„Ich rappe den Blues“


Todesmutig schlich sic der ME an Bullterriern und Bodyguards vorbei, um mit Nelly (23) in Atlanta über den Blues, *NSYNC und verpfuschte Videos zu sprechen.

Der Bus muss weg, findet der Parkwächter des Four Seasons in Downtown Atlanta. Vor über einer Stunde ist der verspiegelte Nightliner vor den üppigen Glastüren des Luxushotels zum Stehen gekommen, seither jedoch hat sich – trotz des Mannes in Uniform, der den Bus misstrauisch umkreist – nichts gerührt. Alle zehn Minuten telefonieren Universal Records-Mitarbeiter nach drinnen, doch die Gespräche sind kurz: „Hey, wie gehts? Klar… natürlich… wir laufen ja nicht weg! Bye! Als sich die Türe endlich zischend öffnet, lässt sich in einer Wolke aus süßlichem Qualm zunächst ein wahnwitzig monströser Bodyguard Stufe für Stufe auf den Asphalt herab. In Badeschlappen wankt er schnaufend in die Lobby, an der einen Hand Nellys angeleinten Bullterrier, in der anderen ein Telefon, das er abwechselnd ans Ohr oder an den Mund hält – Sprechen und Hören gleichzeitig ist aufgrund der kolossalen Schädeldimensionen unmöglich. Nach und nach trödeln auch Nelly und seine Homies in ihre Suiten, während der Bus in der Tiefgarage verschwindet.

Seit Cornell Haynes Jr. alias Neiiy aus St. Louis mit Hits wie „E.I.“ und „Ride Wit Me“ sein HipHop-Ausnahme-Debüt „Country Grammar“ über neun Millionen Mal verkauft hat, lässt er sich gerne ein bisschen sehr viel länger Zeit – und zwar aus reinem Selbstschutz. „Plötzlich gibt es immer etwas zu tun. Immer, immer, immer“, erklärt er spät am Abend im Salon, nicht ohne zuvor ausführlich die neue Diamant-Uhr eines Kumpels untersucht zu haben. „Witt ich in meinem Zimmer rumhängen und nichts tun, dann geht das nur, wenn ich jemanden warten lasse.“ Der Mann mit dem Spaßpflaster auf der Backe spricht leise und ein wenig scheu. Er ist höflich, wirkt ruhig und entspannt. Dass die Erwartungen an sein zweites Album „Nellyville“ ähnlich hoch wie an „The Eminem Show“ waren, belastet ihn nicht. „Unter Druck würde ich nur stehen, wenn ich das Gefühl hätte, dass mein Erfolg nur… wie heißt das Wort“, überlegter, während an seinem Gürtel Mobiltelephon und Pager um die Wette musizieren, „… dass mein Erfolg nur Glück war! Aber ich stehe nicht unter Druck, wieder Glück haben zu müssen, sondern lediglich genau das zu tun, was ich eh gerne tue.“

„Bounce heißt der flubberige Stil, der von Künstlern wie OutKast, Master P., Nelly und Mystikal populär gemacht wurde und HipHop zwar zum großen Teil inhaltlich auf „Party reduziert, dem Genre aber musikalisch bedeutende Impulse gibt. Was vor zehn Jahren undenkbar schien: der Süden und mittlere Westen der USA haben als HipHop-Kreativzentren die Ost- und Westküste abgelöst. „Jeder will zur Zeit in Atlanta leben“, übertrieb Ludacris kürzlich auf der Bühne in eben dieser 3,5-Millionen-Metropole, die außer Highways, CNN und Coca-Cola wenig zu bieten hat. Und auch Nelly weilt Anfang Mai in der ehemaligen Olympiastadt, um dort sein (erstes – dazu später mehr – Video zur Single „Hot In Herre“ zu drehen. Produziert haben den launigen Hit The Neptunes: Die Multiinstrumentalisten Williams und Hugo aus Virginia haben in den letzten Jahren bedeutend dazu beigetragen, dem HipHop des Südens die Wärme von schwarzem Blues und Funk zu geben. „Ich rappe den Blues“, tönte Nelly beim Erscheinen von „Country Grammar“, und er liegt nicht ganz falsch.

Seine weiche Stimme, sein eleganter und warmer Reimfluss sind tief in der traditionellen Musik des amerikanischen Südens verwurzelt. „Sein Stil ist eine Mischung aus EazyE und John Lee Hooker“, schrieb ein US-Kollege, und Nelly lacht, wenn er das hört. “ Ja, Eazy E war wichtig für mich – er war ein Pionier. „Und was ist mit John Lee Hooker? „John Lee wer?“, fragt er und schüttelt den Kopf, als ihn ME aufklärt. „Ich kenne den Namen gar nicht. Ich weiß nicht so genau, wer das ist…“ Obwohl die Versuchung groß ist, nun weitere Legenden der Musikhistorie wie Otis Redding oder Curtis Mayfield abzufragen, lassen wir – Bodyguard, Bullterrier etc. – das Thema ruhen. Gelegenheit, das Gespräch zu vertiefen, bietet sich erst am nächsten Tag beim Videodreh, als Nelly mit seinem Terrier Stunden zu spät am Set erscheint. „Sitz“, kommandiert er wieder und wieder, bis er dem von Kränen, Lautspreehern und Scheinwerfern verstörten Tier schließlich den Po auf den Boden drückt. Apropos Po. Über 100 großbrüstig gecastete Statistinnen tragen mit Eifer dazu bei, die visuelle Umsetzung der „Story“ zu einem feministischen Supergau zu machen: In einem imaginären Club auf dem“.Arch“ in St. Louis wird gefeiert. Als Nelly kommt, wird es derart heiß, dass sich Gäste nach und nach aus ihren Gucci-Klamotten schälen. „Mir egal, dass ich nur für Party-Songs bekannt bin“, versichert Nelly in einer Drehpause. „Hierin den USA werde ich auch nicht ausgelacht, wenn ich mit *NSYNC arbeite. Wenn der Song hot ist und du deinen Hintern hochkriegst und tanzt, dann ist altes egal.“

Zufrieden, das unverkrampfte Entertainment-Verständnis der Amerikaner so treffend in Worte gefasst zu haben, wandert Nelly durch die Halle zu einem Monitor. Beim letzten Shot hat er sein Stirnband übers Auge gezogen und will nun überprüfen, ob er so „wie ein Idiot“ aussieht. Nach einiger Zeit murmelt er ein „passt schon“. Tage später wird er dieses Urteil revidieren. Als man Nelly das Ergebnis des teuren Drehs präsentiert, beschließt er, dass das arg klinisch wirkende Video für die Tonne ist. Und da der stille 23-Jährige erstaunlich stur werden kann, wird ein komplett neues Video in Auftrag gegeben. Der verunglückte Versuch wird kurzfristig zum Einsatz kommen, bis er Mitte Juni bei Eintreffen des weniger sterilen Updates stillschweigend ersetzt wird.

www.nelly.net