Popkolumne, Folge 146

Abgebrochen, ausgetickt und angepinkelt: Die 12 größten Skandale des Popjahres 2021


Liegt‘s an Corona oder der allgemeinen Verfasstheit der Welt, dass auch Pop dieses Jahr so nah am Nervenzusammenbruch operierte? In der letzten Popwoche für 2021 (KW 52) sollen daher zwölf der größten Aufreger des Jahres aufs Skandal-o-meter eingetragen werden. Featuring: Nena, Lady GaGa, U2, die Stones, Billie Eilish, Bushido, die Orsons und natürlich die Sängerin der Band Brass Against.

12. Konzertabbruch mit Helge Schneider

Also Helge Schneider wäre nicht der erste, um den ich mir in einer gesellschaftlichen Ausnahmelage Sorgen machen würde. Klar, sicher schlummern Dutzende Abgründe in diesem Mann, aber in sich und seiner Kunst wirkt er auf mich äußerst stabil und unbeirrbar. Doch schon 2020 hätte man bei diesem Felsen an der Ruhr Risse wahrnehmen können: Vornehmlich aufgrund seiner Ansage, dass er sich aus dem Live-Geschäft zurückziehe. Da ihm die Vorstellung pandemie-beschränkter Konzerte oder gar Autokino-Shows dermaßen elend erschien. Doch dann kam seine Platte „Mama“ heraus und irgendwie schien sich auch „unser Helge“ mit den aktuellen Live-Gegebenheiten irgendwie arrangieren zu können. Im Juli dieses Jahres dann aber der spektakuläre Konzert-Abbruch in Augsburg. Vor Ort hatten die Leute dabei erstmal gar nicht kapiert, dass seine Ansage, die Veranstaltung jetzt abzubrechen, gar keinen launischen Gag darstellte, sondern vollkommen ernst gemeint war.

So währte die Strandkorb-Show kaum dreißig Minuten. Als Begründung für den Abbruch ließ Helge später postulieren, er habe „keinen Kontakt zum Publikum herstellen können“ und die Sache habe ihm daher „einfach keinen Spaß gemacht“.
Die dem ersten Verdutzen nachgelagerte Empörung griff schnell vom Live-Publikum („Geld zurück!“) aufs Internet über („Er ist so undankbar!“).

Ich selbst muss gestehen, ich war eher angenehm überrascht. Darüber, dass ein Künstler der Größe von Helge Schneider seinen eigenen Spaß tatsächlich als Bühnenmaßstab nimmt – und nicht völlig entfremdet einfach sein Programm runterorgelt.

Mein Urteil fällt daher milde aus und mündet in den Skandalfaktor: 3/10

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11. Schlechtes Karma mit U2, Martin Garrix und der UEFA

Eigentlich benötigt das Fußballgeschäft keine Pandemie, um sich maximal beschissen in Szene zu setzen – das kriegen UEFA und FIFA schon selbst hin. Doch die Gelder und Privilegien, die dem Spielbetrieb mal wieder zugeschanzt wurden … das tat 2021 so richtig weh.

Geschlossene Clubs, geschlossene Büchereien – aber volle Stadien bei einer der seelenlosesten, korrumpiertesten und werblichsten Fußballgroßveranstaltung überhaupt. Diese sogenannte Europameisterschaft war echt eine Schande – und ihre verwahrlosten Ausrichter können höchstens hoffen, dass es nächstes Jahr mit Katar einfach NOCH SCHLIMMER wird.
Passend dazu auch der offizielle EM-Song. Hinsichtlich dem ich mich selbst zitieren möchte: „Das Stück ‚We Are The People‘ verbindet das geriatrische Elefanten-Gedächtnis des Pop (U2) mit seiner deformierten Gegenwart, also dieser stadionfüllenden Electronic Dance Music (Martin Garrix). Das Ergebnis eint Jung wie Alt: Alle finden es ätzend. Ein infernalisches Nichts, das nicht nur die Angst nährt, bald könnten Algorithmen selbst Stücke zusammenbasteln, sondern noch schlimmer: dass sie es bereits tun!“

In Tateinheit mit dieser würdelosen EM schlägt das Skandalbarometer aus auf: 7/10

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10. Die Simpsons mit Morrissey

In der aktuellen und damit 32. Staffel der „Simpsons“ imaginiert Lisa einen sexy misantrophen, an den Morrissey der Achtzigerjahre angelehnten Phantasie-Freund. Sein Name ist Quilloughby, seine Band heißt „The Snuffs“, gesprochen wird er von dem englischen Schauspieler Benedict Cumberbatch. Als Pointe präsentiert die Folge („Panic On The Streets Of Springfield“) jenen Quilloughby in der Jetztzeit. Von sexy misantroph zu hässlich misantroph: Er ist optisch wie inhaltlich ein entgleistes Zerrbild der Ursprungsversion.

Hier hat man es mit mehr als dem üblichen, gütigen „Simpsons“-Spott zu tun. Der Morrissey von heute ist ein Ungetüm. Diese Darstellung blieb auch jenem Morrissey selbst nicht verborgen, der daraufhin die Macher auf Facebook angreift. Verletzend und rassistisch sei ihre Show geworden, habe sich allgemein in den letzten Jahren zum Negativen gewandelt. Die „Simpsons“ hielt diese Kritik von Nichts ab, viel mehr veröffentlichen sie den Song ihres Pseudo-Morrisseys aktuell auch noch auf allen Streaming-Plattformen.

Skandalfaktor: 6/10

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9. Beef zwischen Die Orsons und Bushido

Bushido zeigt sich seit Neuestem total gefühlig. Wie ein Frettchen schnurrt der ehemalige Gangsta-Rapper Mond und Medien an. Der Grund: Die sechsteilige Doku „Unzensiert – Bushido’s Wahrheit“ mit starken Reality-TV-Faktor (vgl. Die Wollnys oder die Ludolfs) soll ihn als geläuterten Testo-Jockel zeigen.

Die Wahrheit ist allerdings viel banaler und tragischer: Bushido ist weiterhin Bushido.

Doch ohne den Abou-Chaker-Clan als Rücken bekommt er dieser Tage mehr Gegenwind ab in der Tough-Guy-Szene – außerhalb sowieso: Die Orsons reagieren auf seinen Diss gegen sie (geäußert in einem prominenten Interview) mit einem sehr unterhaltsamen Track, auf dem sie Bushidos Stimme samplen und diesen noch mehr Quatsch sagen lassen, als er es ohnehin schon selbst immer tut.

Spaßfaktor hoch, Skandalfaktor überschaubar: 4/10

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8. Ungeile Allianzen mit MC Bogy und Ken Jebsen

MC Bogy ist seit seinen Veröffentlichungen beim einstigen Kult-Label Aggro Berlin eine schillernde Figur der deutschen HipHop-Szene. Er war bereits gesichtstätowiert, bevor das (im Rap) zur Mode wurde und scheint wirklich durchgehend Hasch zu rauchen – wie nicht nur ich als Zivilbulle konstatieren muss. MC Bogy besitzt dabei (oder dadurch?) ein eher kindliches Gemüt und wirkt stets gleichermaßen bekifft wie komplett unverstellt. Daher hängt dem nebeligen Koloss auch ein glaubwürdiger Ruf nach. Dieses Jahr nun das: Bogy lädt für seinen Podcast „100% Realtalk“, den er mit dem Rapper B-Lash unterhält, Ken Jebsen ein. Jebsen, der rhetorisch versierte Zampano und Querdenker-Guru, begeistert seine beiden naiven Hosts nachhaltig, die seinen Thesen bereitwillig eine Tür in die HipHop-Community öffnen. Richtig ätzend.

Skandalfaktor: 9/10

7. Katzenklo mit Lisa Kudrow und Lady GaGa

Die Dauer-Präsenz des Neunziger-Jahre-Comebacks konnte man auch daran ablesen, dass DIE Sitcom jenes Jahrzehnts, „Friends“, eine aufwändige Reunion-Show feierte. Darin klampft Lisa Kudrow alias Phoebe Buffay in dem legendären Serien-Hang-Out „Central Perk“ ihren Anti-Folk-Hit „Smelly Cat“, als plötzlich eine ähnlich schrille Figur wie Phoebe und die kultige Stinkekatze den Raum betritt: Stefani Germanotta – also Lady GaGa. Diese stimmt enthusiastisch in den Song ein, was Lisa Kudrow allerdings wenig Begeisterung entlockt – vielmehr lässt sie Lady GaGa ziemlich auflaufen.

Skandalfaktor dessen wäre natürlich weitaus höher, wenn es sich hierbei nicht um einen geskripteten Gag gehandelt hätte. So reicht es wegen all der Star- und Retro-Power zumindest noch für: 2/10.

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6. Antisemitistische Inhalte und Spalter-Scheiß mit dem Wendler

Anfangs hatte ich noch ein bisschen Staunen für „The Downfall of the Wendler“ übrig. Der Diskoschlager-Otto mit neuer jugendlicher Freundin, der seine Karriere so effektiv demolierte und dann auch noch die Bundesregierung zum Rücktritt aufruft. Als Fan von Horror-Grotesken sah ich hier ein schönes Spinner-Exposé.

Doch auf der digitalen Sickergrube Telegram verbreitet das eitle Eimergesicht heute bloß noch die antisemitischen Ausfälle von Attila Hildmann oder des Ekel-Mediziners Sucharit Bhakdi, zudem versucht Der Wendler gegen Provision Pumpernickel und Gaskocher des Kopp-Verlags zu verticken und schürt mit eigenen Einlassungen – DIE GRUNDSÄTZLICH NUR IN KAPITALEN VERFASST SIND – Panik und Desinformation und was sonst noch das Zusammenleben dieses Jahr so schwierig werden ließ. Ach ja, und zwischen all seinem haarsträubenden Gelaber preist er sich und seine 30 Jahre jüngere Freundin bei „Only Fans“ an. Einer Plattform, auf der „Influencer“ gegen Geld blank ziehen.

Eigentlich ist Der Wendler Trash, aber seine Handlungen halte ich mittlerweile bloß noch für zutiefst verkommen.

Zum Glück ist er so madig, dass er nicht mehr zum Skandal taugt. Skandalfaktor: 4/10

5. Zu viel des Hypes mit Billie Eilish

Könnt ihr euch noch erinnern? An das aufgeregte Getute rund um die Nachfolge-Platte zu Eilishs Welterfolgs von 2019, „When We Fall Asleep, Where Do We Go?“. Dieses Jahr erschien mit „Happier Than Ever“ das zweite Studioalbum der Kalifornierin – und die Medien hätten sich nicht aufgekratzter aufführen können. Da alle Sorge hatten, nicht genug Krümel von dem üppigen Eilish-Kuchen abzubekommen, wurde diese Platte – ungehört – ins Weltall gejubelt. Alle wollten dabei sein, alle huldigten hilflos voraustaumelnd einem „neuen Meilenstein“. In den millionenfach reflexhaft hingewichsten Superlativen ging so aber das eigentliche Album seltsam unter. Billie Eilish wurde einfach weggelobt und eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem eher schwachen „Happier Than Ever“ fiel komplett aus.

Skandalfaktor dieser unterlegenen Vorstellung des Pop-Weltgeistes: 7/10

4. Corona-Hustle mit Nena

„Schaltet den Strom aus, oder holt mich mit der Polizei hier runter!“

Bei einem Konzert setzt sich das einstige All-German-Girl Nena auf der Bühne über die Corona-Maßnahmen des Veranstalters hinweg. Jener bricht das Konzert ab. Ende September verkündet die Xavier-Naidoo-Versteherin die Absage ihrer Tour auch für 2022. Grund: „Coronabedingte Auflagen“.

Eines muss man ihr zugute halte: Nena hat uns 2020 ja bereits vorbereitet, ihr Aus- und Abfall traf dieses Jahr wohl niemanden mehr überraschend. Geiler wird die Sache damit allerdings auch nicht.

Skandalfaktor: 8/10

3. Beerdigung ohne die Stones

Seit fast 60 Jahren teilte sich Charlie Watts als Schlagzeuger der Stones mit seiner Band die Bretter der Welt. Als er dieses Jahr nun aber von der Bühne des Lebens abtrat, musste er das ohne die anderen tun. Mick Jagger, Keith Richards und Ron Wood verpassten die Beerdigung des 80-Jährigen, der im August dieses Jahres verstarb.

Corona-Auflagen hätten es der in den USA für eine Tour probende Band verunmöglicht, auf der Beisetzung anwesend zu sein. Selbst wenn es nur daran gelegen haben sollte, ziemlich ernüchternder Abgang, oder? Also wenn mir mal was zustößt, liebe Kolleg*innen vom Musikexpress, herrscht bei der Beerdigung Anwesenheitspflicht. Sonst spuke ich am Wasserspender vor den Redaktionsräumen nicht nur um Mitternacht…

Skandalfaktor: 6/10

2. Urinella mit Brass Against

Nach dem Besuch eines, sagen wir mal, Revolverheld-Konzertes würde man sich doch auch wie angepinkelt fühlen. Metaphorisch, versteht sich: Angepinkelt von all den falschen Emotionen und der hohlen Inszenierung. Warum dann nicht gleich einen Schritt weiter gehen und sich wirklich anpinkeln lassen auf einem Konzert?

Ein motivierter Anhänger der Band Brass Against hat sich zumindest diesen „ewigen Fan-Traum“ (?) im November erfüllt. Als die Sängerin jener amerikanischen Band, die Rage-Against-The-Machine-Songs in Brass-Versionen covert (gegen diese Genre-Beschreibung klingt Anpinkeln ja noch wie das kleinere Übel tbh), ins Publikum fragt, ob jemand Interesse hätte, ihren Urin aufzufangen, meldete er sich freiwillig. Und so geschah es dann auch. Da derart Bildgewaltiges in der heutigen Zeit nicht ohne Smartphone-Protokolle bleibt, konnten sich weltweit die halbsteifen Boulevard-Medien auf den kinky Skandal einer öffentlich urinierenden Frau stürzen. Wie viele Typen man bei literally jedem größeren Event öffentlich an Bäume, Sträucher und Zäune pissen sieht, wurde bei diesem „Aufreger“ dabei offensichtlich vergessen.

Medialer Skandalfaktor: 8/10

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1. Freiheitsberaubung durch Impfgegner*innen

Querdenker*innen und Impfgegner*innen bedienen sich mittlerweile völlig selbstverständlich Behauptungen, die Corona-Maßnahmen der Regierungen seien „faschistoid“ und sie selbst ähnlich verfolgt wie einst Opfer des Dritten Reiches. Dazu kommen noch bizarre Verkehrungen von Begriffen wie „Liebe“ oder gerade auch „Freiheit“. So müssen wir und Marius Müller Westernhagen mitansehen und -hören, wie dessen ewiger Polterabend-Song „Freiheit“ immer wieder auf unsolidarischen Schwurbler-Demos pathetisch und hasserfüllt gekräht wird.

Einziger Lichtblick ist, dass die Zeilen des Stücks tatsächlich auch als Selbstbezichtigung all dieser Trottel funktionieren, die den Song 2021 für sich vereinnahmt haben:

„Der Mensch ist leider nicht naiv
Der Mensch ist leider primitiv
Freiheit, Freiheit
Alle die von Freiheit träumen
Wollen’s Feiern nicht versäumen
Wollen tanzen auch auf Gräbern
Freiheit, Freiheit“

Ich bin ja kein rotbackiger Westernhagen-Exeget, dessen Werk ist mir ehrlich gesagt eher egal, aber was aus diesem Song gemacht wurde dieses Jahr, wie sich das anhörte und was damit einherging… das ist für mich mein Platz Eins dieser Liste. Elender geht’s einfach nicht mehr.

Skandalfaktor: 10/10

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Offener Brief an Bushido / Schwanz ab: Linus Volkmanns Popwoche im Überblick

Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.

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