für Nacht durchzieht, aber ich würde nichts anderes machen wollen. Als ich ein kleiner Junge war und die Luftgitarre zu meinen Lieblingsplatten gespielt habe, hätte ich nie gedacht, daß ich das mit einer echten Gitarre einmal vor so vielen Leute tun würde.“

Die Tatsache, daß Billie Joe sich nun in einer derart erhabenen Position befindet, verdankt er auch der Tatsache, daß Green Day immer noch eins draufsetzten und sich weigerten, sich in eine Schublade schieben zu lassen, die die Öffentlichkeit und die Kritiker für sie parat hatten. Dennoch: Zieht ihm das schiere Ausmaß des Erfolgs nicht die Schuhe aus? „Wenn ich nicht das Gefühl hätte, daß wir dorthin gehörten, wären wir nicht dort. Es paßt genau zu dem, was wir gerade machen, undich bin glücklicher in dieser Band ah je zuvor in den sechzehn Jahren, in denen wir schon zusammen sind.“

Übersetzung: Planet Translation

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