Grosse Gitarre Mit Kleinem Mädchen


Traume werden nur Im Märchen wahr – oder in Amerika. Melissa etheridge, ein kleines Mädchen aus Kansas, wollte nicht mehr als Gitarre spielen und singen. Doch dann entdeckte sie plötzlich ein hellhöriger Platten-Bon…

Daß ein ausgefuchster Talent-Scout wie Chris Blackwell, der einst Cat Stevens und Bob Marley „entdeckte“, der Steve Winwood und Robert Palmer aufbaute, U2, Tom Waits und Grace Jones „einkaufte“, noch selbst auf Künstler-Pirsch geht, grenzt schon an ein kleines Wunder. Ende 1985 besucht der Chef der Plattenfirma Island das „Que Sera, Sera“, einen kleinen Club im kalifornischen Long Beach. Auf der Bühne eine große Ovation-Gitarre mit einem kleinen Mädchen: Melissa Etheridge aus Leavenworth in Kansas.

In verwaschenem Sweat-Shirt und abgewetzten Jeans sieht Blackwell eine Mischung aus T’Pau.s Carol Decker (Gesicht und Haare) und Sammy Fox (Körper-Bau) vor sich. Was da aus der Gitarre kommt, läßt den Island-Boß schon aufhorchen, doch als Melissa zu singen anfängt, schlagen bei Blackwell alle Zeiger aus. Am selben Abend noch unterbreitet er Etheridge ein Angebot und nimmt sie in den exklusiven Kreis der Island-Familie auf. Seine Geduld soll trotzdem noch auf eine harte Probe Bestellt werden, bis dieser Rohdiamant poliert ist. bis das Debüt-Album MELISSA ETHERIDGE in die Läden kommt. Die Singer/Songwriterin „out of the middle of nowhere“, mit der Chance ihres Lebens konfrontiert, will es natürlich besonders gut machen und verzettelt sich in den Möglichkeiten ihr bis dato unbekannten moderner Studio-Technologie. Nach kurzen auditions legt sie sich zunächst einmal eine eigene „Band“ zu. Bassist Kevin McCormick und Drummer Craig Krampf erhalten den Zuschlag und einen Island-Vorschuß. Der erste Versuch im Studio geht allerdings voll nach hinten los. Blackwell läßt das erdverbundene Trio am langen Zügel und großteils selbst produzieren. Begeistert von Effekten, technischen Spielereien und Sound-Gags fährt Melissa mit ihren Kollegen in eine Sackgasse ab. „Es war ein Desaster. Wir haben alles ausprobiert — und das Ergebnis war total äberproduzien. Sound-Bombast, der mit meinen Songs nichts mehr zu tun halle. „

Es spricht für Blackwells Gelassenheit und seine Überzeugung, den richtigen Riecher gehabt zu haben, denn statt sein neues „Baby“ in Grund und Boden zu schimpfen, legt er die Bänder in den Schrank und gibt Melissa eine zweite Chance. „Ich wollte“, so Melissa, „doch keine Techno-Music, sondern bodenständige Sounds. Also gingen wir im Sommer ’87 auf eine Club-Tour quer durch die USA, spielten uns richtig warm und arbeiteten das Song-Material aus.‘ Als die Truppe heiß war, schickte sie Blackwell mm zweiten Mal ins Studio. Vom 19. bis zum 23. Oktober 1987 – in nur vier Tagen – wurde das komplette Album „live“ eingespielt. Diesmal aufs Notwendigsie reduziert, schmale Instrumentierung, viel Ausdruck. viel Seele. Transparente Balladen mit einem Schuß Seelen-Striptease wie „Precious Pain“ oder der Wagemut, einen Titel wie „Occasionally“ nur mit Stimme und Finger-Percussion auf dem Gitarrenboden aufzunehmen, harmonieren mit der Wucht von „Like The Way I Do“ oder „Bring Me Some Water“. Die direkte Betroffenheit des Hörers spiegeln Engagement und Ehrgeiz der 26jähriaen Amerikanerin wider.

„Der Mittlere Westen läßt einem Mädchen nicht viel Möglichkeilen“, weiß Melissa. „Es gibt nicht viel Kunst in Kansas, nicht viel von Allem eigentlich.“

Aber es gab auch bei Familie Etheridge ein Transistor-Radio, einen Plattenspieler und viele, viele Singles. Bevorzugt Country & Western. Mit acht Jahren bekam Melissa die erste Gitarre, bereits mit 12 imitierte sie gekonnt Country-Ladies wie Loretta Lynn oder Tammy Wynette.

Als die Eltern begreifen, daß ihre Tochter nichi nur begabt ist, sondern es mit der Musiker-Karriere auch ernst meint, soll eine „anständige“ Ausbildung her. Das ewige Tingeln durch Clubs, Bars und Kaschemmen ist den Eltern ohnehin ein Dorn im Auge. Der nächste Schritt führt nach Boston, aufs Berklee College, um Gitarre zu studieren. Jazz und „moderne Musik“ stehen auf dem Stundenplan. Doch nach zwei Semestern ist ihr klar, „daß auch diese Schule sehr von Männern dominiert wurde. Sie nahmen die Frauen dort einfach nicht für voll. „

Das ist auch in Los Angeles anfangs nicht anders. Denn als Konsequenz aus den Bostoncr Berklee-Erfahrungen macht sich Melissa in die Musik-Hauptstadt an der Westküste auf. Die Ochsentour durch Clubs ermöglicht ihr ein bescheidenes Leben, prägt vor allem das Songwriting. „Die Stunden nach dem Gig, wenn sich der Luden langsam leert, sind am schönsten. „

Der Bestand an eigenen Songs wächst auf über 100 an. Die gelegentlich vorbeischneienden Talentscouts der Plattenfirmen hören in Melissas Stoff aber nicht die erwünschte Hit-Single. Die braucht Wochen später Islands Chris Blackwell auch gar nicht zu hören. Er erkennt Persönlichkeit und Potential einer jungen Frau, die jetzt antritt, das in sie gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen.