Joe Cocker: Nie wieder Live?


Joe Cocker ist einer der lebenden Beweise für die These, daß man sehr wohl weiß und aus Europa stammen und trotzdem wie ein alter Südstaaten-Neger klingen kann. Er wurde oft als der weiße Sänger mit dem schwärzesten Feeling gefeiert, und viele hielten ihn schlicht für den besten männlichen Sänger überhaupt. Nachdem man nun aber bis auf ein paar Platten seit zwei Jahren nichts mehr von ihm gehört hat, weiß man ganz und gar nicht mehr, was man davon halten soll.

Den üblichen Interviews ging Joe von jeher meist mit Erfolg aus dem Wege und aus der verschworenen L.A. Clique, in der er verkehrt, ist auch nicht mehr herauszukriegen. Hier und da tauchen Gerüchte auf, die teils aus der Luft gegriffen (Enten vom Management?), teils übertrieben sind. Ab und zu stimmen sie vielleicht auch mal. Die letzte Hiobsbotschaft, die uns erreichte, lautet, daß Joe nicht mehr „live“ auftreten könne und sich künftig mit Plattenaufnahmen zufrieden geben würde – und müßte!

Ein guter Anfang

Sein neuestes Album „Jamaica Say You Will“ macht es einem schwer, daran zu glauben. Es zeigt, kurz gesagt, „Joe At His Best“, auf einem neuen Höhepunkt, mit dem wohl niemand mehr gerechnet hatte. Die einzelnen Songs sind ihm auf den Leib geschneidert. Wenn er es fertig bringt, im Studio aus totem Material ein derart lebendiges Produkt zu zaubern, warum dann nicht auf der Bühne? Notfalls könnte man – anstatt eine ganze Tournee mit ihm durchzuziehen – nur ein paar einzelne Konzerte mit ihm machen. Diese Methode würde außerdem mit Sicherheit allen zugute kommen.

Ausgelaugt und kaputt

Aber es ist wahr, Joe ist ziemlich kaputt. Die Folgen der Mad Dogs and Englishmen-Tour ’69 und dem Amerika/Australien-Trip 1973 sind noch nicht verdaut. Wie sollten sie auch. Jedesmal, wenn Cocker bereit ist, eine Pause einzulegen, sitzt sein Manager schon hinter ihm und hält ihm einen neuen Vertrag unter die Nase, der ihm wieder mal goldene Berge und viel Spaß garantiert.

Was im Endeffekt daraus wird, überlegt sich keiner einschließlich Joe. Ob er gegen Ende einer Tour noch in der Lage ist aufzutreten, rein physisch gesehen, ob er noch die Kraft aufbringt, „nein“ zu sagen, danach fragt niemand. Vom Alkohol ausgehöhlt, von andauernden Tiefschlägen frustriert und von falschen Hoffnungen zermürbt und nervös geworden, könnte eine einjährige Bühnenabstinenz und Urlaub, nichts als Urlaub, wahre Wunder bewirken.

Das Peinlichste an der Sache ist aber, daß sich Cocker inzwischen scheinbar mit allem abgefunden hat. Das einzige, was ihn noch hochhält ist „sleeping, getting in a few drinks and rocking“, wie er es auszudrücken pflegt. Okay Joe, das reicht fürs Wachbleiben, zu einer neuen Tour oder gar einem neuen Start reicht es sicherlich nicht! Vermutlich werden noch ein, zwei Jahre vergehen, bis Cocker seine alte Form wieder erlangt hat, aber das Warten würde sich lohnen.

Jim Price, der neue Mann

Die Mad Dogs-Tage, in denen Joe oft nicht einmal wußte, wie viele Leute gerade mit ihm auf der Bühne standen, und nach deren Abschluß er ganze 862 Dollar in den Händen hielt, sind allerdings endgültig vorbei. Damals „behütet“ von Leon Russel und seinem Manager Denny Cordell hatte es Joe nicht leicht. Heute dagegen sorgt sich hauptsächlich Jim Price um seine (musikalischen) Belange. Jim, der seit den Delaney & Bonnie-Tagen, der Arbeit mit den Rolling Stones und nicht zuletzt dem Mad Dogs-Trip bestens bekannt sein dürfte, gibt sich die Mühe mit ihm, die er braucht und verdient. Ihr erstes gemeinsames Projekt war der „Jamaica“-Vorläufer, die LP „I Can Stand A Little Rain“. Sie wies freilich noch Anfangsschwierigkeiten und sonstige Mängel auf, die aber mittlerweile Gott sei Dank beseitigt sind.

Eine ehrliche Arbeit

Dennoch gab sie in sich ein geschlossenes Bild ab. Sie verdeutlichte Joe’s Zustände in jenen Tagen (1974) mehr als treffend. Seine Tiefschläge und die Depressionen, die ihn kennzeichnen, ziehen sich wie ein roter Faden durch die ganze Platte. Vermutlich gab es niemanden, der Randy Newmans Säuferballade „Guilty“ treffsicherer und wissender interpretierte als Cocker. Das ganze Album strahlt eine derartige Ehrlichkeit und Verzweiflung aus, daß es einem schwerfällt, sie an einem Stück zu hören. Sie gibt einen Blick in Cockers Verhältnisse frei, der einen deprimiert und verlegen macht. „Jamaica“ ist dagegen eine heitere Platte.

Chris Stainton kündigt

Joe Cockers neuerlicher Ruin begann mit dem Ausstieg seines alten Freundes Chris Stainton, der vom ersten Tag an an Joe’s Seite stand. Er hatte die Begleitband angeführt, für sie geschrieben und arrangiert. Aber Joe’s Art und Weise des Musikmachens verdroß ihn mehr und mehr. Das ständige Herumreisen zwischen Europa und Amerika machten ihn fertig. Vielleicht hatte er sich auch überlegt, wie lange es wohl noch dauern würde, bis auch der letzte Funke Leben in Joe erloschen wäre. Nach dem Australien-Abstecher Anfang ’73, wo Cocker wegen einer Rauschgiftsache festgehalten wurde, packte er ernüchtert die Koffer. Er hatte gründlich die Nase voll. Zum Leidwesen aller konnte Chris nie richtig ersetzt werden, und somit blieb auch die restliche Gruppe nicht mehr sehr lange zusammen. Alan Spenner, der Bassist, und Gitarrist Neil Hubbard gründeten Kokomo, eine der Chorsängerinnen begann eine Solokarriere und Drummer Jimmy Karstein, der bereits nach zwei Tourneetagen der Schlagzeugstuhl von Jim Keltner übernahm, widmete sich erneut Studio- und Sessionsjobs.

Joe’s Interesse geht flöten

„Something To Say“ erscheint noch im selben Jahr und enthält mangels neuem Materials nur alte Livemitschnitte der Nach-Mad Dogs-Periode. Damit ist die Krise offenbar perfekt. Fortan traf man Joe nur noch mit kurzfristig zusammengestellten Begleitbands, zu denen weder Joe selbst noch sein Publikum den richtigen Draht besaßen, und deren Mitglieder so populär wie gegensätzlich waren. Einzig die L.A.-Clique von Studiomusikern blieb ihm treu: Jim Price, Bobby Keys, Jim Keltner usw. Zum Teil spielte er auch mit R&B-Legenden wie „Pretty“ Purdie und Chuck Raney zusammen, die für seinen Stil wie geschaffen waren, allerdings immer nur sehr kurze Zeit. Eine feste Band, auf die er jederzeit zurückgreifen konnte, gab es aber nicht mehr. Wodurch Joe mehr und mehr nachlässiger und uninteressierter wurde. Ohne eine eigene Truppe, mit der er jederzeit drauflosjammen konnte, ging ihm natürlich der Enthusiasmus, der ihn immer ausgezeichnet hatte, schnell verloren, und er wurde ein typischer (geschlagener) Solokünstler.

Eine neue Plattform

Ein schwerer Stand für ihn, der weder ein Instrument spielen, noch komponieren und arrangieren kann. Bis zu dem Tage, an dem sich Jim Price seiner annahm, muß sich Joe ziemlich unnütz und deplaziert vorgekommen sein. Als „I Can Stand A Little Rain“ dann nicht besonders überschwengliche Kritiken erntete, stand er einsamer da als je zuvor. Irgendwie scheint er sich danach aber doch noch mal aufgerappelt zu haben. Für diesen Kampfgeist gebührt ihm ein Orden, denn „Jamaica Say You Will“ bildet eine echte Plattform, auf der er mit Leichtigkeit ein weiteres Cocker-Kapitel bauen und seine alten Fans aus den Löchern locken kann.

Er muß sich beeilen

Im Moment aber gilt Joe leider noch als ein vortreffliches Beispiel der alltäglich praktizierten Methode des Verheizens. Solange sein Name noch genügend Kohle garantiert, wird er keine Ruhe vor dem Drängen und Fordern cleverer Business-Haie finden. Joe’s Chance, sich davon zu lösen, wird mit jedem Tag geringer. Das Innenfoto von „Jamaica“ zeigt ihn, wie er heute ausschaut: Ein gefährlich ehrliches Foto eines ziemlich kaputten, abhängigen, aber zufriedenen, singenden Trinkers. Schafft er es, einen neuen Anlauf zu nehmen – egal in welche Richtung und egal wieviel Zeit es in Anspruch nimmt – ist er wahrscheinlich über den Berg.