Komm, tanz mit mir!


Das Format einer "West Side Story" hat "Absolute Beginners" ganz sicher nicht. Sehenswert aber ist Julian Temples Film allemal: Denn er wagt es, gesellschaftlich brisante Themen als farbenfrohes Musical umzusetzen.

Sommer in London. Der Sommer vor 28 Jahren. 1958, als amerikanische Mütter schon gepeinigt aufschrien, weil der Rock ’n‘ Roll ihre Kinder verdarb, herrschte in London noch unangefochten der Skiffle: Jugendkultur -— was ist das? Glückliches England -— ruhig, befriedet und ziemlich langweilig. Aber es beginnt zu garen. Auftritt für Colin, Held von „Absolute Beginners“, dem neuen Film von Video-Wiz Julian Temple.

Ein Film, der in England soviel Aufsehen erregt hat wie lange kein Kino-Ereignis mehr. „Beginners“ ist ein Musical, das in 109 Minuten in einem Rausch aus Farben und Bildern durch jenes Jahr stürmt, in dem sich die britische Hauptstadt vom ehemaligen Zentrum einer militärischen Weltmacht in „winging London“ verwandelte, dem Zentrum einer neuen, überschäumenden Pop-Welt. Ein nostalgisches, zuckergußfarbenes Abbild der Jugendtage des heutigen erwachsenen Englands. Für viele Briten werden in diesem Film ihre eigenen Träume und Hoffnungen noch einmal greifbar. Aus diesen Gründen hat „Absolute Beginners“ für das Publikum auf den Inseln einen erklärlich hohen Stellenwert.

Colin MacInnes, der Autor der Romanvorlage, läßt in seinem Buch seinen Helden davon träumen, daß eines Tages jemand ein Musical über das glamouröse, glänzende und schicke London der 50er Jahre machen würde. Dies ist der Film.

Bleibt nur, sich reinzusetzen und zu staunen. Temple hat den Londoner Amüsierbezirk Soho und ein runtergekommenes, fiktives Viertel namens „Little Napoli“ als Mikrokosmen gewählt, in denen Held Colin (Eddie O’Connell) und seine Freundin Suzette (Patsy Kensit. o.) mit Typen zusammenprallen, die als Schlüsselfiguren die gesamte Breite der Stile und Strömungen des zeitgenössischen Englands darstellen.

Dabei geht es nicht nur um so harmlose Gegensätze wie Jazz-Traditionalisten gegen New-Jazzer. Oder Teds gegen Existentialisten. Es geht auch um handfeste und bedrohliche Angelegenheiten wie den aufbrechenden Haß gegen die ersten Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien. Um diesen kraftvollen, aber auch richtungslosen Aufbruch fühlbar zu machen, hat Temple schnelle, brillante Fahnen eingesetzt, bei denen die Kamera oft minutenlang der Leitfigur durchs Studio-Soho folgt.

Die Künstlichkeit ist zu erkennen und auch gewollt.

Bis ins Extrem: Straßenschlachten, bei denen Häuser brennen und Menschen sterben, werden in Tanzszenen mit gekonnter Massenchoreographie aufgelöst. (l. unten) „Dies“, wird dem Zuschauer immer wieder gesagt, „ist keine Dokumentation, sondern ein Musical.“

„Ich bin in der Tat überzeugt“, so Julien Temple. „daß das Musical im Film wieder eine Zukunft hat. Von diesen ,Star-Wars-Computer-Effekt‘-Filmen hat man doch inzwischen die Nase voll. Klassische Hollywood-Musicals wie ‚Guys And Dolls‘ etwa sind für mich weit wichtigere Inspirationen. Einen Unterschied gibt es allerdings: Ein Musical muß heutzutage nicht notwendigerweise die schöne, heile Welt abbilden; auch soziale und politische Vorgänge können durchaus Thema eines Musicals sein. “ Was nicht heißen soll, der Spaß käme in „Absolute Beginners“ zu kurz. Wo sonst kann man David Bowie „Volare“ singen hören, oder Tenpole Tudor „Ted Ain’t Dead“. Ray Davies (u.) von den Kinks spielt Colins Vater und singt -— grotesk komisch —- von seinem gemütlichen Heim.

Die Handlung ist vergleichsweise unerheblich: Es ist eine Liebesgeschichte mit Verstrickungen, die dazu dient, die Songs, Tänze und Bilder aufzureihen: Colin, aufstrebender Fotograf, liebt Suzetle. aufstrebende Modemacherin. Beide erliegen der Verlockung, ein schnelles Pfund zu machen, verlieren sich, suchen sich und -— logo —- finden sich am Schluß.

So brillant die Bilder, so schön die Musik — der Film leidet darunter, daß die Drehbuchautoren dem Roman auch das letzte Quentchen Blut ausgequetscht haben. Es bleiben nur Hülsen. Alles ist Plastik -— und die Gefühle der Figuren wirken so falsch wie Patsy Kensits Wimpern.

Aber vielleicht ist das nur konsequent: Die Neo-Existentialisten von 1986. die heute mit ihren schwarzen Rollkragenpullovern das Lebensgefühl der frühen 60er wieder herbeikostümieren wollen, brechen eben nirgendwohin auf. Sie imitieren nur eine Form, füllen sie aber nicht mit Leben.

So gesehen ist „Absolute Beginners“ maßgeschneidert. Sehenswert trotzdem, nicht zuletzt wegen des genialen Soundtracks, den man nach dem Film auch als Platte nach Hause tragen kann.