Popkolumne, Folge 23

Kollegah wird verrückt, Eidinger macht Kunst & Bono nervt – die Popwoche im Überblick


In dieser Popkolumne präsentiert Linus Volkmann im Wechsel mit Julia Lorenz die High- und Lowlights der Woche. Welche Künstler, welche Platten, welche Filme lohnen sich (nicht) – und was war sonst noch so los? Hier die neue Folge zur KW 26. Sie klärt, warum Bela B. der Dieter Hallervorden der Herzen ist und Kollegah den Verstand verloren hat, dazu gibt's Musik von Die Kerzen und einen hysterischen Rant gegen U2 und THE JOSHUA TREE.

LOGBUCH: KALENDERWOCHE 26/2019

Wenn jemand gleichzeitig Theaterbühne, DJ-Kanzel und Social Media nur mit seiner bloßen Präsenz zum Vibrieren bringt, bleibt man schon reflexartig mal stehen, um zu schauen, was da eigentlich los ist. Und wen sieht man dann? Ganz klar: Lars Eidinger.

Der kostet das Thema Überforderung (von sich selbst und dem Publikum) aktuell dermaßen aus, als hätte er einen Multiball beim Flippern. 5 Kugeln gleichzeitig! Seine erste Einzelausstellung wurde eröffnet, letztes Wochenende. Eidinger nun auch bildender Künstler? Why not!

Mehrere Videoinstallationen und etwas mehr als zwei Dutzend Fotos. Im Neuen Kunstverein kommt das Gefühl auf, einen dreidimensionalen Instagram-Account zu besichtigen. Kunst nah am alltäglichen Erleben.

Eidinger reist allein, kein Management, keine Helfer, keine Entourage. Eine One-Man-Army, immer auf Kurs, immer am Senden, Wahnsinn. Nachts zuvor legt er im Kölner Absturzladen Roxy auf, „After Hour, vor der Hour, drei Tage wach“. Jetzt ist er schon wieder woanders, im verschlafenen Aachen eben – und mit ihm eine absurde Zahl an Besuchern, Schaulustigen. Die Schlange geht paarmal durch den Park, wer aufgegeben hat oder es sich noch ansehen möchte: Die Ausstellung „Autistic Disco“ läuft noch bis zum 11. August.

Später lege ich bei seiner Eröffnung auf, spiele einfach meine Lieblingslieder: Epoxies, Lady Gaga, Gang Of Four, O-Zone und so weiter. Als dann Eidinger, mittlerweile mit seinen Trademark Aufklebern im Gesicht, übernimmt, bin ich erstaunt über seine DJ-Skills. Dachte original, der kann gar nichts. Stimmt aber nicht.

Die Disco läuft dabei in einer Location, die etwas von Schulball besitzt. Ich glaube gesehen zu haben, dass Rektor Skinner auch einmal getanzt hat. Trinke Wodka Cola aus einem Plastikbecher, werde später meine Alice-Cooper-CD („Poison“) in der Anlage vergessen und habe kurz den enormen Fahrtwind des Phänomens Lars Eidinger gespürt. Gleichermaßen geil wie gruselig.

EREIGNIS DER WOCHE: Mit dem Schlauchboot übers Southside

Abenteuer Festival-Saison – oder wie heißt es, wenn man sich in den Arsch beißt, wenn bei unzähligen Open Airs mal wieder kaum Frauen im Line-up auftauchen? Nun, unabhängig davon beschäftigte mich aktuell ein ganz anderes Festival-Video: Es zeigt den Viva-Con-Agua-Gründer Michael Fritz, wie er während des Auftritts von OK Kid mit dem Schlauchboot über das Publikum des Southside-Festivals getragen wird. Oida, wow!

https://www.instagram.com/p/By-stOplvX3/

Mehrmals geguckt und dann beschlossen, den muss man doch mal fragen, wie das so ist.

Hast du noch Angst bei einem solchem Stunt?

MICHA FRITZ: Nun, das war wahrscheinlich meine 30 bis 40. Schlauchboot-Fahrt in den letzten zwölf Jahren, seit wir auf den Musikfestivals Pfandbecher sammeln für unsere Wasser- und Sanitärprojekte auf dem afrikanischen oder asiatischen Kontinent. Adrenalin ist trotzdem immer dabei.

Kannst du beschreiben, was du fühlst bei so einem Ride?

Je nach Band schon sehr unterschiedlich, da vor allem der Song sehr entscheidend ist. Manche Bands, die mich sehr sehr mögen haben ihren absoluten Hit genommen beziehungsweise den, der am meisten abgeht. Marteria lässt die Schlauchboot-Fahrt immer zu „Die letzten 20 Sekunden“ machen, meistens schaffst du bei so einem Song aber nicht aber mal soviel Sekunden oben zu bleiben.

Wie viel Becher kamen aktuell zusammen?

Bei dieser Fahrt circa 140. Das ist ja aber vor allem ein Aktivierungs- und Kommunikations-Tool, damit die Leute Bescheid wissen, dass Viva con Agua da ist und jeder Besucher Wasserprojekte unterstützen kann durch die Spende des Pfandbechers. Wir haben 2019 alle Rekorde gebrochen. Alleine 27.722 Euro nur aus der Becher-Spendenaktion auf dem Southside. Und wenn man sich jetzt überlegt, dass von der Kohle fast drei Brunnen in der Amhara Region in Äthiopien gebaut werden können – eine der trockensten Gegenden der Welt, in der jetzt dank dem Southside über 2500 Menschen langfristig den Zugang zu sauberem Trinkwasser haben werden – dann kann ich nur sagen: Hoch die Becher!

BALLA-BALLA DER WOCHE: Kollegahs YouTube-Kanal

„Wenn da zwei, drei Regentropfen euch auf den Kopf prasseln, fangt ihr schon an zu rosten, peinlich ist das! Und so ist auch die deutsche Rap-Szene!“

„Ihr scheiß Grünschnäbel, schreibt euch das hinter die grünen Ohren, auch wenn ihr graue Haare habt. Ihr seid alle gegen mich Untermenschen. Dass das jetzt mal geklärt ist!“

„Lauft mir mal gegens Schienbein oder schießt mir mal gegen Schienbein, dann werdet ihr sehen, wie das Bullet einfach abprallt und euch ins Auge fliegt.“

„Sis is not for Germany, sis is for se whole wide world!”

Wer übrigens total verrückt geworden ist und es uns jetzt durch die digitale (Felix) Blume mitteilt, ist Kollegah. Der Arbeitsehemann von Farid Bang postet dieser Tage immer wildere Ansprache-Videos auf seinem YouTube-Kanal.

Aus einem seiner neuesten Clips stammen diese zauberhaften Zitate. Man weiß gar nicht, ob man schon Hilfe holen muss oder noch mitschreiben kann. Denke aber, letzteres ist ok. High Energy!

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7 eindeutige Beweise dafür, dass Kollegah nicht der Boss ist

PLATTE DER WOCHE: „True Love“ von Die Kerzen

Die Kerzen – „True Love“ (Staatsakt)

Wer in der Kunst den doppelten Boden sucht, der erlebt ein gutes Jahrzehnt. Soviel Ironie und uneigentliche Sprache, wie man den ganzen Tag durch das omnipräsente Autotune-Gelumpe aufnimmt oder auch durch die ganze superschlaue Twitter-Upstylerei … Puh! Braucht man das dann aber auch noch im Indie-Pop?

Ja, auf jeden, meint eine Band, die gleich schon mal Die Kerzen heißt. Okay, wenn man sich darauf einlässt, dass es kein unironisches Hinterland mehr gibt, kann man sich „True Love“ nähern. Außerdem gibt sich die Musik abseits der permanenten Augenzwinkerei in Videos und Texten sehr würdevoll. Als wäre noch mal The Style Council. Lieb’s!

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FILM DER WOCHE: „So was von da“

Die Verfilmung von Tino Hanekamps Erfolgs-Roman „So was von da“ (2011) brauchte ihre Zeit. Anfänglich war der Autor selbst aufs Drehbuch angesetzt, doch wer wäre der deutsche Film, wenn nicht auch ein Bestseller-Autor an ihm verzweifeln würde?

Gedreht wurde trotzdem. Regisseur Jakob Lass bekam sogar einiges an Lob vom Feuilleton, auch wenn das Ding an den Kinokassen rechtschaffen unterging letztes Jahr. Nun kann man es auf Netflix ansehen. Schön. Denn mindestens alle, die das wirklich mitreißende Buch gelesen haben, dürften sich davon gemeint fühlen.

Was ich vorweg nehmen kann (beziehungsweise: Vorsicht, Spoiler): Der Film schöpft den Kunstgriff des szenischen Einstiegs bis zum Anschlag aus. Es beginnt nämlich gleich mit dem Finale der Story: der letzten Partynacht im Club des Protagonisten Oskar, der immer noch nicht über seine Love zu Mathilda hinweg ist.

Der komplette Verzicht auf eine Hinführung zur Klimax lässt den Film erstmal dynamisch wirken, auch ist es gar nicht so schlimm, dass einem – mangels Exposé – die Hauptfigur und ihr Struggle herzlich egal sind. Jakob Lass wollte die große Clubnacht sichtbar machen, die wir alle kennen und die man weder mit Brot noch Zelluloid je nachbauen könnte. Himmelfahrtskommando.

Aber immerhin wird’s nie wirklich peinlich, was man ja sonst von solchen Experimenten mit Authentizität gewohnt ist. Halb improvisierte Dialoge und Jumpcuts wie im Clip eines nervösen YouTubers geben „So was von da“ auf jeden Fall eine eigene Note. Vielmehr ist dann zwar nicht drinnen, aber man hat schon schlimmer bei deutschem Kino gekotzt.

Bela B. spielt übrigens ein gealtertes Drogenopfer, das noch mal entstaubt und auf der Bühne des fiktionalen Clubs hofiert wird. Für mich ist er mit dieser Debil-Performance … unser Dieter Hallervorden! Und die Verfilmung hier ist unser „Honig im Kopf“, nur geht’s eben nicht um Demenz, sondern um Liebe und Clubkultur. Es ist so lustig, weil es wahr ist.

(Ach, aber trotzdem viel Spaß.)

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MEME DER WOCHE:

DER VERHASSTE KLASSIKER: U2

U2
„The Joshua Tree“
(1989)

So, jetzt will ich es mir so richtig leicht machen. Hallo U2! Ich salz‘ euch hier mal euer Nest – was wollt ihr tun? Denn niemand wird ernsthaft für Bono Vox in die Social-Media-Kriege ziehen. Endlich mal für einen „verhassten Klassiker“ nicht den Wohnort wechseln müssen, nicht die plastische Chirurgie bemühen.

Denn bei THE JOSHUA TREE… Da fängt es doch schon bei dem bekackten Cover an: Ey, wie viel Pathos kann man eigentlich aus einem Schwarzweiß-Foto rauspressen?

Doch am allerschlimmsten an dieser hirnigen Lehrstunde in Pädagogen-Folk ist für mich persönlich, dass ich selbst früher dachte, das wäre jetzt mal „so richtig gute Musik“. Nicht besonders aufregende, nicht besonders coole, nein: „gute Musik“. Dieses Quatsch-Kriterium der greisen Kulturjournalisten, die längst heimlich längst nur noch Jazz oder Klassik hören.

Bloß glaubte ich als Kind, den höchst wertvollen Sozialarbeiter-Groove von U2 diggen zu müssen. Er sei eine Art Fahrkarte ins Erwachsenwerden, alles klar! Oder anders gesagt: Wenn „Der Club der toten Dichter“ ein Musik-Album wäre und nicht der ohnmachtsverbreitende Inhalt von 1000-jährigen Eiern, dann würde er so klingen, ich schwör’s!

Klar, auch beizender Schwefelgestank findet in Gottes weitem Erdenrund noch seine Fans, aber bei U2 hörte es zum Glück schnell auf damit.

Wer die Platten nach THE JOSHUA TREE und bis heute kauft und die Konzerte besucht? Vermutlich Verwirrte und Verwandte, der Rest wird über Spiegel, Hologramme und Off-Shore-Konten abgewickelt. Diese Band ist durch, das sind lebende Leichen der Popindustrie, wer sie noch sehen kann, ist selbst schon ein Geist.

„Where The Streets Have No Name“, „I Still Haven’t Found What I’m Looking For“… man müsste sich statt Botox demnächst mal eine lokale Lobotomie gönnen, auf dass man diese weinerliche Wandergitarren-Soße nicht beim bloßen Nennen der Titel gleich im Kopf hätte.

Aber hey, das ist alles nur meine Meinung. Es kann natürlich auch etwas völlig Anderes hinsichtlich THE JOSHUA TREE richtig sein. Aber spürt in Euch rein, summt das Crescendo des größten Hits, summt „I can’t lihihihive, with or withou-out youuuu!“, dann wisst Ihr genau, jedes Wort hier ist wahr.

– Linus Volkmann („Musikjournalist“)

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Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte von Julia Lorenz und Linus Volkmann im Überblick.

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