Jazz


Er hat wirklich Besseres verdient, als in der intellektuellen Ecke zu verkümmern. Sein Nischendasein in Ehren, doch der Jazz ist seit jeher der Fels in der Brandung musikalischer Moden. Ob HipHop, Rap, Acid oder Ambient die internationale Dance-Szene greift gern in seinen großen Fundus

Geht’s ihm so gut wie nie zuvor – oder hat man ihn vergewaltigt? Isser tot oder riecht er nur komisch? Obwohl sich der Jazz seit Jahrzehnten als Musik stattlicher Minderheiten munter entwickelt und nebenbei mächtig auf Rock und Pop abfärbt – nicht nur auf Björk und Sting, Collins und Zappa werden ihm ständig neue Diagnosen gestellt. Als wäre die ambitionierteste musikalische Errungenschaft dieses Jahrhunderts ein Patient. Dabei ist der Jazz so wenig bettlägrig wie hoffnungslos elitär oder etwa des HipHop beboppender Zwillingsbruder. Bloß: Was bitteschön ist er dann?

Fragen wir Michael Naura, Eibindianer und nicht erst seit gestern Verwalter des Jazzreservats beim Norddeutschen Rundfunk. Für ihn bedeutet Jazz „das Aufladen von Musik fast alles eignet sich dazu: Kinderlieder, Hymnen, Musical-Songs – mit einer bestimmten rhythmischen Spannung“. Das geht auch ohne Schlagzeug, muß nicht immer auf Swing hinauslaufen und hat schließlich dazu geführt, daß ein paar Hundert „Nirosta-Songs“ in immer neuen Interpretationen die „Standards“

der Jazzimprovisation abgeben. Ganz zu schweigen davon, daß zu einem Jazz-Quintett selten weniger als vier Komponisten gehören, weshalb auf den neuen US-Jazzbriefmarken (ab September im Handel) ganz korrekt der Hinweis vermerkt sein wird: „John Coltrane, Jazz Composer and Saxophonist“.

„Fusel“ nennt unser Jazzreservat-Indianer das, was neuerdings unter dem Etikett „HipHop ist Jazz“ ausgeschenkt wird.

Obwohl auch würdige Veteranen wie der Bassist Ray Brown mit Rappern zusammenarbeiten und ein ewiger Wahrheitssucher unter den Saxophonisten namens Pharoah Sanders betont: „HipHop und Jazz beruhen auf denselben Erfahrungen.“ Von „Acid Jazz“ allerdings – der Begriff entstand in den späten 8oern als gaghafte Anlehnung an die schrägen Sounds des Acid House mag selbst Tim Renner nicht mehr reden, der bei motor music mit Galliano und Incognito Erfolge verbucht: „Wenn schon, dann wäre Dancefloor Jazz eigentlich passender. Immerhin, unsere Vertriebsleute haben inzwischen keine Schweißperlen mehr auf der Stirn, wenn irgendwo JAZZ draufsteht.“

Für den Dancefloor ist nur eines „mörderwichtig“ (Renner): der GROOVE. Und deshalb segeln unter der iC Acid Jazz-Flagge Funk und Soul ebenso wie Latin oder Reggae-Kompatibles. Nicht Charlie Parker oder John Coltrane ist hier der Übervater, sondern James Brown, der Mann mit dem meistgesampelten Kiekser. Bei Club-Nights mit „Jazzhop“ und „Ambient-Abstract-Jazz“ geht es höchstens „jazzy“ zu: „Solche komplexen Sachen wie M-Base kennt der normale DJ gar nicht“, meint Szenepapst Michael Reinboth, der seine Into Somethin‘-Nächte neuerdings mit dem „Future Sound Of Jazz“ aufrüstet – angenehm skurrile Dance-Muzak mit Zutaten von housebackenem Jazz und reichlich „up to date elektro-akustischen Sounds“. Sowas gilt derzeit als Avantgarde der Clubszene: „Yellow Dance Music“ ist „Hybrid-System-Musik“, nämlich „die Verquickung von Analogue-Music mit digitaler Steuerung und abstrakten Ideen“. Kein Wunder, daß sich Jazzmusiker da trotz des Kultes um Begriffe wie „freestyle“ (steht für meist unbeholfen-experimentelle Improvisation) lieber fernhalten…

Ausgerechnet in „Body & Soul“, dem vierteljährlichen Jazz-Magazin von motor music, zu dem auch das Talkin‘ Loud-Label zählt, durfte Detlev Diederichsen den Acid Jazz gründlich niedermachen: „drittklassige Musiker versuchen zweitklassigen 7oer-R&B nachzuspielen“. Lustvolle Übertreibung, aber daß Essig-Jazz-Jünger schon den Sound eines Rhodes-Pianos für Jazz halten, ist nicht auszuschließen.

Jazzflavoured“ per Bebop-Kürzel, Miles-Trompetensound oder Hammond-Riff, das ist hip – und ein Schritt in Richtung endgültige Verharmlosung ä la „Jazz Lite“, so daß sich Diederichsen sarkastisch auf die erste ‚Happy Miles‘-CD freuen kann. Letzterer hat ja auf seiner allerletzten namens ‚Doo Bop‘ Nähe zu HipHop und Rap bewiesen. Spannender endeten Experimente von deutschen Freejazzern (Brötzmann und Kowald bei Expo’s Jazz & Joy) oder Musikern aus dem Umfeld der New Yorker M-Base wie Gary Thomas (‚The Cold Kage‘) oder Steve Coteman (‚Black Science‘): mit asymmetrischen Stolperrhythmen, die laut Michael Reinboth dem Dancefloor kaum zuzumuten sind. Er glaubt auch nicht an den gern beschworenen „Abfärbeeffekt“ (Tim Renner: „Lieber verkaufe ich Tomaten als Birnen, wenn ich so die Angst vor Tomaten abbauen kann.“), daß nämlich Tanzwütige per Acid zum Jazz hingeführt werden.

Und wenn doch, dann zum Soul Jazz der Sixties. Der fand vor allem auf dem EMI-Label Blue Note statt, weshalb in sogenannten „Rare Groove Series“ nun Leute wie der Gitarrist Grant Green, Trompeter Donald Byrd und diverse Hammond-Ausgrabungen ein zweites Mal erfolgreich vermarktet werden. Auf solche „Funky-Grooves“ folgte in den späten 6oem der Jazz Rock/Rock Jazz. Es gab Bands mit Bläsersatz (Blood Sweat & Tears, Chicago), die nach vielversprechenden Anfängen stagnierten. Es gab die Keyboarder (Chick Coreas „Return To Forever“ und Herbie Hancocks „Headhunters“), die Gitarristen (Larry Coryell und McLaughlins Mahavishnu Orchestra), Billy Cobham, Colosseum (unlängst erfolgreich auf Tour), Weather Report und Miles Davis, der 1970 mit dem Doppelalbum ‚Bitches Brew‘ Zeichen setzte. Die Entwicklung ging in den 7oern mehr und mehr in Richtung Funk (Lee Ritenour, David Sanborn) mit Tendenz zum Studiomusiker-Geplätscher. Apropos Geplätscher: Ab Mitte der 80er blühte neben dem Brit-Funk (Level 42) auch der Pop & Cocktail-Jazz a la Sade, Matt Bianco. Der Rock Jazz ist auch heutzutage noch durchaus zeitgemäß vertreten: Mit seiner Band Tribal Tech setzt Gitarrist Scott Henderson der virtuosen Studio-Muzak, mit der Kenny G und Konsorten Amerikas Jazzcharts blockieren, gewitzte Power entgegen.

Die Deutschen stehen auf Pat Metheny. Dessen ‚We Live Here‘ erreichte im Februar Platz eins der erst 1994 anläßlich der POPKOMM, ins Leben gerufenen BRD-Jazzcharts (konkurrenzbedingt gibt es gleich zwei, hinter denen die Branchenblätter „Musikwoche“ und „Musikmarkt“ stehen). Diese Charts gelten als wichtiges Instrument, um den CD-Abteilungen Präsentationsfläche für Miles & Metheny abzutrotzen – wie auch eine weitere Initiative des „Arbeitskreises Jazz“: der „Jazz Award“. Den gibt es ebenfalls seit August 1994 für Veröffentlichungen, die mindestens 10.000 Mal verkauft wurden. Eine bescheidene Hürde, wenn man bedenkt, daß ein Herr Westernhagen gerade fünf Tage für die ersten 700.000 ‚Affentheater‘ brauchte? Durchaus nicht, weil der Jazz nur etwa 1,5 Prozent des deutschen Marktes ausmacht (die Franzosen bringen es auf fast acht Prozent, die Amerikaner immerhin auf gut drei!). Man sollte also schon Joe Henderson oder Aziza Mustafa Zadeh heißen, um sicher prämiert zu werden. Oder mit einer ‚Mojo Club‘-Compilation voll im Trend liegen…

Die Jazzcharts sind da schon vielfältiger: Unter den Top Ten findet sich deutscher HipHop-Crossover von Tab Two neben den ‚Lost Recordings‘ von Glen Miller und Jan Garbareks Mittelalter-Mystik ‚Officium‘. Dauerrenner sind Joshua Redman, der Oud-Spieler Rabih Abou-Khalil sowie – seit der ersten Runde dabei – Cassandra Wilson und Keith Jarrett. Dessen ‚Köln Concert‘ gilt als erfolgreichste Jazzplatte aller Zeiten (knapp 2,5 Millionen). Da können selbst Dave Brubeck (‚Take Five‘) und Cannonball Adderley (‚Mercy, Mercy‘) nicht mithalten.

Von den 1.500 bis 2.000 Fachhändlern in Deutschland haben weniger als Hundert eine ernstzunehmende Jazz-Abteilung. Kompetent geführte Fanparadiese wie Jazz beim Beck“ in München (Manfred Scheffner: „Uns geht’s gut, weil das ja kaum einer mehr macht.“) sind im Schwinden. Auf der anderen Seite boomen zahllose Festivals, über Hundert allein in Deutschland. Im Sommer zieht regelmäßig ein ganzer Troß von namhaften Amerikanern durch Europa, von Den Haag über Pori in Finnland, und München oder Stuttgart bis zu den mehr als 100.000 Zuhörern von Montreux. Wichtiger als solch konzentrierte Abfütterung mit großen Namen ist aber, daß neue Jazzclubs wie der im Münchner Hotel „Bayerischer Hof“ kontinuierlich ein interessantes Programm bieten. Und damit Publikum anziehen – wenn die Tageszeitungen mitspielen. Fachpresse gibt’s für jeden Geschmack: seit jeher hausbacken der Veteran JAZZ PODIUM; allen Stilen, wie auch der Industrie gegenüber enorm aufgeschlossen das zweimonatliche JAZZ THING; in JAZZTHETIK werden seit 1987 selbst die Greco oder Edgar Varese zum Thema, wobei man den Vorwurf, „zu intellektuell“ zu sein, eher als Komplimentversteht.

Schlimm sieht’s für Jazz auf dem Bildschirm aus. Zwar kriegt man in Werbespots häufig ein Sax oder einen Trompeter zu sehen, Programmplätze mit verläßlicher Regelmäßigkeit aber gibt es derzeit nur zwei: Live-Aufzeichnungen donnerstags ab elf (vormittags!) auf 3sat und am Wochenende ab 21.30 Uhr das auf eine halbe Stunde geschrumpfte Magazin „Talkin‘ Jazz“ des NBC SUPER CHANNEL. Und der Rundfunk? Von „versautem Radio, so sauer wie der Wald“ spricht Michael Naura, der keine inhaltlichen Zugeständnisse machen mag: „Prime time kommt für Jazz offenbar nicht mehr in Frage.“ Selbst ein Spartensender wie die „Jazz Welle“ spielt Harmlos-Eingängiges, wenn breites Publikum zu erwarten ist.

Kein Wunder, daß sich die Plattenindustrie schwertut, die Grenzen des 1,5-Prozent Ghettos zu sprengen. Selbst international bedeutsame deutsche Jazzlabel wie ECM Qarrett, Garbarek), ENJA (Ray Anderson, Abdullah Ibrahim) oder JMT (Gary Thomas, Gabrielle Goodman) können auf sich gestellt kaum wirksames Marketing betreiben. Bei den auf Masse fixierten Major-Companies hingegen fristet der Jazz oft ein Nischendasein. Daraus hat man bei der Polydor in Hamburg Konsequenzen gezogen und 1994 mit motor music eine eigene Firma für vielversprechende Minderheitenprogramme gegründet. Seit den Anfängen als „Progressive Music“ anno 1989 geben jährliche Umsatzsteigerungen von über 50 Prozent den Verantwortlichen recht. Gute Aussichten für das hauseigene Jazzlabel Verve, für motor-Dancejazz sowie den Vertrieb von ECM und JMT, meint Tim Renner: „Wir erleben im Moment im Musikbereich fast

überall den Zusammenbruch des Mainstream, an den sich zu halten jahrzehntelang erste Grundregel war.“

Einen Mainstream gibt es auch innerhalb des Jazz. Hier steht der Begriff für das Umfeld von Swing und Bebop – nicht nur für das Hundertste Reihum-Sologedudel über die Akkorde von ‚Autumn Leaves‘, sondern auch für modernes Traditionsbewußtsein ä la Wynton Marsalis. Neo-Bop lautete denn auch das pauschalierende Etikett für all die „Young Lions“ der 90er von Roy Hargrove bis zu Joshua Redman und Benny Green, die wie schon die Marsalis-Brüder Branford und Wynton in den 8oern ein „role-model“ für angehende Jazzmusiker lieferten: jung, virtuos, eher konservativ und ERFOLGREICH. Daß wichtige Entwicklungen meist anderswo stattfanden, spricht nicht von vornherein gegen einen Vincent Herring oder Terence Blanchard. Wer aber hören will, was den Jazz der 90er spannend macht, der sollte abseits von Mainstream und Tanzbarkeitspflicht auf die Pirsch gehen: bei den Bläsern und Arrangeuren Henry Threadgill und Julius Hemphill, den Pianisten Gonzalo Rubalcaba und Django Bates, den Schlagzeugern Bobby Previte und Bob Moses, den Gitarristen Bill Frisell und Brandon Ross oder nicht zu vergessen – bei deutschen Neulandforschern von Format wie Michael Riessler und Heiner Goebbels.

DIE BESTEN JAZZLÄDEN

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MIT 10 CDS DURCH DIE WELT DES JAZZ PLATTENTIPS VON KLAUS VON SECKENDORFF

KEITH JARRETT: Bremen/Lausanne (besser als das Köln Concert) CASSANDRA WILSON: Blue Light ‚til Dawn (archaische Jazz-Blues-Avantgarde) MAHAVISHNU ORCHESTRA: My Goal’s Beyond (der gute alte Rockjazz) SCOTT HENDERSONTRIBAL TECH: Face First (der gute neue Rockjazz) JOHN COLTRANE: Giant Steps (damals aufregendster Saxophonist) JAMES CARTER QUARTET: lurassic Classics (derzeit aufregendster Saxophonisl BILL FRISELL: This Land (durch und durch amerikanisch) MICHAEL RIESSLER: Momentum Mobile (ziemlich europäisch) ELIANE ELIAS: Plays Jobim (wie’s sonst keiner kann) SHIRLEY HÖRN: A Lazy Afternoon (die schönste Balladenplatte)