Hopes, No Fears


Das Jahr 2004 hat Keane den Erfolg gebracht, den sie sich lange Zeit vergeblich erhofften. Statt Selbstzweifeln überwiegen jetzt Dankbarkeit und Optimismus bei den Briten - im Wissen, dass ihnen die Reifeprüfung noch bevorsteht.

sieht aus wie ein Klassenausflug. Nur, dass es sonntags eigentlich keine Klassenausflüge gibt. Erst recht keine ins graue, halbverwaiste Industriegebiet Köln-Ehrenfeld. Der stramme Marsch der 20, vielleicht 25 Teenager endet abrupt am Eingang der Live Music Hall. Da stehen sie nun, bepackt mit großen Rucksäcken, aber sichtlich gut gelaunt, und warten darauf, hineingelassen zu werden. „We’ve come to see Keane“, sagt ein Mädchen in der Schlange. Sie spricht mit Londoner Akzent.

Richard Hughes macht das auch. Der hochgewachsene Drummer sitzt neben den anderen Mitgliedern von Keane auf einer Couch im Umkleideraum der Live Music Hall und reagiert erstaunlich unerstaunt auf die Nachricht, dass draußen vor den Toren zwei Dutzend britische Fans im Nieselregen harren:

„Ich weiß, dass einige Leute aus England herüberkommen wollten, um unser Konzert zu sehen. Es ist ja Wochenende.“ Sänger Tom Chaplin, der etwas jünger aussieht als 25, muss jetzt lachen. Weil immer noch vieles, was in den letzten Monaten mit ihm und seiner Band passiert ist, unwirklich auf ihn wirkt. „Wir haben Fans daheim, die sind uns bis nach Amerika gefolgt, weil sie nicht genug von Keane bekommen können „, erzählt er. „Das ist abgedreht, oder? Aber es fühlt sich großartig an zu wissen, dass es Menschen gibt, denen unsere Musik so viel bedeutet-gerade, weil wir über Jahre das Gegenteil erfahren haben. Wir hatten uns eigentlich schon mit dem Schicksal abgefunden, eine Gruppe ewiger Verlierer zu sein. Und dann hat’s doch noch geklappt.“

Besser gesagt: geknallt. Anfang des Jahres spielten Keane, obgleich schon 1997 gegründet, in England noch vor 100 Leuten. Wenn es gut lief. Dann aber wurden sie Support Act für Travis – und hatten prompt ihre eigene ausverkaufte UK-Tour. Das bald darauf veröffentlichte Debütalbum hopes and fears schnellte die englischen Hitlisten hinauf, und die Kunde der gitarrenlos-glücklichen Popband aus Hastings blieb nicht mehr lang das alleinige Geheimnis Britanniens. Keane tourten durch Europa, Amerika und Japan. Im Monatstakt. Ohne nennenswerte Pause und ohne das Bedürfnis, die Bremse zu treten.

„Sobald dein Album raus ist, hast du keinen Einfluss mehr auf das Geschehen „, sagt Hughes. „Du kannst ja schlecht deine Plattenfirma bitten, nicht allzu viele CDs B ihnen die Reifeprüfung erst noch bevorsteht, an die Läden auszuliefern, oder deinen Manager anweisen, alle Promo-Termine zu canceln. Wir haben diesen Erfolg immer gewollt und sind glücklich damit. Vorher waren wir oft frustriert.“ Und das Verhältnis zueinander leidet nicht, wenn man Abend für Abend, Monat für Monat auf mitunter engstem Raum zusammenhockt? Liedschreiber und Keyboarder Tim Rice-Oxley, schwarzer Dreitagebart, lehnt sich ein Stück vor: „Wir mussten schon lernen, auf diese Art zusammenzuarbeiten, den anderen auf Wunsch genug Freiraum zu geben. Aber es ist ja nicht so, als wären wir drei allein unterwegs. Da hängen viele Leute dran, eine große Crew,so bleibt es ein Abenteuer. Manchmal komme ich mir vor wie in einem Wanderzirkus.“

Dass ihre Freundschaft einstweilen keine erkennbaren Risse zeigt, hängt auch mit dem Lebensstil von Tim, Richard und Tom zusammen. Insgeheim mochte sich manch zynischer Kritiker erhofft haben, dass sich die braven, fast biederen Drei, die auf dieselbe südenglische Privatschule gegangen sind, eines Tages den ersten handfesten Rock’n’Roll-Exzess ihres Lebens leisten würden. Fort wäre es dann, das ungekünstelt saubere Image, dem Keane ohne Zweifel einen entscheidenden Teil ihres Erfolgs verdanken. Stattdessen: keine Saufgelage, keine Frauengeschichten, kein gar nichts. Oder verstehen sie sich am Ende einfach nur gut darin, die unanständigen Sachen, die sie auf Tour anstellen, zu verbergen? „Die Wahrheit ist, dass wir nicht etwas vorgeben wollen, das wir nicht sind, nur damit Leute zu unserer Musikfinden“, spricht Chaplin. „Wir sind Durchschnittstypen, die über Alltagsprobleme singen, wie sie andere Durchschnittstypen mit uns teilen. Wir fühlen uns wohl mit dem Bild, das die Leute von uns haben und wollen das nicht mit öden Rock’n’Roll-Klischees anreichern.“

Hughes erinnert sich an einen Abend in Tokio vor ein paar Wochen: „Tom und ich sindin eine Kneipe gegangen – zusammen mit den Libertines. Wir haben etwas getrunken, uns viel unterhalten, ein paar nette Stunden gehabt. Aber kannst du davorstellen, darüber jemals etwas in einem Musikmagazin zu lesen? Dass Keane mit den Libertines zusammen im Pub waren? Nein. Du würdest einen Text erwarten, in dem steht, dass die Libertines wilde Partytiere sind, die betrunken auf Tischen tanzen, während Keane allein auf ihrem Zimmer hocken und Kekse in ihren Tee stippen.“

Dabei war das Jahr 2004 auch für Keane nicht eben arm an wilden Momenten, wie Chaplin sagt: „Es kommt eben drauf an, wie man ,wild‘ definiert.“ Kurz unterbricht ihn Rice-Oxley flachsend „sorry, Tom, ich muss niesen, zu viel Kokain!“-und zieht sich dann grinsend wieder zurück. „Wenn du in winzigen Clubs gespielt hast“, setzt Chaplin fort, „und kein Jahr später beim Glastonbury Festivalvor 40.000 Menschen stehst, ist das für mich schon ein ziemlich wilder Moment. Mehr brauche ich nicht.“ Hughes nickt: „Als ich damals von der Bühne kam, hätte ich ’s mit Mike Tyson aufnehmen können, so viel Adrenalin pumpte mir durch die Venen. „Die Sache ist nur: Heute Abend in Köln werden nicht annähernd so viele Leute zur Show kommen. „Das spielt keine Rolle“, glaubt Hughes. „Wenn wir aus all den Konzerten in diesem Jahr etwas gelernt haben, dann, dass du jedes Mal wieder nervös wirst vorher, weil du nie weißt, was dich erwartet. Es ist nicht wie beim Fußball, wo der Trainer dir vorher die ideale Taktik steckt; du musst immer aufs Neue reagieren. Auf das Publikum, auf dich selbst, einfach auf alles. So bleibst du zwangsläufig motiviert, von Gig zu Gig.“

Motivation. Ganz wichtig für die Zukunft.

„Es hat immer noch etwas Magisches für mich, wenn ich einen unserer Songs im Radio höre“, schwärmt Chaplin; allein: Irgendwann werden sie auch neue schreiben müssen. Da darf man ja mal fragen, ob Keane es eiliger mit einem zweiten Album hätten, wenn HOPES and fears weniger gut angekommen wäre. „Der Erfolg bremst uns nicht aus“, verneint Chaplin. „Im Gegenteil: Wir waren letztens im Studio, um einige B-Seiten einzuspielen, und plötzlich haben wir uns daran erinnert, wie spannend es sein kann, neue Musik aufzunehmen. Das vergisst man mit der Zeit, wenn man permanent unterwegs ist. Wirfreuen uns darauf, die Songs auszufeilen, die wir während der letzten Monate im Tourbus oder beim Soundcheck geschrieben haben, neue Ideen zu sammeln, eben den ganzen Prozess, der hinter einer Platte steckt, wieder von vorne zu durchlaufen.“

Die Umstände haben sich inzwischen freilich verkehrt: hopes and fears entstand ohne Erwartungsdruck von außen, zu einem Zeitpunkt, als Keane nicht gerade strotzten vor Selbstbewusstsein. Vielleicht wurde es gerade deshalb so ein gutes Album. Mit der nächsten Platte müssen sie sich zwar nicht gleich selbst übertreffen, aber immerhin bewähren. Schwer genug, auch für eine Band, die zurück zum Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gefunden hat. Bei Keane sind die Selbstzweifel mit anhaltendem Erfolg nicht in Hochmut umgeschlagen, sondern in gesunden Optimismus und Dankbarkeit darüber, dass „wir endlich die Chance haben zu machen, was wir immer wollten: möglichst vielen Menschen unsere Musik vorspielen, weil wir von ihr überzeugt sind.“ All hopes, no fears – wie genau sich das auf dem zweiten Album niederschlagen wird, weiß Richard Hughes auch noch nicht: „Wir haben im Frühjahr einige Wochen fürs Studio vorgesehen. Keine Ahnung, was dort passieren wird. Es wäre ja auch nur halb so aufregend, wenn wir’s schon ahnten. Vieles wird sich sehr spontan ergeben. Wir könnten zum Beispiel rauer klingen, weniger mit dem Piano arbeiten oder verrückte Keyboard-Sounds ausprobieren. Björk ist vor medÜlla ohne festen Plan ins Studio gegangen und kam mit einer Platte heraus, die nur aufStimmen basiert. “ Das ist denn wohl auch so ziemlich das Einzige, was niemand von Keane erwartet.