Jean Michel Jarre


Gemeinhin geht man in der Rockbranche davon aus, daß ohne Live-Act keine Karriere und keine Plattenverkäufe zu machen sind. In den USA, wo Musik am professionellsten gehandhabt wird, ist es nichts Außergewöhnliches, wenn eine Top-Band 200 Tage im Jahr tourt. Und doch erleben wir etwa seit zwei Jahren, daß diese Regel in großem Stil durchbrochen wird. Musiker wie Alan Parsons, Jean Michel Jarre oder Michael Rother präsentieren ihre Musik nur auf Platten. Gleichwohl verkaufen sie hunderttausend oder sogar über eine Million LP's. Mit ihnen beginnt ein neuer Abschnitt in der Geschichte des Massenmediums Schallplatte, und keiner von diesen Rock-Interpreten räsonniert über den neuen Eigenwert der Platte so bewußt und auch so leidenschaftlich wie der Franzose Jean Michel Jarre.

Daß der Synthesizer-Spieler etwas vom Schallplatlenmachen versteh!, bezeugt der kometenhafte Erfolg seines Debutalbums ,,Oxygene“ aus dem Jahr 1976. Bis Ende 1978 wurden davon über fünf Millionen Exemplare verkauft. Es stieß in den LP-Listen zahlreicher Länder an die erste Stelle vor und wurde 25mal vergoldet. Im Okiober 1978 folgte ein zweites Album: ,,Equinoxe“ – Äquinoktium oder Tagundnachtgleiche. Und abermals ist dem 30jährigen Franzosen großer Erfolg beschieden. ,,Equinoxe“ rollte Ende ’78/Anfang ’79 überall steil die Album-Charts hoch.

Zu den äquinoktialen Klängen dreht sich die Erde, ziehen Sonnen und Planeten ihre Bahn, quirlen Spiralnebel und stieben Sternschnuppen durch den tiefschwarzen Nachthimmel. So wollte es zumindest die Plattenfirma: Jean Michel Jarre kam für einen halben Tag nach Deutschland, um im Planetarium des Deutschen Museums zu München sein neues LP-Werk zu präsentieren.

Jarres vielfarbig und rhythmisch dahinfließenden Klangfolgen paßten zu den zeitgerafften Umdrehungen, die wir aus der Perspektive endloser Nacht innerhalb von vierzig Minuten durchlebten, nicht schlecht. Wieder von der ernüchternden Realität eines farblosen Hotelzimmers eingefangen, stellte ich eine Frage, die Jean Michel Jarres Grundanschauungen und sein Selbstverständnis mehr offenbarte als alle anderen: ,,Deine Hörer können deine Musik nur durch die Vermittlung der Platte empfangen, nie direkt im Konzert. Vermißt du denn nicht den unmittelbaren Kontakt zum Publikum?“

,,Dazu muß ich eine Menge sagen. Zuallererst, ich habe neun Monate an ‚Equinoxe‘ gearbeitet. Dazu kommen die Entwicklung neuer Instrumente und Interviews und Public Relations-Arbeit rund um die Welt. Das Showbusiness hat einen verrückten Rhythmus hervorgebracht, der darüber bestimmt, was man tut oder läßt. Weiter, und das ist viel wesentlicher, bin ich mehr und mehr davon überzeugt, daß man die Schallplatte als ein originäres Ausdrucksmittel begreifen muß. Man fragt doch George Lucas auch nicht, warum er den ‚Krieg der Sterne‘ nicht auf die Bühne bringt. Weil sich mittlerweile jeder daran gewöhnt hat, den Film als ein Ausdrucksmittel eigener Art anzusehen. Das war ja nicht immer so. Denn ich erinnere mich da an ein Interview mit dem deutschen Regisseur Fritz Lang. ‚Bedauern Sie es nicht, daß Sie die Handlung und den Schauspieler jeweils nur einen Augenblick lang erfassen, nämlich solange Sie die Kamera draufhalten, und daß dann die Handlung sofort abreißt und der Schauspieler sofort zu agieren aufhört?‘ Mit der Platte verhält es sich entsprechend. Bis heute sieht man in der Platte noch vornehmlich ein Andenken an einen Interpreten, eine Konserve einer für die Aufführung konzipierten Musik, eine Momentaufnahme eines Künstlers oder seines Klangbildes. Egal ob Karajan, Rolling Stones oder Louis Armstrong. Doch von nun an beginnt die Schallplatte ein Eigenleben als neues, eigenständiges Medium. So wie der Film, das Fernsehen und die Audiovision eigenständige Medien darstellen. ‚Oxygene‘ und „Equinoxe‘ waren von Anfang an als Platten gedacht und als nichts anderes. Ich habe mich nie gefragt, wie ich das auch auf der Bühne realisieren kann, was es da für Schwierigkeilen geben könnte und dergleichen. Nein, ich habe beide Sachen von solchen herkömmlichen Betrachtungen losgelöst.“ Dennoch ist noch für dieses Jahr eine Aufführung von ,,Oxygene“ in der Pariser Oper vorgesehen. Wie soll man das nun verstellen? ,,Das wird mit der LP nicht viel zu tun haben. Ich werde es neu schreiben. Auf keinen Fall handelt es sich um eine Reproduktion des Albums.Ich halte nichts von Bands, die versuchen, ihre Platten auf der Bühne zu reproduzieren.“

Unterschiedliche Welten ganz anderer Art und mit viel größeren Abständen zueinander hat Jean Michel Jarre in seiner langen Karriere durchmessen. Daß er sein Debutalbum vor zwei Jahren herausbrachte, heißt nicht, daß er noch ein grüner Junge ist. Der Dreißigjährige weiß, wovon er redet. Und er redet übrigens gern und ausgiebig. Ein bißchen unsortiert und sprunghaft, aber mit Bewußtsein und Engagement. Das Gehirn ist voll angeschaltet. Er denkt beim Reden. Auch wenn ich einige Sätze von unserem letzten Treffen her kannte, ohne dieselben Stichworte geliefert zu haben. Seine Antworten wollen nicht enden, er bemüht sich, alles zu geben, was ihm zum jeweiligen Thema einfällt. Ich muß ihn fast schon unhöflich unterbrechen, um zum nächsten Punkt zu kommen.

Aber zurück zu den Etappen seiner Laufbahn. Jean Michel Jarre wurde am 24. August 1948 in Lyon geboren. Sproß einer musikalischen Familie, hatte er die Musik im Blut und der Frühstart war vorprogrammiert. Sein Vater Maurice, der als Filmmusik-Komponist berühmt wurde (,,Dr. Schiwago“), ließ ihn mit fünf Jahren die ersten Klavierstunden nehmen und ihn neben der Schule am Pariser Konservatorium in Harmonielehre, Kontrapunktik und Komposition unterrichten.

Aber damit war er lange nicht ausgefüllt. Der englische Beat der 60er Jahre schlug ihn in Bann. Er griff zur elektrifizierten Gitarre und brachte sich bei, was er brauchte, um in diversen Pariser Bands mitspielen zu können.Wenn ihm auch die Freude an seinen Studien immer mehr verlorenging, brachte er sie doch zum Abschluß. Er nahm seine Laufbahn als Musiker nach wie vor ernst. Die konventionellen Lehrmethoden hatten ihn jedoch der klassischen Musik entfremdet. Er wandle sich dem anderen Extrem zu und schloß sich den Neuerern der Groupe de Recherches Musicales an. Unter der Leitung von Pierre Schaeffer konnte Jarre mit einem der ersten Synthesizer in Europa arbeiten. Sein Einstieg in die Welt der elektronischen Musik war geschafft.

Aber seine Illusionen machten zunehmender Enttäuschung Platz. Die Gefühlsarmut seiner Kollegen verstörte ihn. Er durchschaute ihre Arbeiten als abstrakte Gebilde und Strukturen, ohne Empfindsamkeit, ohne gefühlsmäßige Aussagen. Jean Michel Jarre kehrte ihnen den Rücken. Als Musiker wollte er vor allem Gefühle vermitteln.

Das war ihm inzwischen klar geworden.

Da er weder in der Tradition noch in der Sterilität selbstgefälliger Experimentatoren Anker werfen konnte, begriff er, daß er nun aus sich selbst heraus Werte und Richtlinien entwickeln und aus eigener Kraft heraus schaffen mußte. Seine Vorstellungen und Zielsetzungen (dingen geradezu altruistisch: „Ich lehne jede Art von Elitarismus ab. Die einzige Aufgabe und Funktion des Künstlern liegt in der Kommunikation“ Oder: „Künstlerisches Schaffen hat für mich nur ein einziges Ziel – andere zu inspirieren. Meine Aufgabe besteht einzig darin, bei den Hörern Vorstellungen und Gefühle zu erzeugen. Wie diese aussehen, bleibt Sache jedes einzelnen.“ Dabei geht er sogar so weil, daß er seinen Stücken absichtlich spröde Titel gibt, um die Assoziationen der Hörer so wenig wie möglich zu beeinflussen: „Oxygene.Part l“, „Part 2“ usw.

Ganz so idealistisch wie das vielleicht klingt, geht Jean Michel Jarre allerdings doch nicht an die Musik heran. Denn wie soll man seine Leitlinien mit Kompositionen in Einklang bringen, die er für TV-Werbespots schreibt? X-beliebige Vorstellungen beim Zuschauer-Hörer-Käufer können dann ja wohl kaum beabsichtigt sein. Die Einnahmen aus derlei Gebrauchsmusik werden ihm allerdings die Finanzierung seines eigenen Studios wesentlich erleichtert haben.

Der Sündenfall passierte Anfang der 70er Jahre. Noch war Jean Michel fünf Jahre von seiner ersten Massenkommunikation in eigener Sache entfernt, als ihm zur Wiedereröffnung der Pariser Oper im Jahre 1971 gestattet wurde, in eben diesem Kulturtempel zum ersten Mal elektronische Musik ertönen zu lassen. Gelobt, kritisiert, in jedem Fall weithin beachtet, hatte er damit Blut geleckt. Um nicht auf den offiziellen Kulturbetrieb beschränkt zu bleiben, stürzte er sich auf die Massenunterhaltung: Soundtracks, Hintergrundmusik für Flughäfen und Warenhäuser, TV-Spots.

Die elektronischen Medien unserer Zeil wirkten auf Jarres Musik-Schaffen zurück. Das akustische Instrument ist dazu bestimmt, den Hörer direkt zu erreichen. Man kann dessen Klänge im Zeitaller des Lautsprechers und Verstärkers mit elektronischer Hilfe transportieren und auch manipulieren, aber Jarre hält es für logischer und kongenialer, für die elektronischen Medien die Musik von vornherein elektronisch zu erzeugen. „Man kann ein Gefühl sowohl mit einer Geige als auch mit einem Synthesizer ausdrücken. Ich wende die Technologie meiner Zeit an. Nicht die Musik selbst ist elektronisch, sondern die Instrumente sind es.“

Auf seinen beiden Alben spielt er alle Instrumente selbst. Als da sind: verschiedene Synthesizer, Orgel, Mellotron, Sequenzer und Rhythmus-Computer. Dieses Arsenal erlaubt es ihm, sinfonisch-orchestrale Musik, klangfüllige Tanzmusik, die ihm gern in den Discotheken abgenommen wird (,,Oxygene Part 4″, „Equinoxe Part 5“), oder impressionistische Programmusik nach Belieben zu machen. Die elektronischen Instrumente ermöglichen es ihm. genauer und treffsicherer als mit herkömmlichen Instrumenten zu arbeiten: „Zum ersten Mal in der Geschichte kann man direkt den Sound verändern. Ich gehe nicht länger vom Geigenklang oder Oboenklang aus, sondern von einer bestimmten Klangvorstellung in meinem Kopf. Deshalb arbeite ich auch ständig an der Weiterentwicklung meines Instrumentariums. Ich entwickle Vorstellungen und hole mir dann die Techniker und Ingenieure, um die Ideen in die Wirklichkeit umsetzen zu lassen.“

Jean Michel Jarre versucht seinen bisherigen Erfolg in neuen Spielraum umzusetzen, indem er sich bemüht, die Möglichkeiten seines gut gerüsteten Studios mehr und mehr seinen phantasievollen Vorstellungen anzugleichen. Aul andere Art steigt ihm der Supererfolg noch nicht zu Kopf. Er ist derselbe freundliche, gescheite und entgegenkommende Mann geblieben, den ich vor fast zwei Jahren schon einmal getroffen hatte.