Lebendige Legende


Das ehrwürdige Label Harvest ist seinem experimentellen Anspruch treu geblieben - und vertreibt heute Avantgarde.

Merkwürdige Musik: Von Feedbackschleifen zusammengehalten prasseln trockene Beats aus den Boxen, staubige Loops zwitschern und fiepen und pluckern. Das obskure Stück heißt „The Grand Vizier’s Garden Party“ und ist dreißig Jahre alt, erschienen auf Pink Floyds bizarrem Doppelalbum „Ummagumma“, 1969. Erschienen also beim legendären Label Harvest, das just in diesem Jahr ins Leben gerufen wurde. Und wenn später Künstler wie Can.The Move, Deep Purple oder Roy Harper wirklich experimentell waren – dann waren sie es bei Harvest. „Für viele Leute ist Harvest heute noch untrennbar mit dem Namen Pink Floyd verbunden ,sagt Kai Fleschmann, „Dabei gerät leicht in Vergessenheit, daß Pink Floyd die Speerspitze einer echten Avantgarde waren.“ Fleschmann weiß, wovon er spricht, schließlich war er es, der den traditionsreichen Laden von seinem Dornröschenschlaf erweckte. 1995 signte er die Kölner Elektroniker Air Liquide für den Plattenmulti EMI und stieß auf der Suche nach einem passenden Label auf Harvest: „Bei der EMI liegen sogar noch Label für Tanzmusik aus den 20er Jahren auf Eis. Für unsere Musik drängte es sich förmlich auf, Harvest wieder zu reaktivieren. Schließlich haben wir heute den selben Anspruch wie damals – nur eben mit modernen Mitteln.“

Die Air Liquide-Maxi „Stroboplastic“ läutete denn nicht nur die Rückkehreines Labels ein, sondern warf gleichzeitig ein Schlaglicht auf die digital vitale Kölner Elektro-Szene. Da wäre das Liquid Sky zu nennen, Deutschlands berühmteste Elektronik-Bar, da ist der Electro Bunker, in dem Harvest-Künstler gerne auch mal quer durch die Nacht und anschließend bis in die Mittagsstunden auflegen und abtanzen, nicht zu vergessen die gefeierten Battery Park Festivals, wo sich die Community alljährlich zum vieltausendköpfigen Gipfeltreffen zusammenfindet. „Community“ ist auch das Stichwort für die Harvest-Macher Fleschmann und Sven Zimmermann, die in Harvest mehr sehen wollen als nur eine „Spielwiese für abgefahrene Sachen. Natürlich geht es uns auch darum, die Atmosphäre der Clubs und Gigs auf Platte zu retten. Aber unsere Tonträger sind immer nur die Spitze des Eisbergs.“ In derTat hat sich, ausgehend von Köln, ein internationales Netz gespannt, ein kreativer Stromkreis, in den sie alle eingeschaltet sind: Dr. Walker, Jörg Burger, Wolfgang und Reinhard Voigt, Jammin‘ Unit, Frank Heiss und Khan. Da versteht es sich von selbst, daß der „Mann von der Plattenfirma“ keineswegs so auftritt, wie es das Klischee verlangt. „Ohne Respekt gegenüber unseren Künstlern und ihren Visionen könnten wir gleich einpacken“, beteuert Kai Fleschmann, „Im Klartext heißt das, daß wir nie irgendwelche Gospeltanten engagieren würden, damit sich ein Track besser verkauft. Musik ist für die Jungs das Innerste-da kommst du als A&R-Manager mit BWL-Studium nicht ran. Wenn der Funke aber überspringt, dann macht die Sache wirklich Spaß!“.

Zum sprichwörtlich freundschaftlichen Verhältnis zwischen Label und Künstlern gesellt sich der abenteuerliche Output der Musiker, wie Sven Zimmermann betont: „Die Künstler arbeiten in verschiedenen Projekten, mit unterschiedlichen Pseudonymen und in wechselnden Inkarnationen,es ist ein organischer Prozeß. Hinzu kommt, daß die meisten als Produzenten bzw. DJs auch professionell ausgerüstet sind, was das Equipment angeht. Wir müssen keine teuren Studios buchen oder Unsummen investieren, um erst mal ein Image aufzubauen. Was anderswo für eine einzige Band auf den Tisch geblättert wird, entspricht ungefähr dem kompletten Jahresbudget von Harvest“. Was mit Mut und Engagement machbar ist, demonstrieren vor allem die Compilations „Batterey Park # 2.0“ oder „Harvest In Technicolor“, die vor allem „Neulingen“ den Einstieg in die Materie erleichtern. Pink Floyd jedenfalls hätten heute keine Chance mehr bei Harvest. Nicht, weil sie zu teuer wären – sondern weil sie längst nicht mehr auf ein Label passen, das sich seinen Mut zur Avantgarde bewahrt hat.