Popkolumne, Folge 179

Helft dem internationalen Glied-Booking! – Volkmanns sehr männliche Festival-Popwoche im Überblick


Schmiegiger Italo-Pop, eine großartige Mockumentary mit Rap-Geschmack sowie ein Interview zu dem Projekt „Cock Am Ring“, das sich für mehr Diversität auf Festivals einsetzt. Unser Kolumnist Linus Volkmann ist mal wieder tief in die Trickkiste gefallen – heraus kam dieser verhaltensauffällige Text. Viel Spaß!

Cock am Ring – Die Vorrede

„Fick deine räudige Hurenmutter, du dummes Stück Scheiße!“

Ich weiß gar nicht, warum ich den Screenshot dieser Random-Nachricht von einem mir unbekannten „Sven Müller“ immer noch besitze. Aller anderen aus dieser Zeit habe ich mich längst entledigt, es waren einfach viel zu viele. Aber diese eine habe ich vermutlich nie gelöscht, um damit irgendwann in einer hoffentlich nicht allzu weit entfernten Zukunft bezeugen zu können, wie schwer der Weg auch noch in den Zehner Jahren des neuen Jahrtausends war. Der Weg zu einem gendersensiblen Booking auf Festivals wohlgemerkt. Männer urinierten wie aufgescheuchte Rasensprenger in meine Social-Media-Profile, weil ich (wie viele andere auch) den penislastigen Booking-Status-Quo der Open-Air-Saisons als wenig verheißungsvoll und ziemlich hängengeblieben beschrieb.

Sven Müller und vielen anderen ging das zu weit. Mehr FLINTA* auf Festivalbühnen? Nur über seine Leiche!

 

Seitdem hat sich – das muss ich zugeben – einiges getan. Die Diskussion wird weiterhin geführt, aber sie hat an Boden gewonnen. Die Initiative Keychange, der sich viele europäische Festivals (nicht sehr viele deutsche allerdings) und Veranstalter*innen angeschlossen haben, beispielsweise hat einiges losgetreten. Eine ganz große Strahlkraft besaß außerdem (sicher nicht nur für mich) dieses Line-Up des Primavera, das 2019 erstmals bei einer Veranstaltung dieser Größe (und auch bei den Headlinern) über 50% Frauen aufgestellt hatte. Und zwar ohne daraus eine große Werbekampagne für sich zu ziehen. Es wurde einfach gemacht, Punkt.

Das Plakat vom 2019er Primavera, ein Line-Up zum Einrahmen

Das rituelle Mimimi in Online-Diskussionen mit Veranstalter-Dudes und Festivalgängern, die wahlweise den Bankrott oder den Untergang des Abendlandes herbeihalluzinierten, sobald man sich nur bemühen müsste, mal nicht nur ausschließlich Typen zu booken, schien mit Primaveras Best Practice ausgehebelt.

Es bewegt sich was. Und natürlich kann man das genauso auch als Typ zu schätzen wissen. Es ist kein Verrat an der eigenen Kaste, wenn man Popkultur als geilen Möglichkeitsraum erleben möchte, der mehr abbildet als bloß die immergleiche Sorte Mann. Pop ist für mich auch Utopie – eine, die zudem ganz konkret an den Realitäten von Morgen mitgestaltet. Insofern gewöhnt euch daran, in Zeiten der identity politics wird das Thema Repräsentation gerade auch in der Kultur noch dringlicher (und intersektionaler) werden. Zu verlieren gibt es imho nichts. Die Foo Fighters und die Donots werden weiter ihre Bühnen finden, keine Sorge, die Gliedrock-Enklaven werden nicht verschwinden. Aber wenn sich das ganze Drumherum öffnet und wandelt, gibt es keinen, der oder die nicht davon profitieren wird.

Auch wenn wir (bei ganz vielen Festivals) noch weit von Diversität entfernt sind, nehme ich es als Etappensieg, dass solche Shitstorms, wie nicht nur ich sie bei dem Thema im letzten Jahrzehnt verlässlich abgekriegt habe, deutlich an Stuhlkraft eingebüßt haben. Selbst wenn man es auf den Bühnen noch nicht sieht, ist zumindest das Thema angekommen. Und wie kann’s also weitergehen?

Eine sehr substantielle Aktion trat dieses Jahr unter dem Titel „Cock Am Ring“ an. Grundlage ist ein Sampler, der den trägen Entwicklungen vieler großer Festivals Zucker in den Tank pusten will. Mir hat die Musik und auch das ganze bunte Beiwerk so gut gefallen, ich möchte den Macher*innen daher meine aktuelle Kolumne zu Füßen legen. Gute Idee, wie ich finde. Dazu habe ich mit ihnen ein Interview geführt. Viel Spaß!

Cock am Ring – das Interview

Wer es nicht mitgekriegt hat, was ist „Cock am Ring“? Und wer hat das angezettelt?

Cock am Ring ist ein unabhängiger Charity-Sampler. Wir möchten dem armen „Rock am Ring“ helfen. Auf dass sich der Veranstalter Dreamhaus für 2023 endlich mal mehr Bands mit FLINTA+-Personen leisten kann. Auf unserem Sampler „Cock am Ring – 24 flintastische Coverversionen“ präsentieren wir dazu 24 Bands und Künstler*innen aus den verschiedensten Stilrichtungen, die bei aller Vielfalt zwei Dinge gemeinsam haben: Sie sind erstens nicht rein männlich aufgestellt und covern zweitens für alle die-hard Rock-am-Ring-Fans jeweils einen Song einer Männerband aus dem Line-Up von Rock am Ring. Alle Erlöse, die wir mit diesem Projekt einnehmen, gehen dann als Spende an Dreamhaus.

Angezettelt hat das ganze die Band Kochkraft durch KMA und das Label Ladies & Ladys. Unterstützt werden wir von den teilnehmenden Künstler*innen und Bands und außerdem von Janika Streblow, Kölner Künstlerin; Sonja „Sæm“ Trautmann von musicNRWwomen*; Mirko Gläser von Uncle M Music sowie Joe Joaquin, Mixer und Mastering. Und unsere Schirmfrau ist Kulturstaatsministerin Claudia Roth!

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Ihr habt über den Sampler hinaus auch Aktionen auf Festivals gemacht. Welche waren das?

Wir waren vor Ort bei Rock am Ring und Rock im Park und haben dort mit den Festivalbesucher*innen gesprochen und unsere leckeren essbaren Flyer verteilt. Außerdem waren wir bei Carolin Kebekus’ DCKS-Festival und haben uns mit ihr und den Festivalbesucher*innen ausgetauscht.

Und wie haben die Konzertgänger*innen auf das Thema reagiert?

Größtenteils offen und interessiert. Den meisten bei Rock am Ring und Rock im Park war das Thema überhaupt nicht bewusst, sie hatten sich bislang keinerlei Gedanken darüber gemacht. Viele konnten unsere Argumente aber verstehen und waren bisweilen selbst über die Zahlen zum Männeranteil überrascht bis entsetzt.

Und gab es auch Feedback von Rock Am Ring selbst?

Nein.

Viele Festivalbooker geben zu Protokoll, der konservative Publikumsgeschmack sei schuld an den homogen cis-männlichen-Line-Ups – wie bewertet ihr das?

Wir glauben, dass das nicht stimmt. Auf jedem Festival spielen immer auch unbekannte Männerbands. Festivalshows sind oft nicht das Resultat einer Karriere, sondern Teil ihres Beginns und die Chance vor einem großen Publikum zu spielen und dadurch bekannt zu werden. Wenn nicht die Möglichkeit besteht zum Beispiel einen frühen Slot auf einem großen Festival zu spielen, kann man auch gar nicht erst die vielen Herzen der Besucher*innen erobern. Und ohne erste Festivalshows keine Erfahrung, kein Selbstvertrauen, keine Möglichkeit zu lernen und vor allem auch keine Referenzen und Connections, die für andere Festivalshows wichtig wären. Ein Teufelskreis. Nimm als Beispiel mal unsere eigene Band Kochkraft durch KMA: Veranstaltungen wie Bochum Total oder Rock am Berg, die wir in diesem Sommer spielen dürfen, haben wir viel zu verdanken. Oder dass wir als Vorband von der tollen Band Grossstadtgeflüster die Chance haben uns deren Fans vorzustellen. Und gerade für uns ist Live-Spielen die allerbeste Werbung. Die gleichen Mechanismen gelten aber natürlich auch für Labels, Radios und alle anderen Unternehmen in der Musikindustrie (die laut einer Studie zum Reeperbahnfestival zu 75% ausschließlich von Männern geführt werden). Solange alle Beteiligten kein Risiko eingehen und Künstler*innen keine Chancen geben ein größeres Publikum zu erreichen, ist es schwer überhaupt wahrgenommen und dann geliebt zu werden, egal wie toll die Musik ist.

Das Primavera hat es vorgemacht: Es kann auch ganz andere Festival-Zusammensetzungen geben. Das Airwavves in Island hat ebenfalls schon ein großes Bewusstsein zu dem Thema. Wie beurteilt ihr die Entwicklung der letzten Jahre? Das Thema Gender-Equality auf den Bühnen ist ja nun schon ein paar Saisons im Ring. Was hat sich getan?

Es hat sich einiges getan, leider vor allem im Ausland. Das feministische Netzwerk female:pressure hat seit 2012 833 Festivals in 48 Ländern untersucht. Demnach liegt der Frauenanteil auf Festivals im Durchschnitt bei 28%, der non-binäre Anteil liegt bei 1,6%. Deutschland ist im Vergleich zu anderen Ländern sehr viel schlechter aufgestellt: Laut Auszählungen von musicNRWwomen* in den Jahren 2019 bis 2021 ist der Frauenanteil auf den größeren kommerziellen Festivals in aller Regel unter 20%. Wir freuen uns natürlich, dass das Thema mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum mehr Aufmerksamkeit bekommt. Die Debatten werden aber offensichtlich noch nicht überall geführt, denn es gibt auch dieses Jahr immer noch Festivals wie das Moon&Stars Festival, die es schaffen, elf Tage lang ausschließlich Männer auf ihre Bühnen zu holen. Dabei hätten wir ja Zeit gehabt. Und dass den Diskussionen nicht zwangsläufig Taten folgen, hat insbesondere Rock am Ring bewiesen, die vor einem Jahr versprochen haben, sich um Diversität zu bemühen, nur um dann in ihrem Line-Up von 2022 eben wieder nur 5,6% FLINTA+-Personen zu präsentieren. Insgesamt ist in Europa und Nordamerika der FLINTA+-Anteil in den letzten zehn Jahren angestiegen, 2021 aber auch wieder gesunken. Wir finden, dass bei gut einem Viertel FLINTA+-Anteil durchaus noch Luft nach oben ist und befürchten, dass die Entwicklung ohne kontinuierlichen gesellschaftlichen Druck auch schnell wieder in die andere Richtung geht.

Was wünscht ihr euch für die Zukunft der Live-Musik?

Wir wünschen uns Chancengleichheit, Kreativität und Diversität auf den Bühnen dieser Welt.

Was plant ihr über den Sampler hinaus? Wird es eine Fortsetzung geben?

Wir werden über den Festivalsommer hinweg fleißig das Line-Up der deutschen Festivallandschaft dokumentieren und weiterhin darauf aufmerksam machen, dass FLINTA+-Personen unterrepräsentiert sind. Außerdem veranstalten wir ein eigenes Festival am 10. und 11. September in der Sputnikhalle, Münster. An dem Wochenende wollen wir möglichst vielen Künstler*innen und Bands einen Slot bieten, die auf dem Sampler vertreten sind. Und eine Fortsetzung… Für den Fall, dass der FLINTA+-Anteil im Line-Up bei Rock am Ring 2023 wieder im einstelligen Bereich ist, haben wir sicher ein paar lustige neue Ideen!

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Danke an Nikki von Kochkraft mit KMA und ihren Leuten. Ich nehme von „Cock am Ring“ mit, dass man nicht warten sollte, bis sich die schwerfälligen Line-Ups großer Festivals in der Geschwindigkeit von Kontinentalplatten verschieben, sondern dass man immer auch selbst das Feuer sein kann, das die Geschehnisse anheizt.

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Mockumentary der Herzen – Taby Pilgrim und Liser

„Drei Millionen Streams … das sind fast dreißig Cent bei Spotify!“

Ich persönlich habe schon immer gern in Zitaten gesprochen – obwohl, in der Formulierung schwingt vielleicht zu wenig das Zwanghafte mit. Aber wenn man etwas total lustig findet, es sich zehnmal am Stück reinknallt, was für ein Mensch wäre man, wenn man das dann nicht immer auch bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit zitieren würde?!!!11
Und wo ich mich einst Jahrzehnte lang mit Simpsons-Quotes verständlich machte, beziehe ich mich heute auf die Mockumentary „Ja“ von Taby Pilgrim und Liser. Problem dabei: Das kennen noch zu wenige, kaum einer versteht, wenn ich zum Beispiel sage „Sorry, hier blinkt irgendwas… Soll das so?“.

Dabei haben die Gags von Taby und Liser auf jeden Fall das Potenzial, um als Universalsprache eingesetzt zu werden. Rund um den Globus tbh. Ich empfehle ihre Kombination aus „normalen“ Hits und vorgeschalteter Mockumentary jedenfalls nachdrücklich. Mindestens drei Folgen bereits auf YouTube. Thank me later. Aber sowas von!

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Wo sich amore auf dolore reimt – Italo-Pop mit Eric Pfeil

Und noch eine Empfehlung – sind ja bald große Ferien, da will ich mal nicht so sein. Aktuell lese ich „Azzurro“ von Eric Pfeil. Untertitel „Mit 100 Songs durch Italien“, erschienen im KiWi-Verlag. Grundsätzlich mag ich ja keine Popjournalist*innen, die besser schreiben als ich, aber was will man machen? Am Ende des Tages sind es ohnehin viel zu viele. Eric Pfeil verbindet auf jeden Fall beneidenswert leichtgängig anekdotisches Storytelling mit faktischem Mehrwert. Natürlich habe ich zuerst über jene Songs gelesen, die ich kenne – und das sind, I’m not proud of this, nicht gerade die Distinktionsmonster, sondern eher grelles Treibgut wie „Vamos a la playa“ von Righeira oder rundgelutschte Klassiker wie „Gloria“ von Umberto Tozzi. Aber über solche Reinzieher sitzt man schnell auf der Rückbank von Pfeils Fiat Uno und kann sich von seinen Textchen bislang auch ungekannte Italo-Hot-Shots zeigen lassen. Das ist freundliche und leichte Lektüre, bei der man dennoch am Ende nicht mit leeren Händen dasteht.

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Endlich normale Leute: Paulas Popwoche im Überblick

Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.

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