Kurz & Klein


Gerade eben (es ist kurz nach Mitternacht) ist mir Kollege Koch auf dem Gang begegnet. „Denkst du noch an den Kurz-&-Klein-Kasten? Da steht immer noch nichts drin“, hat er gesagt und dieses passiv-aggressive Lächeln aufgesetzt, das man in Nächten vor Redaktionsschluss bei uns so häufig sieht.

Er könne beruhigt sein, habe ich erwidert (ohne selbiges mit seinem Blick zu tun), ich denke an nichts anderes. Beruhigt hat ihn das keineswegs. Obwohl er noch nichts von meiner Schreibblockade weiß, die mir seit Stunden schon die Finger lähmt. Marillion? Ich soll über das neue Album von Marillion schreiben? Die „legendäre“ 80er-Kapelle, die, wie ich aus dem Promotiontext erfahre, „weithin als die erste Band gilt, die wirklich die Möglichkeiten des Internet für sich erschlossen hat“? Ich bin überfordert. Ihr neues Album happiness is the road (erhältlich exklusiv über www.marillion.com – da ist sie wieder, die Internet-Kompetenz! Wahrscheinlich gibt es „Kayleigh“ sogar schon im iTunes-Store!) ist außerdem ein Doppelalbum. 10S Minuten! Um zu einem auch nur halbwegs kompetenten Urteil zu gelangen, müsste ich mir das doch heute Nacht noch drei, vier Mal anhören! Und mit welchem Ergebnis? Um zu dem Schluss zu kommen, dass all die „mystischen“ Keyboard-Balladen, die nach Gral suchenden Rittern im Nebel von Avalon klingen, ins Easy-Listening-Nachtprogramm von Klassik Radio gehören? Um völlig ausgelaugt in den frühen Morgenstunden zu erkennen, dass happiness is the road keine Frechheit wie Queens the cosmos rocks, streckenweise auch nicht mal sonderlich peinlich, alles in allem aber einfach völlig irrelevant ist? Für sowas hab ich so kurz vor Redaktionsschluss keinen Nerv.

Wenn mein Kopf nicht so leer wäre, könnte ich mich wenigstens an ein paar Zeilen über die Delays versuchen. Die dürfen sich damit brüsten, in diesem Monat die mit Abstand penetranteste Platte zu veröffentlichen. Offenbar hatten die Band und der Produzent Youth so wenig Vertrauen in die Qualität der Songs, dass sie den ideenlosen, hysterischen, effektüberladenen Pathospop alle 30 Sekunden mit gigantomanischen Jaul-und-Winsel-Refrains niedergewalzt haben. Würden The Flaming Lips ihr „Parking Lot Experiment“ von 1996 wiederholen und auf 300 statt 40 Autoradios alle Songs von Keane, The Verve, The Veils und Suede gleichzeitig abspielen, entstünde dabei nicht halb so überdrehter, aufdringlicher Mist wie everything’s the rush (Cooperative/Universal). Immerhin, das Cover ist ganz schön. Und das schreib ich jetzt doch mal auf: Das Cover ist ganz schön.

Kein Wort kann ich schreiben über Fucked Up. Was in diesem Fall aber ausnahmsweise nicht meine Schuld ist – die Kollegen machen schlapp. Ich glaube, the chemistry of common Life (Matador/Beggars/Indigo) lief gerade mal zwei Minuten, da baten sie mich bereits „zum letzten Mal im Guten“, das Geknüppel und Gebrüll auszumachen. Mein Einwand, dass man sich auf Fucked Up einlassen und auf die Feinheiten achten müsse, hat um halb zwei Uhr morgens dann auch niemand mehr interessiert. Zum Glück steht ja über den super-inspirierten Hardcore-Punk der Band aus Toronto schon was auf Seite 28. Da bin ich mehr oder weniger aus dem Schneider.

Nicht beschweren können sich Last Man Standing – sie profitieren letztendlich nur von meiner Blockade: Wäre ich bei Kräften, würde ich sie gehörig durch den Kakao ziehen müssen. Zwar gäbe es auch schöne Geschichten über die Band aus London zu erzählen (sie traten zum Beispiel bei Glastonbury in ihrem eigenen Zelt, dem „Last Man Standing Saloon“ auf), unterm Strich aber ist und bleibt das eine Kirmeskapelle. Ein Saxophon spielender Sänger mit Schneckchen-Locken, der gleich im zweiten Lied auf false Starts & broken promises (Wildflower/Rough Trade) immer wieder zu einem schaurig „funky“ Bluesrock-Riff „l’m so desperate – l just gotta rock“ singt? Das würde einem 2008 sowieso kein Mensch glauben.

Düster, druckvoll und funky (funky auf bestmögliche Weise – ohne die Anführungszeichen von drei Zeilen weiter oben) ist das neue Album von Ice Cube. Der Rapper, Schauspieler und Regisseur hätte eine lobende Erwähnung durchaus verdient raw footage (Lench Mob/Edel) ist zweifellos seine beste und konzentrierteste Arbeit seit Jahren. Inhaltlich gibt es (neben all dem wunderbar garstigen Gangsta-Geschimpfe auch) Sozialkritik, musikalisch kehrt er auf seinem neunten Soloalbum zu seiner kreativsten Phase Anfang bis Mitte der 90er Jahre zurück.

Ebenso unerwähnt muss bleiben, dass Joseph Arthur aus Brooklyn mit seiner Band The Lonely Astronauts ein recht respektables Americana/Rock’n’Roll-Album aufgenommen hat. temporary people (Lonely Astronauts/Fargo/RTD) erinnert teilweise an die späten (sprich: heutigen) Counting Crows („Sunrise Dolls“), die Jayhawks („Faith“) und Todd Snider („Dead Savior“),wird aber- machen wir uns nichts vor- auf der A24 zwischen Hamburg und Berlin nie so gut klingen wie auf dem Highway 10 zwischen L.A. und Phoenix, Arizona.

Auch Beautiful Leopard findet sich in dem Stapel, den mir Kollege Koch vor zwei Tagen auf den Schreibtisch gelegt hat. Die „in sich ruhenden Songs“ der Band aus dem schweizerischen Fribourg, sind – laut Presseerklärung – ein „Ozean des Klangs“, eine „Nordwand des Sounds“. Sie sollen „elegant, sinnlich und stark, aber auch ein bisschen scheu und zurückhaltend“ sein. Ob das tatsächlich der Wahrheit entspricht, entzieht sich meiner Kenntnis – beim Hören von sometimes it doesn’t work (Strange Ways/Indigo) muss ich weggenickt sein.

Alles egal, es wird sowieso schon hell. Soll der Koch doch eine Anzeige auf den Platz stellen, auf dem normalerweise „Kurz & Klein“ stattfindet. Der Wille war da. Ein bisschen schade ist es schon – an einem anderen Tag wäre es mir ein Leichtes gewesen, zum Beispiel was über Oxford Collapse zu schreiben. Super Band, hab ich ja Ende Juli in Brooklyn im Vorprogramm von We Are Scientists schon live gesehen. Auf Platte sind sie zwar deutlich anstrengender – die sowieso schon recht sperrig indierockenden New Yorker klingen auf bits (Sub Pop/Cargo) manchmal schon regelrecht giftig -, die Qualität der Songs aber ist beeindruckend.

Trotzdem: Ich geh jetzt nach Hause. Schließlich wird sich auch ohne eine Rezension von mir herumsprechen, dass ANA (früher Anadrinksdogpiss) aus Hamburg auf ihrem Debütalbum slowly sinking deeper (Rebel Recordings/Rough Trade) melodischen Punk spielen, der stilistisch mit der Musik von Funeral For A Friend und Vanilla Sky vergleichbar ist (und in diesem Fach auch durchaus „internationales Niveau“ erreicht). Sympathiepunkte gibt es jedenfalls für den Titel des letzten Songs (der irgendwie heute Nacht auch zur Überschrift meiner verzweifelten Versuche geworden ist, ein paar Zeilen zu Papier zu bringen): „The Ballad Of A Lonely Schweinswal“.