Karma Karawane


Vom Scheich zum Maharadscha — die Dissidenten als High-Society-Globe- trotter. Das ist uns fast schon peinlich."

Den Computer trägt Uve Müllrieh jetzt immer im Koffer mit sich. „Den haben mir meine Bandkollegen zu Weihnachten geschenkt, damit ich unterwegs bei jeder Gelegenheil schreiben kann.“ Müllrich verkörpert die Presse- und Informations-Abteilung der Dissidenten. Und oft auch noch das Auswärtige Amt. Denn das Trio praktiziert eine sinnvolle Arbeitsteilung: Drummer Marion Klein, ein ausgebildeter Tonmeister, kümmert sich darum, daß im Studio alles so läuft, wie es soll. Flötist Friedo Josch setzt seine organisatorischen Talente zum Wohle des gemeinsamen Labels und Musikverlags ein. Und Müllrich. Bassist und Gitarrist, pflegt Außenkontakte, schreibt die Bulletins des Unternehmens und gestaltet das Artwork der Platten. Aus Indien hat der braungebrannte Weltreisende gerade unzählige Dias und ein Video mit Impressionen von der Produktion des aktuellen Dissidenten-Albums „The Jungle Book“ mitgebracht.

Heute hier, morgen dort: Vor dreieinhalb Jahren betätigten sich die deutschen Ethno-Rock-Pioniere für ME/Sounds noch als Städteführer durch Madrid, wo sie damals ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatten. Vorher lebten sie in Marokko, danach in Berlin. Und jetzt melden sie sich wieder aus Indien.

Dabei hatten sie sich das alles ganz anders vorgestellt. „Eigentlich wollten wir zum Kolumbusjahr 1992 in Amerika ein Projekt mit indianischen Musikern verwirklichen“, erzählt Müllrich. „Aber jetzt sind wirfroh, daß das nicht geklappt hat, nachdem wir gesehen haben, was alles im vergangenen Jahr zu diesem Thema auf den Markt kam.“

Ein Brief ihres alten Freundes, des Maharadschas Bhalkrishna Bharti aus Gondogaon im südindischen Bundesstaat Madhya Pradesh, erreichte die Dissidenten im Aufnahmestudio der „Six Nations Indian Reserve“ in der Nähe von Toronto. Bhalkrishna Bharti bat um Hilfe. Die Dissidenten sollten nach Indien kommen, um die Bürgerrechtsbewegung gegen ein aberwitziges Staudamm-Projekt zu unterstützen. „Wir haben ihm viel zu verdanken. Also unterbrachen wir unsere Arbeit und flogen nach Indien. Danach nahmen die Dinge ihren Lauf: Wir waren, wie schon vor zwölf Jahren, Gäste des Maharadschas und blieben da, bis die neue Platte fertig war. „

Auf dem Album schaffen die Dissidenten nicht nur den Spagat zwischen westlicher Rockmusik und indischen Tönen — sie schufen auch ein Konzeptalbum, das den ökologischen Konflikt in Indien aufgreift.

„Zwischen den Songs stehen Hörbilder, die als roten Faden die Bedeutung des Wassers haben. Damit möchten wir auf dieses ökologisch kriminelle Projekt hinweisen, das eine Mafia von indischen Politikern in Komplizenschaft mit der Weltbank durchsetzen will. „

Der den Hindus heilige Fluß Narmada soll mit einem riesigen Damm gestaut werden; der Stausee würde unersetzliche Urwälder für immer vernichten. Mehr als 100.000 Ureinwohnern droht die Zwangsumsiedlung. „Der Maharadscha ist zwar ein waschechter Vertreter des allen Feudaladels, aber auch ein fortschrittlicher Mensch. Und deshalb engagiert er sich in der Bürgerbewegung gegen den Narmada-Staudamm. Dabei benötigte er unseren Beistand.“

Und den bekommt er. Das Dschungelbuch der Dissidenten wird auch in Indien veröffentlicht; im Rahmen der für dieses Jahr geplanten Tournee finden Konzerte auf dem Subkontinent stau. Einen Teil ihrer Einkünfte stellt die Gruppe dem Informationsfond der indischen Anti-Narmada-Bewegung zur Verfügung. Dazu Müllrich mit leicht ironischem Unterton:

„Nun mag sich der Beobachter zu Recht fragen, warum denn ein Staudamm in Indien Sache der Berliner Dissidenten sei. Hat man denn in Germanien keine eigenen Probleme mehr?“

Nun muß man wissen, daß die Dissidenten allen Grund haben, dem Maharadscha von Gondagaon einen Gefallen zu tun. Bereits 1980 lernten sie ihn kennen.“.Wir hatten es uns ganz lustig vorbestellt, “ erinnert sich Müllrieh, „mal mit der Eisenbahn dritter Klasse durchs Land zufahren. Irgendwann hielten wir es aber in den vollgepferchten Abteilen nicht mehr aus, in denen hei Kurven der Inhalt der Toilette von einem Ende zum anderen schwappte, zwischen meckernden Ziegen und anderem Kleinvieh.

Also stiegen wir in Gondagaon am Ufer des Narmada aus, wo man uns zum Tempelpalast des Maharadschas führte. Denn warum sonst sollten Musiker aus Deutschland wohl ausgerechnet in diese Gegend kommen, wenn nicht, um den Maharadscha zu sehen?“

Bhalkrishna Bharti hieß die unangemeldeten Reisenden willkommen, und es war der Beginn einer langen Freundschaft. So entstand in Gondagaon unter Mitwirkung des Karnataka College Of Percussion „Germanistan“, das erste Album der Dissidenten. „Aufmerksamen Beobachtern des germanischen Undergrounds wird das Ambiente von Gondagaon noch aus dem ’79er ZDF-Film , Vugabundenkarawane‘ mit Embryo vertraut sein“, meint Müllrich. „Im Palast wurde übrigens auch meine Tochter geboren. Am Jungle Book‘ wirkten jetzt viele alte indische Freunde von damals mit, allen voran die magischen Trommler des Karnataka College und die charismatische Sängerin Ramamani aus Bangalore.“

Aber auch einige ehemalige Weggefährten aus dem Umfeld von ¿

Embryo, in den 70er Jahren Müllrichs Gruppe, luden die Dissidenten ins Studio, wie zum Beispiel den Gitarristen Roman Bunka oder den Saxophonisten Chuck Henderson. So entstand zwischen Berlin und Bombay, Bielefeld und Bangalore das neben „Sahara Elektrik“ (1984) bisher beste Album des Trios.

Dabei gestaltete sich die Produktion zum Schluß noch recht turbulent, weil sich, so Müllrich. „auf der Straße fanatisierte Hindus und Moslems gegenseitig die Birnen plattschlugen, im Namen Gottes, des Allmächtigen und Barmherzigen. “ Nach der Zerstörung eines moslemischen Tempels in der Stadt Ayodhya flackerten überall in Indien Unruhen auf, und die Dissidenten fragten sich bereits, „ob nicht irgendein geheimnisvoller Virus unseren Fußstapfen folgt“.

Denn seit den Tagen von Embryo gerieten die Musiker immer mal wieder in brenzlige Situationen der Weltgeschichte. „Polterte schon die Rote Armee ins Studio in Kabul, bei Aufnahmen mit dem Nationalorchester von Afghanistan, erschien während eines Konzerts in der Uni von Teheran der Avatollah höchstpersönlich im revolutionären Iran, brach während der Produktion unseres ersten deutsch‘ deutschen Videos in Babelsberg/ DDR der ,Real Existierende Sozialismus‘ in sich zusammen, so waren wir diesmal bei Tee und Reis in unserem Studio in Bombay arrestiert.“

Die beiden Studioassistenten, der eine Hindu, der andere Moslem, schlugen vor, ein Tuch mit dem Slogan „Truth ls The Only Religion“ vors Fenster zu hängen. „Sekunden später waren die Fenster eingeworfen, was uns erlaubte, die weiteren tropischen Wintertage mit Ausgangssperre bei 35 Grad im Schatten ohne die Segnung einer Klimaanlage zu verbringen.“

Nach acht Tagen normalisierte sich die Lage endlich ein wenig, Friedo Josch und Marion Klein konnten Mitte Dezember mit den Bändern das Weite suchen, um in Deutschland die Veröffentlichung der Platte vorzubereiten.

Müllrich blieb zunächst zurück in Bombay, um mit den Dreharbeiten zum Video für den Titelsong zu beginnen. „Regisseur ist Pankuj Parashar, das Enfant Terrible des indischen Cinemas. MTV Asia bangte mit uns, daß uns die Unruhen nicht einen Strich durch die Rechnung zogen.“

Zur indischen Filmindustrie, der größten Traumfabrik der Welt, haben die Dissidenten recht gute Beziehungen. „Wir wurden schon 1981 engagiert, um Filmmusik zu spielen — für 500 Dollar am Tag. Für indische Verhältnisse ist das ein fürstlicher Lohn; dafür arbeitet ein Angestellter ein ganzes Jahr lang.“ Aber auch das muß man sich mal vor Augen halten: Zehn Prozent der indischen Bevölkerung haben Geld, manche sogar viel Geld. Und zehn Prozent von 800 Millionen sind immer noch 80 Millionen. Der indische Markt ist schon deshalb für die Dissidenten nicht unwichtig.

Und was ist mit den früheren Stationen ihrer Karriere‘? Wird es ME.‘ Sounds-Mitarbeiter Paul Schwankner nie wieder vergönnt sein, mit den drei Globetrottern das Nachtleben von Madrid zu genießen? Und was ist eigentlich mit der New Yorker Connection, wo die Dissidenten im Sommer 1988 zum Auftakt des „New Musie Seminars“ spielten und umgehend einen weltweiten Vertrag mit Seymour Steins Sire-Label unterzeichneten? David Byrne und Brian Eno waren damals so begeistert von der Band, daß sie Stein drängten, er müsse die Dissidenten anheuern. 1990 erschien das Album „Out Of This World“ denn auch tatsächlich auf Sire — und floppte.

„Wir hatten Pech“, meint Müllrich.“.Stein lag im Clinch mit Warner Brothers und hatte ein Jahr lang nur noch seine Rechtsanwälte im Sinn. Unsere Platte hat darunter gelitten.“

Obwohl „The Jungle Book“ jetzt in einigen Ländern noch auf Sire erscheint, kümmern sich die Dissidenten lieber wieder selbst um alles.., Alles selbst zu machen ist mm mal viel intensiver und befriedigender als ein kleines Rädchen in einem großen Konzern zu sein. Mag sein, daß wir dadurch ein paar tausend Platten weniger verkaufen, und dieses A Ibum ist ja sowieso ein wenig schwieriger als etwa .Sahara Elektrik‘. Aber darauf kommt es uns nicht an. Damals in Spanien kamen 25O.(XK) Leute zu unserer dreiwöchigen Tournee — diesen Trubel kennen wir. Doch ehrlich zu Tränen gerührt hat mich ein Konzert in Helsinki mit nur 25 Besuchern. Denn die waren dafür umso enthusiastischer. „

Und was ist mit Marokko, wo im Anschluß an eine Nordafrika-Tour im Sultanspalast von Tanger das zweite Album „Sahara Elektrik“ entstand? In Tanger lernten sie 1983 den amerikanischen Schriftsteller und Komponisten Paul Bowles kennen, der sie wiederum mit Sheikh Abdul AI Rashid, der Grauen Eminenz der arabischen Musikszene, bekannt machte.

„Vom Maharadscha zum Scheich — das ist schon fast peinlich, die Dissidenten als High-Society-Globetrotter, so wie bei Margret Dunsers .Prominentenschaukel‘. Aber das hat sich nun mal alles so ergeben.“

Ihr Karma sorgte auch dafür, daß aus dem Indianerprojekt der Dissidenten ein Indien-Abenteuer wurde. Die Vorsehung wird das Forschungsteam aus Deutschland sicher noch in manch anderen exotischen Winkel des Globus führen. Denn das Reisen übt nach wie vor eine besondere Faszination für die „Godfathers Of World Beat“ aus, wie sie der „Rolling Stone“ nannte. Und so bekennt auch Uve Müllrich ohne Zögern:“.Ich reise gern! Die Begegnung mit anderen Kulturen hält dir einfach den Kopf offen.“