Interview mit Bassist Kai Sichtermann


Als „Keine Macht für Niemand“ entstand, waren Ton Steine Scherben ein absolutes Untergrund-Thema, heute wird das Album in die Top Fünf der besten deutschen Platten gewählt Habt ihr jemals damit gerechnet, irgendwann mal Kultstatus zu erreichen?

Nee, sicher nicht. Aber man sollte nicht vergessen, dass wir auch damals schon unsere Fans hatten.

Ganz offensichtlich. „Keine Macht für Niemand“ gilt als das meistverkaufte Album von Ton Steine Scherben. Was heißt das konkret?

Eine genaue Zahl zu nennen, ist schwierig. Als ich die Biografie „Keine Macht für Niemand“ schrieb, habe ich mal so über den Daumen gerechnet, dass es bis heute ungefähr 500.000 Stück sein müssten. Nicht schlecht, oder?

Findest du es gerechtfertigt, dass „Keine Macht für Niemand“ unter den Top Fünf der besten deutschen Alben gelandet ist?

Schwer zu sagen. Das sollen andere Leute beurteilen. Man fühlt sich natürlich irgendwie geschmeichelt, außerdem spricht es für die Qualität der Songs. Die Aufnahme selbst finde Ich allerdings gar nicht so toll, mir gefallen unsere Live-CDs wesentlich besser. Als Scherben-Fan würde ich immer zu den Live-Alben greifen.

Wie in der Biografie zu lesen ist, wurde „Keine Macht für Niemand“ komplett an einem Wochenende eingespielt. Allerdings unterbrochen vom legendären 3:1-Sieg der deutschen Elf gegen England in Wembley, den ihr als Fußball-Fans nicht verpassen wolltet. (lacht) Ja, das stimmt. Wir haben uns die Fernsehübertragung des Spiels im Studio angesehen, und dafür sogar die Aufnahmen unterbrochen.

Welche Erinnerung ist heute präsenter? Das Spiel oder die Aufnahmen?

Eigentlich beides. Das Spiel war natürlich legendär.

Die deutsche Rock-Szene war In jener Zeit ja noch überschaubar. Hattet ihr Kontakte zu anderen Bands?

In den frühen Siebzigern kaum, intensiver wurde es erst gegen Ende des Jahrzehnts. Anfangs wurden wir ja auch gar nicht so ernst genommen, die deutsche Musikszene belächelte uns. Auch die Presse war nicht gerade auf unserer Seite, anfangs ging’s noch, aber irgendwann wurden wir von den Medien einfach ignoriert. Wir galten als Chaoten, Anarchos und Punks, auch wenn es den Begriff Punk ja noch gar nicht gab. Das hat unserem musikalischen Image jedenfalls nicht so gut getan. Wir hatten auch einen schlechten Sound, eine schlechte Anlage, weshalb alles ziemlich roh klang. Leute wie Can waren die viel ausgereifteren Musiker.

Welche Musik hörst du heute? Was liegt gerade in deinem CD-Player? (lacht) Mein CD-Player ist kürzlich verreckt, ich hab‘ Ihn gerade zur Reparatur gebracht…

…aber vielleicht hast du ja noch einen Plattenspieler?

Leider nicht mehr. Bei einem meiner vielen Umzüge sind alle meine Platten verschütt gegangen. Um die Frage zu beantworten: Ich gehe oft auf den Flohmarkt oder in Second Hand-Läden und suche nach R’n’B-CDs aus den fünfziger Jahren. Da gibt es so tolle Sachen, die kaum einer kennt in Deutschland.

Zum Beispiel?

Big Joe Turner, Sarah Vaughan, Otis Spann. Mit den Ya Yas, meiner aktuellen Band, spiele ich genau diese Art von Musik. Wir haben zwar erst einen Auftritt absolviert, aber vielleicht wird es irgendwann mal ein Album geben.

Legst du dir heute noch Scherben-CDs in den Player?

Nee. Als ich das Buch schrieb, habe ich mir alle ein Mal angehört, um den Einstieg zu finden. Richtig laut mit dem Kopfhörer, aber das war das erste Mal seit Jahren. Wenn man die Songs ein paar hundert Mal live gespielt hat, dann ist irgendwann die Spannung raus.