Hektik der Aufklärung


Verhohnepipelung von erfolgreichen Popkulturschaffenden – muss das sein? Nein, aber kann, findet Josef Winkler

Haben Sie’s gelesen? Charlotte Roche hat … nein, um Himmels willen, nicht schon wieder ein Buch geschrieben, und wenn, würd‘ ich Sie nicht fragen, ob Sie’s gelesen haben, weil das hält ja kein Schwein aus. Aber Charlotte Roche hat selber ein Buch gelesen, und das hat sie so beeindruckt, hört man, dass sie sich das Titelblatt gleich auf die Hand hat tätowieren lassen: Das Cover von „Tiere essen“ von Jonathan Safran Foer ist jetzt offenbar bei ihr auf dem Handgelenk drauf, weil Charlotte Roche seit der Lektüre, sagt sie, überzeugte Vegetarierin ist und das Buchcover auf der Hand sie immer daran erinnern soll. Man fragt sich, ob sie sich das nicht auch so hätte merken können, Stichwort: Lebensentscheidung. Aber wenn man so viel beschäftigt ist, weil, obwohl die meisten eh schon auf Linie sind, immer irgendwo doch noch ein klemmiger Spießer herumrennt, den’s abzuschocken gilt, kann’s wahrscheinlich schon mal passieren, dass man dann aus Versehen auf einmal ein Tier isst, weil man in der Hektik der Aufklärung kurz die Überzeugung vergessen hat. Aber Vorsicht, nicht dass man dann zerstreut liest „Tiere essen“ und sich denkt, „ups, beinah vergessen“ – und schnell ein paar Tiere isst! Das wäre nicht im Sinne des Erfinders. Na gut, Schmarrn. Auf ihre andere Hand – das hört man nicht, das vermute ich jetzt einfach – hat sich Charlotte Roche ihr eigenes Buchcover tätowieren lassen, damit sie nie vergisst, es sich immer gleich zu notieren, wenn irgendwas bei ihr tröpfelt oder sich eine Körperfunktion regt, weil: Gold wert fürs nächste Büchlein!

Wie? Was muss hier eine Frau verhohnepipelt werden, die voll so Erfolg hat und Millionen Buchkäufern Freude oder irgendwas in der Richtung bereitet, und verhohnepipelt man diese Millionen nicht alle mit? Ja, gern! Also wirklich. Wenn man sich vorstellt, dass Charlotte Roche mal cool war – schräg, gell?

Aber wahrscheinlich war ja sogar Nena irgendwann mal cool, kurzzeitig. Letzthin in die Situation gekommen, das Wort „Urkontinent“ zu googeln – keine alltägliche, nichtsdestotrotz so unspannende Situation, dass ich den Hergang hier ungeschildert lasse -, stellte ich fest, dass es einen Urkontinent gegeben haben soll bzw. könnte, der Nena heißt. Also: Früher gab es ihn vielleicht, heute heißt er so. Genauer: Nena ist die „Bezeichnung für einen hypothetischen, paläoproterozoischen/mesoproterozoischen Kontinent, der vor 1 750 bis 1 265 Millionen Jahren existiert haben soll“.

Vor 1750 bis 1 265 Millionen Jahren – das ist tatsächlich sogar noch länger, als die bald 30 Jahre, die uns Susanne „Nena“ Kerner jetzt schon mit ihrer Kunst beglückt. Obwohl: auch „gefühlt“ länger … ? Man hat freilich keinen Vergleich, weil vor 1 750 Millionen Jahren auf der Erde noch nichts da war, was etwas hätte fühlen können – es wäre von daher natürlich auch die ideale Zeit für die Kunst von Nena Kerner gewesen: Noch eine Platte und noch eine Platte und noch eine, und keinen hätt’s aufgeregt, Millionen Jahre lang. Nena ist ja nicht nur die einzige deutsche Schallplattenkünstlerin, nach der ein hypothetischer Urkontinent benannt wurde, sondern meines Wissens auch die einzige, die zwei Alben in Folge veröffentlicht hat, in deren Titel das Wörtchen „nicht“ schnoddrig verkürzt zu „nich“ vorkommt. Und allein das kann einem ja schon so wahnsinnig auf die Nerven gehen, wenn man einen schlechten Tag hat, dass …

Und dann schmeißt der Postbote die neue „SZ“ durch die Tür, darauf das Foto von einem Banker, der angewidert spöttisch die Zunge herausstreckt vor den Zelten von Demonstranten, die das Londoner Bankenviertel belagert halten. Und dann kriegt man sich sofort ein, kommt wieder zu sich und weiß wieder, wo die wahren Probleme sind und der eigentliche Feind sitzt. An dem man dranbleiben sollte. Entschuldigen Sie die Ablenkung.