Label aus dem Legoland


Große Ideale, kleine Auflagen — die umtriebigen Kleinstunternehmer der deutschen Platten- Branche leisten wahre Basis-Arbeit. Sie sind Einzelkämpfer in Keller-Büros, die mit ihren Mini-Labels nur das Eine wollen: ihre Lieblings- musik auf gutes, altes Vinyl pressen.

E ine kleine „* Hinterhof-Wohnung im Herzen Berlins, kurz vor Mitternacht: Zwischen Pappkartons voller Singles, einer Unzahl von Cover-Andrucken und zentimeterhoch geschichteter Post ist Arne Gesemann damit beschäftigt, zweifarbige Werbezettel für die EP der Garagen-Rocker Electric Family zu entwerfen; Freundin Gundula Schneider versucht derweil am Telefon, ausstehende Rechnungen einzutreiben.

Daß das Studenten-Paar zu nachtschlafender Zeit noch nicht im Bett liegt, sondern voll unter Dampf steht, ist keine Seltenheit. Gesemann und Schneider sind seit vier Jahren stolze Inhaber eines Plattenlabels und inzwischen an lange Arbeitstage gewöhnt.

Mit ihrem zeitraubenden Hobby stehen die beiden nicht allein. Überall in Deutschland werkeln zahllose Musik-Enthusiasten und bilden eine quicklebendige Untergrund-Szene, von denen gewöhnliche CD-Käufer in der Regel nicht einmal etwas ahnen. Dabei hat das, was einst mit wenigen, selbstvertriebenen Punk-Singles begann, längst alle Musik-Sparten erfaßt. Ob Sixties-Rock, Techno-House oder Weltbeat-Klänge — was die großen Plattenfirmen nicht veröffentlichen können oder wollen, nehmen diverse Kleinst-Unternehmer selbst in die kompetenten Hände. „Ursprünglich waren wir nur drauf aus, die Musik meiner damaligen Band tut/ Vinvl zu pressen“, markiert Arne Gesemann den Anfang von „Trash City Records“. „Die 2(X)er Auflage des Albums verkaufte sich dann aber so problemlos, daß uns der Entschluß leichtfiel, weiterzumachen und gezielt nach passenden Bands Ausschau zu halten. “ Ein Firmenkonto wurde eingerichtet, Angebote von Presswerken eingeholt und der Kontakt zu Mailorder-Vertrieben intensiviert. ¿

So gewappnet, machte man sich an die nächste Produktion, eine Single mit immerhin schon 500er Auflage, die ebenfalls reißenden Absatz fand. Wenn auch nichts übrig blieb: Die vorgestreckten Kosten von etwa 1500 Mark hatte man zumindest wieder eingefahren und noch genug Geld übrig, um gleich mit der Planung weiterer Projekte zu beginnen.

Eine fast romantische Entstehungsgeschichte, d ie typisch ist für viele dieser Mini-Label.Ob“SoonToBe Rare“ aus Wuppertal, „Teenage Rebel Records“ aus Düsseldorf oder „Container“ aus Hamburg: Sie alle sind zugleich glückspendendes Hobby, arbeitsintensiver Nebenjob und vor allem der besessene Versuch, die eigene Lieblingsmusik zu verbreiten.

Besondere Radikalität zeichnet dabei Rüdiger Thomas aus, kündigte der gelernte Versicherungskaufmann doch vor knapp vier Jahren seinen sicheren Arbeitsplatz, um sich fortan ganz „Teenage Rebel Records“ widmen zu können. „Ich sah meine 50jährigen Kollegen an und wußte, daß ich so nicht enden wollte“, erinnert er sich. Zwar bedürfe es ab und an lukrativer Aushilfsjobs, um sich finanziell über Wasser halten zu können, aber dafür entschädige ihn die tagtägliche Unabhängigkeit voll und ganz.

Thomas, selbst ein fanatischer Plattensammler, lebt auf seinem Label die Liebe zum Punk der späten 70er und frühen 80er Jahre aus. Neben historischen Aufnahmen Düsseldorfer Bands findet sich die Neuauflage des lange vergriffenen Male-Klassikers „Zensur & Zensur“ bei ihm ebenso wie ein Album der legendären Beck’s Pistols, das mit über 4000 verkauften Exemplaren zum kommerziellen Highlight avanciert ist. Besonderes Aufsehen erregte im letzten Jahr die Debüt-LP der Freiburger Band Fleischlego, deren Frontmann zu schleppendem Psycho-Punk über Klitoris-Beschneidungen, Kannibalismus und handgreifliche Attacken auf Schnauzbart-Träger sang. Wo, wenn nicht bei einem Mini-Label, könnten derartige Verbal-Ausbrüche überhaupt noch veröffentlicht werden? Auch das von Frank Baumeister betriebene „Soon To Be Rare“ versteht sich als Minderheiten-Anwalt. Mal versammelte der 28jährige Girlgroups aus Australien und den Staaten auf einer Single, dann wieder preßte er den wuchtigen Wüsten-Rock der Mönchengladbacher Truppe The Devil In Miss Jones auf grellbuntes Vinyl. Sechs liebevoll produzierte Singles gehen inzwischen auf Baumeisters Konto.

Kompromisse hat er nie gemacht. Selbst wenn die Vinyl-Single inzwischen nur noch eine Randerscheinung der Musikbranche ist, halt er entschlossen an ihr fest. „Sie erinnert mich an meine Jugend, als ich oft nicht die 20 Mark für eine LP hatte“, erklärt Baumeister seinen Fanatismus. „Außerdem läßt sich eine Single vergleichsweise günstig herstellen.“

Die Compact Disc ist für ihn völlig

unakzeptabel. „Das Schlimmste, was es gibt“, schimpft er. „Für kleine Label wie,Soon To Be Rare ‚ unbezahlbar und zudem als Tonträger ohne Austrahlung.“ Das Duo Gesemann/Schneider schlägt in die gleiche Kerbe, wenn es auf Promozetteln über „verweichlichte CD-Kids“ herzieht und ihnen angeekelt vorwirft, sie würden lediglich „fettärschig mit der Fernbedienung in der Hand auf, Repeat‘ schalten“.

Absolut Vinyl-orientiert ist auch das Hamburger Label „Container“. Allerdings weniger aus ideologischen denn aus praktischen Gründen. Inhaber Martin Larsen. der hauptberuflich auf der Reeperbahn einen florierenden Plattenladen betreibt, hat sich mit Haut und Haaren dem Dancefloor verschrieben. In loser Folge veröffentlicht der 43jährige Techno-House-Maxis, die hauptsächlich von DJs gekauft werden. „Diese Spezies braucht natürlich Vinyl“, hat Larsen erkannt. Mit CDs könne man schließlich nicht vernünftig scratchen oder mixen. Typisch für das Genre ist auch die Aufmachung der 12-Inch-EPs, die meist über neutrale Loch-Cover mit Stempelaufdruck nicht hinausgeht. „Den DJs reicht’s — und Kosten lassen sich so auch sparen“, erklärt Larsen.

Wer von seinen Veröffentlichungen einigermaßen leben will, kommt an CD-Format und aufwendigem Cover-Artwork jedoch nicht vorbei. Deshalb hat das Münchener „Transformer“-Label sich auf einen risikovollen Weg begeben. Mehrere tausend Mark investierte Inhaber Artur Silber allein für die ungewöhnliche CD-Verpackung der ersten Crack Jack Radio-Maxi. Als Besitzer eines Tonstudios bereits etabliert, entschloß sich Silber, eine Plattenfirma zu gründen, nachdem er trotz intensiver Suche niemanden finden konnte, der die Musik der von ihm produzierten New Age-Band The River veröffentlichen wollte. „Jransformer‘ war eine Art Notwehr“, faßt Silber den Tatbestand heute zusammen.

Obwohl sich die CD aufgrund mangelhafter Vertriebswege nur rund 600 Mal verkaufte, wagte der gestandene Bayer einen zweiten Versuch mit eben jenen Crack Jack Radio, deren Maxi-CD er eigenhändig in Thunfischdosen (!) verpackte. Voller Gottvertrauen schoß er insgesamt 40.000 Mark vor und begab sich dann auf Vertretertour durch ganz Deutschland. Ob WOM. Saturn oder Karstadt, überall gelang es Silber, die eigens gefertigten Acryl-Ständer inklusive Dosen zu postieren. Verkauft hat er dennoch erst knapp 1000 Einheiten — und der Pleitegeier droht. „Auf der nächsten CD muß und wird ein Radiohitsein“, macht sich Silber Mut. In der Zwischenzeit tingelt er weiter durch die Republik, immerauf der Suche nach Plattenläden, die noch nicht mit Thunfischdosen versorgt sind.

Daß Erfolg auch ohne derartige finanzielle Risiken möglich ist, zeigt die Geschichte des von Michael Kirsch und Emanuel von Gerkan betriebenen „Soulciety“-Labels. Stets bemüht, die laufenden Kosten gering zu halten, testete das Duo mit Promo-Maxis die Reaktionen lokaler DJs und wagte sich erst danach an teure Album-Produktionen wie den Sampler „The Soulciety Funky Family“. Inzwischen haben es Kirsch und von Gerkan auch ohne PR-Abteilung und omnipotenten Vertrieb zu einer Reihe kostendeckender Veröffentlichungen gebracht. Das Rad.-Album „Radified“ wurde im Januar ’93 von ME/Sounds gar zur „Platte des Monats“ gekürt. Ihren Indie-Status mögen die ambitionierten Selfmade-Men dennoch nicht aufgeben. Übernahme-Angebote der Industrie haben sie stets abgelehnt.

Stattdessen planen sie nun, in Eigenregie eine US-Dependance zu eröffnen.

Das Gros der Mini-Labels ist von solchen Verkaufszahlen und Investitionen selbstverständlich meilenweit entfernt. Mehr als 1000 Exemplare werden nur selten gepreßt, und oft bedarf es schon zusätzlicher Tricks, um die Erstauflage auch wirklich loszuwerden. Nicht nur das Prädikat „streng limitiert“ soll dabei Raritäten-Jäger anlocken. Auch die Möglichkeit, als Mitglied eines „Single-Clubs“ exklusives Vinyl zu ergattern, erfreut sich steigender Beliebtheit.

Eine Vorgehensweise, der Frank Baumeister wenig abgewinnen kann:

„Wer sowas macht, muß jeden Monat etwas veröffentlichen — und da ist natürlich viel Schrott dabei.“ Sehr direkt kommentierte jüngst auch „Trash City Records“ die Unmengen künstlich geschaffener Raritäten: Jedes der 500 handnummerierten Exemplare der Eggman Five-EP erhielt die gleichen drei Ziffern!

Daß manche Mini-Label zwecks Verkaufsförderung zu all den obengenannten Tricks greifen, hängt natürlich mit der Schwierigkeit zusammen, eine größere Menge Platten regulär abzusetzen. Selbst Indie-Vertriebe wie EfA oder Semaphore winken bei solchen Kleinstauflagen oft ab oder bestehen aus wirtschaftlichen Zwängen heraus auf unakzeptabel niedrigen Einkaufspreisen. „Wenn ich dort landen will, muß ich unter Herstellungspreis verkaufen“, beschreibt Frank Baumeister das Dilemma. In einer Szene, wo auch schon einmal Platten direkt vom 300 Kilomter entfernten Presswerk abgeholt werden, nur um die 80 Mark Speditionskosten zu sparen, eine existentielle Bedrohung. So vertreiben die meisten Mini-Label ihre Schätze über kleine Mailorder-Vertriebe, beliefern per Auto umliegende Plattenläden oder nehmen gar selbst Bestellungen entgegen.

Die Gründe, warum trotz all dieser Fußangeln und Unsicherheiten kaum ein Label-Eigner je die Brokken hinschmeißt, sind so vielfältig wie die vertriebene Musik. „Mein Traum war es immer, als DJ die eigenen Platten auflegen zu können“, gesteht Emanuel von Gerkan, „und den habe ich mir mit ,Soulciet‘ erfüllt.“

„Transformer“-Chef Artur Silber konnte es hingegen einfach nicht mehr ertragen, „daß soviel tierisch gute Musik in der Schublade verschwindet“.

Für Frank Baumeister läßt sich das Label-Engagement etwas profaner begründen. „Es hat viel mit Selbstbestätigung zu tun“, gibt er unumwunden zu. „Wenn man sich auf einer Party mit jemandem unterhält und sagen kann, man habe ein eigenes Platten-Label, das macht doch Eindruck …“ Die Möglichkeit, sich durch Musikauswahl und Cover-Gestaltung selbst auszudrücken, tut ein übriges, um ihn ebenso bei der Stange zu halten wie das Gespann Gesemann/Schneider. „Manchmal frage ich mich natürlich schon, warum wir das alles machen“, erklärt die weibliche Hälfte des Duos, „zumal durch die immensen Porto- und Telefon-Kosten kaum etwas übrig bleibt.“ Doch gäbe es auch immer wieder herrliche Erfolgsmomente mit regelrechten Glücksgefühlen, beispielsweise wenn ein Fanzine positiv über sie berichte, oder der Postbote gleich einen ganzen Schwung Bestellungen anschleppe.

„Gegen richtige Stimmungstieß haben wir außerdem noch ein Geheimrezept“, erklärt Arne Gesemann und kramt einige Briefe heraus, die Dead Kennedys-Sänger Jello Biafra den beiden geschrieben hat, um „Trash City“-Scheiben gegen Vinyl seines Labels „Alternative Tentacles“ einzutauschen. „Wenn alles schiefgeht, lesen wir uns die einfach gegenseitig vor“, erklart er augenzwinkernd.

Kontaktadressen: Container: Reeperbahn 115, 2000 Hamburg 36; Soon To Be Rare: Frankenstr. 14, 5600 Wuppertal 1; Soulciety: Kieler Str. 69, 2000 Hamburg 50; Teenage Rebel Records: Gerresheimer Str. 16, 4000 Düsseldorf 1; Transformer Records: Augustenstr. 60, 8000 München 2; Trash City Records: Boddinstr. 8,1000 Berlin 44.