Joe Strummer: Hamburg, Markthalle


DIE 47 JAHRE SIEHT MAN IHM NUN WIRKLICH nicht an. John Mellors alias Joe Strummer ist immer noch der stilvolle Rebell: mit nach hinten gegeltem Haar, plakativem T-Shirt (Motto: Get Red), Anzughose und schwarzen Lackschuhen steht er auf der Bühne der proppevollen Markthalle, blickt ins Publikum und grinst zufrieden. Seit 14 Jahren warder ex-Clash-Leader nicht mehr in Deutschland, doch seine Fans haben ihn nicht vergessen. Mehr noch: Durch den gegenwärtigen Revival-Boom hat Strummer ein ganz neues Publikum gewonnen – Kids zwischen 14 und 16, die sonst auf Green Day, Bad Religion oder Offspring stehen. Sie kommen aus Neugierde – und gehen mit offenen Mündern. Denn nach langer Sinnkrise, die sich in diversen Soundtracks sowie Gastspielen bei The Pogues und The Grid äußerte, gibt Strummer den Kampf gegen die Vergangenheit auf- und bleibt seinen Prinzipien trotzdem treu. Eine Clash-Reunion kommt für den mehrfachen Familienvater zwar nicht in Frage, wohl aber eine Solo-Tour, auf der er sich verstärkt den Endsiebzigern widmet. So liegt der Clash-Anteil an diesem Abend bei rund 75 Prozent und umfaßt nahezu alle Klassiker: „London Calling“.“White Man In Hammersmith Palais“, „Rock The Casbah“, „Straight To Hell“, „I Fought The Law“, und, und, und Strummers Band, die Mescaleros, bestehend aus Mitgliedern der Britpopper Marion und Dove, intoniert die Evergreens mit offenkundiger Begeisterung. Ergebnis: eine Zeitreise, die nicht nur die komplett anwesende Tote Hosen-Crew schier zu Tränen rührt, sondern auch Strummer selbst. Der ist sichtlich perplex über das euphorische Feedback und zeigt gesunden Humor, wenn es um die Präsentation jener Stücke geht, die im September unter dem Titel „Art Rock & The X-ray Style“ erscheinen: „Hey, ich spiele jetzt was Neues – also holt euch ein Bier oder geht aufs Klo!“ Dabei täte man dem Repertoire damit unrecht. „Silent City“ etwa ist eine Reflexion über das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, „Yalla Yalla“ ein grooviger Reggae, der Rest druckvoller Punk/Rockabilly in bester Strummer-Manier. Als vehement geforderte Zugabe gibt’s dann eine weitere, noch rup-pigere Version von „London Calling“. „Sorry, aber das ist erst unser sechstes Konzert“, stammelt Strummer verlegen. „Mehr Material haben wir nicht…“ Spricht’s und wischt sich den Schweiß von der hohen Stirn. Nach all den Jahren der inneren Unruhe tut so viel Applaus gleich doppelt gut.