Kraftwerk, Luton, Hoo Estate


UND HIER SOLLEN Kraftwerk auftreten? Die Mensch-Maschinen. Die kühl kalkulierenden Roboter, die Hohepriester des Technikzeitalters, denen alles Menschliche fremd zu sein scheint. Hier auf dem idyllischen Luton Hoo Estate, eine Autostunde nördlich von London, zwischen saftig-grünen Wiesen mit friedlich weidenden Kühen und blökenden Schafen? Das Gelände versprüht ein Ambiente irgendwo zwischen Volksfest und großer Gartenparty. Neun Zelte sind auf der Fläche eines Fußballplatzes aufgebaut, hinten dreht sich ein Riesenrad, daneben ein Karussell -junge Menschen haben wirklich ihren Spaß damit. An jeder Ecke stehen Fast-Food-Buden, an denen labberige, lauwarme Hamburger und hektoliterweise Bier an blasse Briten verkauft werden. Lagerfeuer lodern, der Geruch von 1000 gegrillten Schweinswürsten liegt in der Luft. Das kann doch nicht der Ort sein, an dem sich 25.000 Raver treffen. Das muß Woodstock ’97 sein. Die Hippies leben noch. Sie sehen nur anders aus und hören andere Musik. Nein, wir sind nicht in Woodstock, wir sind beim sechsten „Tribal Gathering.“ Es ist Ende Mai in England. Die Temperaturen liegen also nur unwesentlich über dem Gefrierpunkt. Und hier sollen Kraftwerk ihren ersten Auftritt seit fünf Jahren haben – das in einem Zelt, das „Trans Europe“ genannt wird und an dessen Himmel unzählige Sterne gemalt sind. Die Art Sterne, die wir aus der Nippes-Abteilung von Karstadt kennen. Na gut, dann spielen Kraftwerk eben im Circus Roncalli. Das ist ja auch völlig egal. Sie könnten auch in einem Kuhstall auftreten, in der Wiener Kanalisation oder auf dem Münchener Oktoberfest. Es wäre immer noch ein Kraftwerk-Auftritt.

Und der folgt kurz nach 22 Uhr. Um diese Zeit nehmen Gedränge und Temperatur im Zelt zu, die Unruhe auch. Ein schwarzer Vorhang verhindert noch den Blick auf die Bühne, als die Show mit dem count-in „Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben-acht“ aus dem Stück „Nummern“ beginnt. Mit dem Vorhang wird denn auch das Geheimnis um die aktuelle Kraftwerk-Besetzung gelüftet. Die Band spielt im selben Line-up wie bei ihrem letzten Auftritt 1992. Neben Ralf Hütter und Florian Schneider stehen Fritz Hilpert und Henning Schmitz auf der Bühne. Auch das Bühnenbild ist seit der „Mix“-Tour nicht verändert worden: Die vier Mensch-Maschinen stehen in einer Reihe hinter ihren Musik-Maschinen. Im Hintergrund hängen vier Video-Leinwände, die die Show zum Multimedia-Ereignis machen. Bei „Autobahn“ sehen wir alte Mercedes-Limousinen über Betonpisten fahren, vor „Radioaktivität“ werden wir vor den Auswirkungen des geplanten Atomkraftwerks Sellafield 2 gewarnt. Bei „Trans Europa Express“ fahren wir mit einem antiquierten TEE-Zug durchs Rheintal. Wie gehabt. Auch das Set scheint sich nicht sehr verändert zu haben. Aber der Eindruck täuscht. Zwar spielen Kraftwerk wie bei ihrer letzten Tour ein Greatest-Hits-Programm von „Autobahn“ bis „Electric Cafe.“ Doch der Unterschied liegt – wie so oft – im Detail. Die Stücke, wie sie von den Alben bekannt sind, sind nur das Gerüst, die Eckpunkte für das Kraftwerk’sche Techno-Pop-Konzept. Ralf Hütter und Florian Schneider haben in den letzten Jahren nicht geschlafen und ihr Equipment massiv aufgerüstet. Die Beats sind deutlich basslastiger, die Bässe klingen um einiges fetter als noch vor fünf Jahren, der Sound voluminös aber kristallklar. Kraftwerk verfremden die Stücke in ihrem Mittelteil bis zur Unkenntlichkeit, legen sie auseinander, bringen sie auf den heutigen Stand und setzen sie wieder zusammen. Ein Kraftwerk-Song ist eben nie fertig, bleibt eine Sound-Skizze, die im nächsten Jahr schon wieder ganz anders klingen kann.

Das Publikum nimmt jedes Stück nach wenigen Sekunden mit rasendem Jubel auf. Kraftwerk haben ein Heimspiel in Luton. Jeder Zweifel über den Status der Düsseldorfer als zeitgemäße Elektroniker ist wie weggewischt. Kraftwerk können bestehen neben denen, die mit ihnen beim „Tribal Cathering“auftreten und -legen: Orbital, Daft Punk, Laurent Garnier, DJ Shadow, Jeff Mills und den unzähligen anderen. Und als ob sie noch einen draufsetzen wollen spielen sie zur zweiten Zugabe ein erstaunliches neues Instrumentalstück, das es locker mit jeder heutigen Produktion aufnehmen kann ob seiner Abstraktheit und Perfektion.

Einen Nachteil hat der Perfektionismus der Düsseldorfer indes: selbst der klitzekleinste Fehler fällt ins Gewicht. Als beim Medley „Computerwelt/Heimcomputer“ der Rhythmus sich um eine Zehntelsekunde verschiebt, wirkt die lächerliche Verzögerung wie ein minutenlanges Soundloch. Und da ist ja auch noch der elektrische Vorhang der bei der Zugabe sich partout nicht mehr schließen lassen will. Aber was ist schon ein altmodischer Vorhang gegen eine Armada hochaufgerüsteter Soundcomputer?